Wir gingen den Morgen gemütlich an, weil und die Hütte so gut gefiel und wir es ja auch nicht eilig hatten. Zum Nordkap würde es noch mal 3,5 Stunden dauern, das ist nicht so weit. Danach würden wir einen Umweg nach Hammerfest nehmen und dort nächtigen.
Ab Alta fährt man auf ein Hochplateau hinauf, geradewegs auf den Norden zu und auf die Ostseite der Halbinsel, die zur Nordkapinsel führt. Der Nordkap ist nämlich gar kein Festland mehr, sondern eine Insel, die etwa 6 Kilometer von Festland entfernt liegt und mit einem langen Tunnel verbunden ist. Nordkap ist technisch gesehen auch nicht der nördlichste Punkt Europas. Zum einen wäre das geografisch ohnehin Spitzbergen oder Franz-Josef-Land in der Hocharktis, aber es gibt unweit westlich vom Nordkap eine Landzunge, die sich einige Hundert Kilometer nördlicher befindet. Der sogenannte Nordkap ist mit seiner 300m hohen Klippe aber ein wesentlich dramatischerer Endpunkt des Kontinents. Vermutlich ist er deswegen der Ort geworden, der er heute ist.
Es wurde ein richtig schöner Tag. Die Sonne strahlte und der Himmel war blau. Und es war angenehm mild. Je nördlicher wir kamen, desto niedriger wurden die Bäume. Es wuchsen fast nur noch Birken. In Alta waren sie noch so gross, wie man Birken kennt. Eine Stunde nördlich von Alta waren die Birken nur noch 30cm hohe Sträucher. Es waren wirklich Birken. Ich stieg aus dem Auto aus und fotografierte sie.
Wir sahen Rentiere. Einmal eine ganze Herde, die von einem Hirten auf einem Quadmobil und einem Bordercollie von einer Weide über die Strasse auf eine andere Weidefläche getrieben wurde. Wir erstarrten natürlich bei so viel Touristenglück und filmten die Szenerie. Aber auf Videos sieht das nie wirklich gut aus. Später sahen wir kleinere Herden und manchmal begegneten wir einzelnen Tieren auf der Strasse. Wie man auf den Fotos unter sehen kann.
Ab etwa einer Stunde vor dem Kap wurde die Landschaft arktisch. Sehr rau. Sogar Birken konnte ich nicht mehr erkennen. Nur Steine, Felsen und Geröll. Dazwischen Tundraboden, bräunlichgrünes Gras, Moose, Flechten. Die Landschaft sah aus wie auf dem Mars. Manchmal ging die Landschaft in Strände über, vor allem in den zahlreichen Buchten. In einer Bucht sahen wir zwei Männer bis zur Brust im Wasser. Sie schienen Spass zu haben. Das ist aber nicht mein Ding. Mein Vater staunte. Hin und wieder kam eine kleine Siedlung aus Holzhäusern. Manche am Wasser, manche auch einfach neben der Strasse. Es gab kleine Hütten, die verschiedene Sachen verkauften. Kaffee und Sämische Parafernalia. Ein Häuschen verkaufte Silber. Warum auch immer.
Um auf die Insel zu kommen, fuhren wir durch den 7km langen Tunnel. Ich wusste davon und hatte auch darüber gelesen. Dass er per Fahrrad durchfahrbar sei und dass er gegen Schneeverwehungen im Winter Tore hat, die sich automatisch schliessen und öffnen. Ich wusste auch, dass er am tiefsten Punkt 216 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Nur hatte ich den Tunnel in dem Moment vergessen. Es kam einfach ein Tunnel, wie so oft in Norwegen, aber dieser Tunnel ging ziemlich steil abwärts. Immer abwärts und weiter abwärts, fast 4 Kilometer lang. Ein komisches Gefühl kam in mir auf, mich in den Bauch der Erde hinabzubegeben. Als wäre das nicht genug, ging mitten im Tunnel auch die Warnlampe des Benzintanks mit einem lauten „Pling“ an.
Zwanzig Kilometer vor dem Kap kam noch die letzte Stadt, Honningsvag, mit 2500 Einwohnern. Die Stadt liegt in einer schönen, geschützten Bucht. Die bunten Holzhäuser stapeln sich an den Hängen des Hafens übereinander. In der Bucht selber lagen drei grosse Kreuzfahrtschiffe. Wir erschraken zuerst und dachten, es stünden riesige Bürohochhäuser im Hafen. Dann erkannten wir, dass es Kreuzfahrtschiffe waren. Wir blieben aber trotzdem erschrocken. Gerade deswegen. Eines der Schiffe hatte zwölf Stockwerke, es hiess Princess of irgendwas. Es lag da wie ein Ufo.
Offenbar werden von dort aus Touristen per Bus ans Nordkap gekarrt. Wir fuhren weiter. Wir hatten in der letzten Stunde kaum noch miteinander gesprochen. Die Landschaft liess uns ziemlich verstummen. Anfangs sagten wir noch schau hier und schau da. Irgendwann zeigten wir nur noch hier und da. Aber am Ende waren wir verstummt und fuhren ziemlich schweigend und verzaubert über den Mond.
Zwei Kilometer vor dem Ziel zog dann ein dichter Nebel auf. Ein richtig dichter Nebel. Man konnte zuerst etwa 20 Meter weit sehen, am Ende vielleicht noch 10. Ich musste vom Gaspedal. Dennoch fanden wir den Parkplatz und mithilfe von Googlemaps fanden wir sogar den Fussweg zum Kap. Ohne Maps hätten wir schlichtweg nicht wissen können, wo hin. Weil wir kaum Menschen erkennen konnten und erst recht nicht das Gebäude und die Monumente am Kap.
Dort war es sehr windig. Und sehr viele Menschen. Es wehte ein eisiger Wind bei zwei Plusgraden und wir beide trugen kurze Hosen. In Alta war es noch 18 Grad warm. Die Barentssee konnte man nicht sehen, auch nicht, wie hoch man sich befand. Man sah nur, wie das Land endete und dann dicker Nebel. Das fanden wir nicht unlustig. Kommt man einen so weiten Weg, um sich Nebel anzusehen. Dass Europa in einem düsteren, dichten Nebel endet, hat auch etwas Metaphorisches, mindestens aber etwas Dramatisches. Oder schönes. Oder schön Dramatisches. Wir fanden es nicht schlimm. Weil wir die einzigen mit kurzen Hosen waren, wurde uns auch bald etwas ungemütlich. Wir hätten in die Nordkaphalle gehen können, jedoch wurde ich gewarnt, dass das eine Touristenfalle sei. Bei 300 Kronen, also 30 Euro Eintritt, empfanden wir auch wenig Verlangen, das Gebäude zu betreten. Also kehrten wir zum Auto zurück und traten den Weg nach Hammerfest an.
Ich muss zugeben, dass ich ab dem Moment sehr müde wurde. Müde von der Reise. Das Ziel war erreicht, jetzt nennt sich das Ziel wieder Berlin. Und wenn ich an die lange Reise zurück denke, an die 3200km Asphalt, dann würde ich gerne einschlafen.
Wir wollten in Hammerfest schlafen. Das war ein zweistündiger Umweg. Ich wollte immer schon einmal in Hammerfest sein. Nie so dringend wie Longyearbyen oder am Polarkreis, aber der Name Hammerfest wirkte schon als Kind in mir und ich verbrachte als Kind sehr viel Zeit über Landkarten gebeugt. Hammerfest. Alles stimmt an diesem Namen.
Aber plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf diesen Umweg. Ich wollte den Heimweg antreten. Ich schlug meinem Vater vor, zurück nach Alta zu fahren und uns für eine weitere Nacht in diese Blockhütte einzumieten, die wir so gerne mochten. Wir könnten uns wieder einen Lachs braten und Tiefkühlgemüse dazu kochen. Mein Vater sagt immer „Wie du willst“ und nach einigem Hin und Her fragte ich telefonisch nach der Blockhütte Nummer 14, ob diese noch frei sei. Die Frau am Telefon sagte, es sei die einzige, die noch frei sei und so buchte ich sie, während ich das Hotel in Hammerfest kostenfrei stornieren konnte. Es war perfekt.
Dann verfuhren wir uns noch. Ich hatte auf mein Handy geschaut und wir hatten eine Kreuzung verpasst, damit kamen wir eine Stunde später als geplant in Alta an, aber das war nicht so schlimm. Schlimmer war, dass die Hütte Nummer 14 nicht die Hütte war, die ich gemeint hatte. Die schöne Hütte war Hütte 20. Ich war mit den Nummern durcheinandergekommen. Hütte 14 war zwar wesentlich günstiger, aber sie hatte auch nur ein Schlafzimmer sowie kein Badezimmer und auch kein Wasser. Das deprimierte mich ungemein, da ich mich wirklich auf diese gemütliche Hütte gefreut hatte.
Mit vielen Umständen gelang es uns dennoch, mit Pfannen und Geschirr aus der Campingküche ein Mahl zuzubereiten. Danach musste alles abgewaschen werden und da wir sehr weit von der Campingküche entfernt standen, lief ich an dem Abend sicherlich 100 Kilometer zu Fuss hin und her.
Aber der Himmel war blau und eine sehr angenehme Sonne schien über uns und Alta. Als mein Vater ins Bett ging, holte ich den Tagebucheintrag von vorgestern nach. Eigentlich wollte ich über beide Tage schreiben, ich sass lange am Tisch und schrieb. Sie Sonne schien zu mir herein. Irgendwann war es ein Uhr und ich musste mich zwingen aufzuhören. Ich hatte aber nur über einen Tag schreiben können. Es ist schon ärgerlich, in Verzug zu geraten, ich nehme diesen Reisebericht schliesslich ernst. Aber ich finde es auch ein bisschen lustig.
Bevor ich mich ins Bett legte, lief ich über den schlafenden Campingplatz zu den Badezimmern, um mir die Zähne zu putzen. Am Himmel leuchtete die Sonne, wie in Berlin um sieben Uhr abends, aber alles war ausgestorben, alles schlief. Ich stellte mich an den Eingang der Badeeinrichtung und putze mir die Zähne, während ich mir das Gesicht von der Mitternachtssonne wärmen liess. Seltsam unwirklich.
Tag 6
Da wir in Alta übernachtet hatten, sparten wir uns zwei Stunden Fahrt in Richtung Süden bis nach Gällivare. Aus einer 7,5 Stunden Fahrt wurden damit 5,5 das ist wesentlich erträglicher. Vor allem ist es bis Gällivare exakt die gleiche Strecke. Wir werden sogar bis nach Jokkmokk fahren, allerdings trennen sich dort die Wege der Hinfahrt von der Rückfahrt, da wir die Rückfahrt über das Inland fahren werden.
Das Wetter auf der Fahrt nach Gällivare war sehr sonnig. Sogar auf dem Hochplateau trugen wir nur ein Tshirt. Allerdings gerieten wir wieder in einen unfassbaren Mückenschwarm. Es ist erstaunlich, wie viele Mücken es dort gibt. Aber auch nur dort. Diese 100 Kilometer um der finnisch-norwegischen Grenze herum.
Und Birkenbirkenbirken. Überall Birken. Oben auf den Pässen klein und unten in den Tälern gross. Je näher wir aber Gällivare kamen, desto mehr Fichten mischten sich dazwischen, später auch auch Kiefern.
Gällivare also. Meine Frau warnte mich. Sie ist vor etwa zwanzig Jahren in Gällivare gewesen, das sei eine furchtbar langweilige und hässliche Stadt. Es ist eine Stadt mit mehreren Erzbergwerken und ausserdem ist es ein Eisenbahnknotenpunkt. Das Essensangebot besteht aus drei heruntergekommenen Pizzerie, einem Sushiladen und einem Chinarestaurang. Keines davon hat eine Aussenterrasse, wodurch wir auch nicht mit der Hündin irgendwo sitzen konnten. Also holten wir uns zwei Pizze und verspeisten diese in unserem Hotel.
Erwähnen möchte ich auch noch die Dorfjugend, die auch hier in tiefergelegten Autos und wummernden Bässen und offenen Fenstern mit 20 km/h durch den Ort cruist. Denen sind wir auf unserem kurzen Spaziergang mehrmals begegnet. Aber hey. Das würde ich hier vielleicht auch tun.
Allerdings liegt Gällivare in einer sehr schönen Landschaft, die offenbar bei Wanderurlaubern beliebt ist. Muss man ja auch erwähnen. Und es hat einen sehr schönen Bahnhof in Blockhausstil. Den sieht man auch auf den Fotos.