[Di, 2.7.2024 – Hamburg 2]

Ich blieb lange im Bett liegen. Checkout war erst um 12 Uhr. Eine sagenhafte Zeit. Um 11:51 machte ich mich auf dem Weg zur Lobby, um mich aus dem Hotel abzumelden. Der Flieger meiner Schwiegereltern würde erst nach 16 Uhr landen, ich hatte also viel Zeit. Diese nutzte ich vor allem, um meinen alten Kiez zu besuchen. Ich wohnte 4 Jahre lang im oberen Teil der Bernstorffstrasse, nahe der Schanze. Im kleinen Haus mit der Nummer 166. Ich kenne noch die Postleitzahl 22767, zwei-zwei-simm-sechs-simm, Zahlen sind ja immer ein rhythmisches Konstrukt. Am Klingelschild las ich, dass von den damaligen Bewohnerinnen niemand mehr da wohnte. Natürlich. Über der Strasse hing ein grosses Banner, das das Bernstorffstrassenfest ankündigte. Daran erinnere ich mich gerne. Das Strassenfest war immer lustig. Einmal schrieb ich in 2005 in einem etwas aufgeregten Blogeintrag darüber. Wie ich Vinyl und Bücher auf der dortigen Flohmarkt verkaufte und den Schlüsselnotdienst rufen musste. Der Text ist durchaus lustig, er liest sich aber seltsam altmodisch, wie ich mich über Genderklischees belustige, indem ich mich selber etwas auf die Schippe nehme, aber dennoch den stolzen Mann spiele. Das war damals lustig. Heute weniger. Vielleicht lag es an der Zeit. Es ist schliesslich zwanzig Jahre her. Wie sich die Wahrnehmung auch ändert. Ich fürchte, dass in den Tiefen dieses Blogs viele ähnlich altmodische, dem Zeitgeist entsprechende Dinge liegen, die mir inzwischen unangenehm sind. Besser nicht zu viel reinschauen.

Auch wurde der Hauptverteiler der Telekom in ein Hotel umgebaut. Ich frage mich, was man mit der Telekomtechnik gemacht hat. Ich war damals ungemein stolz, so nah an einen Hauptverteiler zu wohnen. Das war zu jener Zeit nicht unwichtig, als es mit der immer noch neuen DSL Technologie vorteilhaft war, eine kurze Kupferleitung zum Hauptverteiler zu haben. Ich arbeitete damals bei Hansenet, dem lokalen DSL Anbieter. Dort sah ich, dass meine Kupferleitung nur 147m lang war, damit hatte ich eine fantastisch saubere Leitung. Der Hauptverteiler befand sich in dem roten Backsteingebäude an der Ecke Stresemann- und Juliusstrasse. Ein grosser, fensterloser, mit Technik vollgestellter Bau.

Und tja. Da wohnen jetzt Touristen drin. Ich habe keine Ahnung, was man mit der Technik gemacht hat. Möglicherweise braucht man heute weniger Raum dafür.

Die ersten Monate wohnten wir im Eckhaus der Hein Hoyer / Simon von Utrecht Strasse. In den Seitenstrassen der Reeperbahn war es damals wesentlich abgefuckter als heute. Beim Verlassen unseres Hauses stiegen wir oft über schlafende Obdachlose und überall fand man Spritzbesteck. Ganz St. Pauli hat sich ziemlich rausgeputzt. Ich glaube, ich meine das positiv. Es scheint mir, als wäre es immer noch eine okaye Mischung. Und die Mischung ist ja immer wichtig. Wenn es kippt, dann kippt es. In der Hein Hoyer Strasse ist heute mehr los, früher waren da nur Copyshops, Massagesalons und schummrige Reisebüros sowie Eckkneipen. Heute sind Restaurants und Cafés hinzugekommen. Das gab es damals nicht. Dafür musste man schon ein Stück gehen. zB zur Trattoria Remo’s am Paulinenplatz. Die gibt es immer noch. Dort hat mir einmal eine Taube ins Essen geschissen. Die Aussentische waren alle an der Wand aufgereiht und irgendwo in dieser Mauer wohnte eine Taube. Tage später sah ich noch Taubenschiss an jener Stelle. Damals verstand ich den Sinn von Markisen. Komischerweise hat der Laden immer noch keine Markisen.

Hamburg hat etwas sehr Freudvolles. Ich habe es noch nicht richtig erfasst. Es fehlt dieser Stadt dieser ganze Ost-Mief, der in Berlin immer schlimmer und immer bedeutungsvoller wird. Diese graue, braune, immer grösser werdende AfD-Miesepetrigkeit, die sich vom Osten her ins Berlin voranfrisst. Auch die grünen- und SPD-Bezirke haben mittlerweile eine beachtliche AfD-Quote, ich bilde mir ein, das überall zu spüren. In Hamburg spüre ich nichts davon. Ich weiss, es ist alles subjektiv und ich kann es, ausser an der sehr niedrigen hamburger AfD-Quote, auch an keinen Fakten festmachen, aber es herrscht eine Geschäftigkeit überall in der Stadt, eine Offenheit, da kommt vielleicht die Kultur des Handels hervor, ich weiss es nicht. Ähnlich empfinde ich die Stimmung auch in Amsterdam, aber dort noch wesentlich stärker.

Hamburg ist allerdings auch wesentlich deutscher als Berlin. Graffitys bzw Sprüche an Wänden sind auf deutsch. Sticker auch. Das sieht man in Berlin kaum noch. Hier ist es meist auf englisch. Auf einen Telekomkasten in der Susannenstrasse wurde gesprüht: “Lass uns hier stehen und knutschen”. In Berlin würde stehen: “Lets lie down here and fuck”. Frei übersetzt.

Auch besuchte ich meinen früheren Buchladen am Schulterblatt. Dort hing ich eine Weile rum. Ich las in Mariana Lekys letztem Erzählband. Die Texte sind sehr kurz, oft nur vier oder fünf Seiten lang. Ich konnte mich aber nicht recht dafür begeistern. Auch wenn ich sie wirklich gerne mögen möchte, ihre Texte sind sehr zeitgenössisch und, wie soll ich sagen, modern. Ich kann die lobenden Kritiken immer gut nachvollziehen, damals hatte ich Liebesperlen gelesen und hatte auch den Roman “Die Herrenausstatterin” angefangen, aber ihre Figuren interessieren mich nie. So stand ich da im Buchladen, las die ersten vier Geschichten und dachte wieder: die Figuren interessieren mich nicht.

Tja. So ist das manchmal.

Gegen drei Uhr fuhr ich zum Flughafen und holte meine Schwiegereltern ab. Ich war in den vier Jahren Hamburg nie am Flughafen. Eigentlich seltsam. Aber damals flog ich ja nicht. Ich kann mich erinnern, dass ich von Madrid aus mit dem Zug nach Hamburg kam. Zuerst den Nachtzug von Madrid nach Paris. Dann in Paris gefrühstückt und weiter nach Köln, wo ich in den Zug nach Hamburg umstieg. Das waren siebenundzwanzig Stunden. Pro Richtung. Und ich fuhr die Strecke vielleicht zehn Mal.

Dafür kenne ich den Hauptbahnhof ziemlich gut.

3 Kommentare

  1. Ach, schau an, Herr fast-Nachbar. 2000 an der Ecke Simon-von-Utrecht-Staße/Hamburger Eck. Gegenüber Blauer Peter IV und nebenan der heiß geliebte Sorgenbrecher.

  2. Hamburger Berg natürlich. Herrje, das Alter. Im Haus übrigens ein Wohnungsbordell und in der Wohnung außer mir nur noch eine trotzkistische WG, die ich dann doch dankend verließ.

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