Morgens war es minus neun Grad Celsius. Beim Fahrradfahren froren die Barthaare unter der Nase ein. Wenn ich meine Lippen bewegte, dann brachen klitzekleine Eiszapfen.
In Longyearbyen mass es heute nur -11. In zwei Wochen fahren wir nach Rovaniemi, dort gab es vor ein paar Tagen -34 Grad. Minus vierunddreissig. Ich würde gerne einmal spüren, wie kalt das ist. Ich weiss nicht, ob ich je minus 34 gefühlt habe. Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, befindet sich auf etwa 1600 m Meereshöhe. Da war es den ganzen Winter lang zwischen minus eins und minus zehn. Nachts war es sicherlich oft kälter. Aber ich führte keine Statistiken. Wenn man mit dem Lift auf die Berge fuhr, war es kälter, aber Kälte war immer gut, mir setzte Kälte nie zu.
Doch gab es den Vallonlift. Den Vallonlift nahmen wir nicht oft, weil er sich auf der anderen Seite des Tals befand und man zuerst mit einer Seilbahn fahren musste und Seilbahnen – weiss nicht – Seilbahnen waren immer so Alte-Leute-Gondeln. Hoch oben bei der Bergstation der Seilbahn begann der Vallonlift, das war ein Sessellift und der fuhr so weit in den Sella-Stock hinauf, wo es fast nur noch Felsen gab. Es gab keinen Lift, der so weit hinauffuhr. Auf dem Vallonlift spürte man meist die Kälte durch die Skibekleidung hindurch. Man merkte schon, dass das eine andere Kältezone war. Vielleicht war es da oben minus dreissig.
Vielleicht aber auch nicht.
Wer weiss das schon.
Wenn wir nach Rovaniemi fahren, hätte ich jedenfalls gerne einen Tag minus 40, nur damit ich weiss, wie sich das anfühlt und danach kann es gerne minus 10 sein.
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Am Nachmittag ging ich zur Dermatologin und liess mir einen Leberfleck entfernen. Ich will mir die Wucherung schon seit zwei oder drei Jahren abmachen lassen, weil sie immer grösser wurde und oft juckt. Da sie aber gutartig ist, hatte ich keine Eile.
Neulich riss ich sie mir jedoch auf. Es geschah nachts auf dem Weg zum Klo. Die Wucherung befand sich links an der Seite am unteren Ende der Rippen. Ich stiess mich am Türrahmen an und riss mir das Ding auf. Es blutete stark. In den folgenden Tagen verheilte es aber schnell. Jedoch lief ich seitdem mit einer halb hängenden Wucherung herum, die ich manchmal mit dem Ellbogen festdrücken musste.
Heute kam sie also weg. Sie wurde mit einem scharfen Löffelchen weggeschabt. Ich dachte, man schneidet das einfach raus und näht es wieder zu. Aber nein. Man schabt es ab.
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Heute wurde es wieder spät. Auf dem Nachhauseweg traf ich eine Nachbarin, die gerade von der Chorprobe nach Hause kam. Sie erzählte mir von ihrem Chor. Ich hatte schon drei Biere intus und es setzte eine Begeisterung ich mir ein. Ich sang ja lange in Chören. Als Knabe in einem Knabenchor, als Erwachsener in mehreren gemischten Chören. Der letzte Chor, in dem ich sang, war ein Chor, der genau das Repertoire probte, das ich mag. Frühbarock, Barock, Frühklassik. Aber der Proberaum befand sich an der Heerstrasse in Westberlin, das war mir zu weit weg, also nahm ich lediglich an einer einzigen Probe teil. Meine besten Erinnerungen habe ich an den Kammerchor in Hamburg, in dem ich mehrere Jahre sang, mit dem wir auch mehrere Konzerte in Norddeutschland gaben und sogar einen Auftritt im Vatikan absolvierten. Das war gut.
Ich sollte in einer guten Laune nach drei Bieren keine Entscheidungen treffen, aber ich merkte eben, wie die Begeisterung einsetzte.