[Notizen aus der Heimat]

Im Zug vom Brenner nach Bozen, in diesem neuen Tunnel, weiß gar nicht wie lange der ist, weiß nur, dass man zwischen Brenner und Bozen irgendwann Ewigkeiten im Tunnel sitzt, so lange, daß wir vor vielen Jahren einmal Sex im Abteil hatten, weil man das Licht damals einfach ausgeschaltet lassen konnte, anders als heute wo alles zentralisiert geworden scheint, aber genau: im Zug vom Brenner nach Bozen, in diesem ewiglangen neuen Tunnel, kamen wir dann zu stehen. Wegen eines entgleisten Güterzuges bei Blumau, in zwanzig Minuten, so die sinnliche Durchsage der Trenitaliadame, ginge es weiter, und wie der gesamte Wagoninhalt beim Wort „zwanzig“ aufstöhnte, das hatte was, andernorts würde man jetzt sagen „diedeutschebahnwieder“, diesmal vernahm ich etwas von „trenitalia“, und das Stöhnen war noch viel genervter, vielleicht auch routinierter, das klingt in Italien oft ähnlich, Theatralik vielleicht, aber egal: wir kamen in diesem ewiglangen neuen Tunnel zu stehen und die zwanzig Minuten waren volle 1200 Sekunden, Sekunden die ich erst als Minuten zählte, wegen dem tiefen Loch unter der Erde in dem ich mich befand, wegen der Unruhe in der Erde, weil die Erde numal bebt und dicke Massen Erdkruste bewegt und Menschen darunter begräbt, oder wegen der Feuer, weil Güterzüge tief im Erdboden immerimmer in Flammen aufgehen, weil die Sekunden dort drinnen zu riesigen schwerfälligen Monstern werden die man nur durch langsamem Atmen wieder normal zu ticken kriegt oder indem man schlichtweg stirbt.

Nachdem ich zwanzig Lichtjahre langsam geatmet hatte, und nach diesen zwanzig Lichtjahren bemerkte, dass ich tatsächlich noch lebte, weil mich die Trenitaliadame mit einer erneuten Durchsage aus den Lautsprecherboxen ins Leben zurückrief, was mich erst ungemein erfreute, der Wiedergeburt wegen, wusste sie allerdings nur die nächste schlechte Nachricht zu verkünden: die weiteren 30 Minuten im Loch.
Dreissig Minuten.
Tausendachthundert Lichtjahre.

Dann begann ich einenn Abschiedsbrief zu schreiben:

[…]

***

Und dann in den kargen Hochflächen von Puez, dort wo meine halbe Verwandschaft umgekommen ist.
Neinnein, sagt meine Mutter, dort ist niemand umgekommen.
Dochdoch, sage ich, der Karl wurde hinter Puez vom Blitz getroffen, und noch irgendjemand, war es nicht der Sohn vom Sepp, ah nein ich weiss es wieder: mein Deutschlehrer aus der Brixner Zeit.
Stimmt sagt sie, aber halbe Verwandschaft ist das nicht.
Egal, sage ich, solche Sachen erzähle ich den Leuten im Internet immer, die mögen sowas.
Soso, sagt sie, komische Leute da.
Ein bisschen vielleicht, sage ich.
Wir fahren mit dem Auto auf das Grödner Joch um von da aus über den Kamm der Cir-Spitzen hinten hinaus auf die Hochfläche von Puez zu gelangen. Wir wollen bis zur Puezhütte und dann wieder zurück. 6 Stunden sagt meine Mutter. 8 Stunden sagt die Wirtin auf dem Grödner Joch. Meine Mutter und die Wirtin diskutieren über die Zeiten, schließlich einigen sie sich auf 7 Stunden.
Wir werden ziemlich genau sieben Stunden dafür brauchen.
Meine Mutter wird keine Pausen erlauben.
Die Wirtin sagt, die Route sei wirklich sehr schön, nur zweifelt sie, ob heute das Wetter hält.
Halten wiederhole ich und denke mir, dass haltendes Wetter so viel schöner ist als bleibendes Wetter. Wenn das Wetter bleibt, dann hat das immer etwas leidenschaftsloses, als würde man abwarten, und natürlich hoffen, weil hoffen, das tut man ja immer am Ende, aber haltendes Wetter, wenn man das bloß ausspricht hängt das Wetter schon richtig in den Gipfeln der Berge, in den Zipfeln der Bäume, in den Wipfeln der hochtrabenden Flausen in meinem Kopf.
Und wenn es sich losbricht, dann ist Gewitter.

***

Baumgrenze Baumgrenze Baumgrenze. Es gibt wenig Schöneres als die Baumgrenze. Wenn ab 2000m Meereshöhe die Bäume langsam verschwinden. Wie die Welt sich auf einmal weitet, wie man die verschwenderische und übermäßige Flora hinter sich läßt, nur noch von den exzentrischen Minimalisten, den kleineren Blümchen, Sträuchen, auf dem Weg nach oben in die Felsen begleitet wird, dorthin wo dann nichts mehr gedeiht bis auf einzelne Gräser und der Tod, dorthin wo nur noch schwarze Dohlen über mein Schinkenbrötchen kreisen.

***

Ich stand alleine im Regen und kämpfte mit dem Grillfeuer gegen das Wetter. Gegen Tropfen so groß wie Katzen die uns in die Kohlen klatschten. Von der überdachten Veranda aus sah uns die Party zu und rief vergnügt: Laß es sein, laß es sein, es bringt nichts.
Doch was hier gebracht wird, beschließe immer noch ich, Grillen ist schließlich kein Spaß […]

[heimat]

Ich hätte auch ein Foto von mir am Gipfelkreuz. Aber Gipfelkreuz steht mir irgendwie nicht.
[Was vom Bergsteigen bleibt ist Reichtum neuer und unüblicher Ideen und übelstlicher Muskelkater]

[peng]

Als hätte ich wie ein kleiner Spatz auf einem Ast gesessen und fröhlich gezwitschert, so sehr habe ich letzten Freitag auf mich geschossen, mit Kanonen nämlich, der Vergleich gefiel mir immer gut, das Wegpusten, die Unverhältnismäßigkeit, doch hätte es durchaus gnädiger ablaufen können, mit ein paar Bierchen beispielweise und zum Abschluß womöglich ein Gläschen Wein, stattdessen strömten die paar leergesogenen Fässer Bier längst schon im Blut und die Hektoliter Rotwein flausten (?) im Kopf, als ich Zutritt zur Whiskybar bekam und zu jenem Zeitpunkt war ich längst kein Spätzchen mehr auf einem Ast, sondern eine ziemlich hohle Tontaube die frei zum Abschuß durch die feiernde Menschenmenge kullerte, und Kanonenkugeln auf Tontauben abzuschießen ist natürlich nicht ganz so übertrieben wie auf Spatzen, doch das muss man erstmal verstehen, weilichweilichweilich, weil ich nach der ersten Kanonenkugel gar nichts mehr hören konnte, und die dreivier Folgenden erst am nächsten Tag erahnte, so stand ich dann bei Morgengrauen als einer der letzten drei Partygäste vor der Haustüre, war erstens eine Tontaube, hatte zweitens keinen Ton mehr in den Ohren, drittens war da plötzlich eine Meise in meinem Kopf und es weiß Gottnichtmal wo die nun hergekommen war und viertens war ich abgeschossen, lag ich sozusagen zersplittert am Boden, doch weil ich noch glaubte zu flattern stehen, fuhren wir auf dem Fahrrad auf der Suche nach einem Café. Auf der Suche nach Kaffee. Glücklicherweise.

Danach war ich vier Tage deprimiert und müde und leidenschaftslos und traurig und freudlos und lebensunfroh. Die Chemie. Heute gehts mir wieder.

[Kultur]

Morgen Abend lese ich bei der Lesebühne Rakete 2000 im Ä. Weserstraße 40 (Berlin-Neukölln ist dat), um 21Uhr.
Zusammen mit Lea Streisand und Mareike Barmeyer.
Eintritt ist frei oder so ähnlich.

Wir standen im südlichen Neuköln auf dem Balkon und schauten auf die Herrmannstrasse hinunter den Autos nach, wie sie sich Seit an Seit auf zwei Spuren als endlose hupende Blechraupe nach Kreuzberg vorschoben, nach Schöneberg, Mitte, hauptsache rein ins Fruchtfleisch, sie hielten Fahnen hinaus, der weisse Halbmond wollte gefeiert werden, wegen Halbfüünale, das war wie vor zwei Jahren als die ganze Welt auf Deutschlanddeutschland schaute, wie dieses merkwürdige Nationalgefühl heraufkam, das sich über weite Strecken hinweg wie etwas Gesundes anfühlte, wie Orangensaft zum Beispiel (der empfohlene Tagesbedarf [gedeckt]), was vielleicht aber einfach dieses Gefühl war, wir Deutschen sind gar nicht die, die nie und nimmer keine eigenen Lieder singen können, wir sind gar nicht die, die unablässig so sind, wie Krauts nun eben sind und zu sein haben, und das in jeder Situation, in jedem Licht, in jedem Zwielicht, und vor allem als Nichtdeutscher hat mich das so sehr berührt, dass mir öfter mal das wir von den Lippen gekommen ist, und mir sind die Deutschen in der Ferne so oft begegnet, wobei ich immer ein wenig Mitleid hatte, und daher verstehe ich auch nicht richtig woher das Bild der deutschen Überheblichkeit gekommen ist, das so viele zu haben glauben, mir taten sie immer leid, mit diesem schamvollen Unterton im I’m from germany, während die Iren und die Engländer und die Spanier inbrünstig: I’m irish, english, espanish waren, Projektionsfläche für Zusammenrottungen womöglich, aber über Nationalismen will ich gar nicht reden, wohin ich eigentlich will: die Blechraupe in der Herrmannstrasse war das Türkiyetürkiye auf das ganz Deutschland zu schauen schien, diese merkwürdige Nationalfreude die heraufkam, was vielleicht aber einfach dieses Gefühl war, wir Türken sind gar nicht die, die ie und immer nur Dönerfleisch schneiden und unsere Kinder nicht richtig erziehen, und dieses wir fiel mir jetzt ein bisschen schwer, womöglich weil ich ausgewachsenen Nationalstolz dann doch nicht mag, wobei ich mich jetzt frage was genau ausgewachsen daran ist, wenn ich an den Kollegen denke, den ich mir vor wenigen Wochen noch vorgeknöpft habe, der auf meine Frage hin, dass ich seinen Familiennamen sehr möge, woher der stamme, dieser sich aus der Frage herausdrehte und -wand, bis ich ihm ein äußerst beschämtes Türkei aus der Nase zog.

Letzten Freitag, nachts, standen wir jedenfalls auf dem Balkon im südlichen Neuköln und schwiegen. Es muss wohl eine Stunde gewesen sein, in der wir vielleicht fünf Worte wechselten, während wir ihnen nachschauten, mit dieser merkwürdigen Ahnung, und das nichtmal wegen den Scherben, wegen den brennenden Autos, sondern wie man tief enttäuscht über die rosigen Erinnerungen von vor zwei Jahren, sagen wird: hey wir hatten uns doch alle zusammen gefreut.
Egal wo und wieviele Bälle versenkt werden.

[Dabei ist mir das ethnische Zusammenleben ziemlich wurscht]

Die Nacht war furchtbar. Bis auf die Kaffeemaschine die uns wirklich megaggroße Dienste leistete, bis auf den einen Aussetzer bei dem wir alle wie gleichgeschaltet, schlechte Laune bekamen, bis auf K., der keinen Kaffee trinkt, weil K. nur Tee trinkt, bis auf die verantwortungslos vertriebenen Marken, wegen dem Gespür für den größeren Kontext den man heutzutage den Menschen so gut vermitteln kann, bis auf die Putzdame, die sich zu unserer Runde an der Kaffeemaschine gesellte, und so gar nichts von besseren Gehältern wissen wollte, bis auf ihr eigenes und das der Friseurinnen, weil wir sonst von Harztvier leben müssen, bis auf die Faulen, die hätten es verdient.

Den vierten Teil von Indiana Jones geträumt. Dieser handelt von einem kleinen Jungen der seinen Pandabären behalten möchte und Indie (wie Indiana sich gerne nennt) wird ihm dabei helfen. Ein langer Rechtsstreit mit Flamboyanten Reden folgt.

(Und das Ende verrate ich natürlich nicht)

[tribbel iii]

Wochenlang, monatelang lief ich drumherum, hob es auf, sah es mir von unten an, von der Seite, immer wieder kam ich dafür zurück– und jetzt könnte ich das alles weiterhin als wilde Jagd darstellen, weil es auch wirklich so gewesen ist, ein bisschen wenigstens, wie ich um das Gerät herumschlich, mich also heranpirschte, und Sachen murmelte wie: 900 Gramm, ein Traum! Doch das tue ich nicht, es als Jagd darzustellen ist albern, es gibt subtilere Mittel Spannung aufzubauen, zudem muss nicht immer alles spannend sein, viele wollen lieber Herzensdinge, und damit sind jetzt keine Bypässe gemeint, sondern Herzklappenfehler, wegen dem Zurückrudern, weil ich haderte und zaderte, weil: ich brauchte ja keinen neuen Laptop ich brauchte ein elektrisches Notizbuch, ha, und genau an dieser Stelle wurde meine Brieftasche locker, ein Notebook! Das war es ja, und nicht viel mehr, ein Zwohundertneunundneunzig Euro Notizbuch in das man tippen kann und ein bisschen ins Internet zu dingsen, und mehr braucht man nicht wenn man unterwegs ist oder im Park sitzt, zudem, 900Gramm ist zwar ein wenig schwerer als mein Notizbuch, aber genauso klein, nur ist das Notizbuch lediglich zum – genau: Notizen aufzeichnen, ein kleines elektrisches Minidings aber zum richtigen Arbeiten, ganze Textlappen rumzuschleppen, und ja, die Tasten liegen ein wenig eng beinander, aber meine Finger sind gerade noch unwurstig genug, und der Bildschirm ist nicht so klein wie man denkt, reicht zum Schreiben und Lesen vollkommen aus, und jetzt habe ich ihn dermassen oft gestreichelt und wild davon geträumt und mir bei langen Fahrten in der Sbahn gewünscht ich würde so ein verdammtes Spielzeug Arbeitsutensil bei mir haben, dass ich jetzt einfach in den Laden gegangen bin und das Geld hingeblättert habe. Ich bin hingerissen.

Die Daten.