Phantomschmerzen

Es fühlt sich sehr seltsam an, Pluto verloren zu haben. Und ich dachte schon, der Grund meines gestrigen Unausgeschlafenseins läge am Mond. Da er jedoch weder voll noch neu gewesen ist, machte ich mir wirkliche Sorgen. Aber jetzt weiss ich es: Pluto wurde uns aberkannt. Einfach so. Die Welt ist eine andere geworden.
Es ist jetzt ein ganzes Stück kälter, wenn man in den Himmel guckt, wenn man daran denkt, dass der klobige Neptun da draussen ab jetzt als Schlussmann fungiert, als Wächter, man fühlt sich nicht mehr so sicher. Bis vorgestern wussten man, dass ganz weit im hintersten Winkel, dieser exzentrische Felsbrocken merkwürdige ovale Runden dreht, so klein, dass man ihn gar nicht sieht, aber diese Gewissheit, ihn da zu haben reichte aus, dieser verrückten Wicht, ach, wie gerne haben wir über ihn gelacht. Und jetzt ist er weg.

In meinem Geburtshoroskop steht Pluto in Spannung mit der Sonne:

In dieser Konstellation liegt ein enormes Potential. Je mehr es Ihnen gelingt, voll und ganz zu Ihrer Macht zu stehen, desto mehr können Sie im Beruf oder auch in einem privaten Bereich eine Art “graue Eminenz” werden, die im Hintergrund die Fäden in der Hand hält. Das Ausüben von Macht, beispielsweise in einer führenden beruflichen Stellung, könnte Ihnen viel Lebensfreude bereiten.

Das einzige Lichtlein in der Trümmerlandschaft meiner Lebensplanung, mich bald zurückzulehnen und als “Graue Eminenz” meine letzten Tage zu verbringen, ist verschwunden.
Jetzt gehe ich mich besaufen.

über die Freundlichkeit im Umgang

Ich bin ein höflicher, netter Mann. Ich bemühe mich um Freundlichkeit, bedanke mich wenn mir jemand nach dem Niesen Gesundheit wünscht, ich spucke nicht auf den Boden wenn mich jemand sehen könnte, ich lalle nicht wenn ich betrunken bin, sondern versuche deutlich und klar zu reden, auch wenn ich nicht mehr stehen kann, und ich gucke fremden Frauen immer sehr diskret auf den Hintern bin immer behilflich wenn jemand in der Öffentlichkeit in schwierigkeiten gerät. Ausserdem höre ich zuhause selten übertrieben laute Musik.

Aber heute kam ich aus der Dusche, in den Boxen sang Tom Waits von seiner Neighbourhood, die Jugend kam in mir hoch und da dachte ich mir, mich mal ein wenig zu verausgaben. Also packte ich die Ziehharmonika, stellte Tom Waits laut und auf Repeat – und gröhlte mit.

Zehn Minuten später klingelte es an der Haustür. Ich hielt nur die Ziehharmonika in der Hand und meine Hüfte war mit einem knappen Handtuch umwickelt. Geschwindt rannte ich “momentmoment!” schreiend durch die Wohnung auf der Suche nach provisorischer Kleidung. Und so öffnete ich eine Minute später, provisorisch bekleidet, die Türe. Es war eine Nachbarin vom Nebenhaus, eine etwa sechzigjährige abgerockte Version von Doro Pesch, nur viel gelbere Haare, in schwarzer Lederhose, wahrscheinlich Ex-RollingStones-Groupie. Ich war wie üblich höflich, und fragte nach ihrem Wunsch. Auch sie war zugegebenermassen freundlich. Ohne lange um den heissen Brei herumzureden, erläuterte sie, dass meine laute Musik sie störe, sie sei sonst ja nie zuhause um diese Uhrzeit, aber heute schon, und bei ihr zitterten schon die Gläser auf dem Wohnzimmertisch.
Ich versicherte ihr, wie üblich in nettem und freundlichem Ton, dass ich die Musik gleich leise stellen würde, das sei ja gar nicht meine Art, und das sei ja gar nicht nötig, Musik sei ja immer besser wenn man hinhöre anstatt sich von der Musik erschlagen zu lassen.
Auch hege ich beste nachbarschaftliche Beziehungen, darum sagte ich, sie solle kurz warten, ich gäbe ihr meine Telefonnummer, sollte es mal wieder etwas geben, müsse sie nicht gleich ihr Haus verlassen, sondern könne mich einfach anrufen.

Ja, so bin ich wirklich. Auch wenn an meinem Charakter die negativen Eigenschaften vorherrschend sind, bemühe ich mich immer nett zu sein. Was mich jetzt aber richtig ärgert, und zwar so richtig richtig, ist, dass die mich jetzt in ihrem Adressbuch warscheinlich als den “Nachbar mit dem knallgrünen Blümchen-Tshirt und umgewickelten Handtuch (laute Musik undso)” führt.

die echten Weltmeister der Herzen

Ich bin jetzt ein Fan. Ich werde sie verfolgen bis zum bitteren Ende. Dass die Fabrik jetzt einen Fernseher im Raucherzimmer stehen hat, der nur Eurosport zu sprechen können scheint, hat auch seine guten Seiten. Wie die elf U20 Mädls heute gegen Mexico in der FIFA WM tapfer über den grünen Rasen des Dynamo Stadions in Moskau geschwitzt haben, gescheucht, Tore ins Netz geballert, keine Ballack-Allüren, sieht ja eh Scheiße aus die Frisur bei Mädchen, dieser Ernst mit dem sie auf das Tor hin, regelrecht gedrückt haben, bis zum Endstand 9:1, dieses Spielen nur des Gewinnens wegen, nicht des Drumherums, diese Getriebenheit, bei fünfhundert Zuschauern, ein Spiel mit Herz, wie nachdenklich gestürmt wurde, vorsichtig, aber immer kalkuliert, und trotzdem körperlich, wie man das so nennt, mit dem ganzen Leib aufs Tor ohne rumzujammern, ohne zu foulen, aber immer geradeaus, wie warm es mir ums Herz wurde als die neunzehnjährige Anne Blässe (was für ein Name!) das 6:0 schoss und man in diesem Moment noch allzu gut das Tosen der Massen von letztem Sommer im Ohr hat, doch stattdessen gar nichts – nur Anne freut sich. Und ihre Mitspielerinnen. Und vereinzeltes Klatschen von der Hälfte der Fünfhundert, inmitten der sechzigtausend leeren Sitzplätze, dieses Gefühl, dass man ganz große Klasse ist, auch wenn niemand zuguckt.

Am 24. gegen Suisse. Um 16Uhr. Bestimmt auf Eurosport.

so viel zu Grass

Und so ganz nebenher frage ich mich wie oft ihm in den vergangenen Jahrzehnten wohl der Mund geschnürt worden wäre, wenn diejenigen die jetzt da draussen am lautesten schreien, von seiner Vergangenheit als postpubertärer WaffenSSler gewusst hätten.

Und sonst kann ich dem da nur zustimmen: Lebensläufe sind als ergebnisprotokoll zu betrachten und nicht als verlaufsprotokoll. soviel zu günter grass.

Stadtsafari

“Ein Schif, ein Schiff” rief der doofe Mek begeistert, als er auf dem Dach der Ubahn Haltestelle Landungsbrücken stand, und beliess es nicht bloss bei diesem albernen Ausruf, sondern wedelte vor heller Freude noch wild mit den Armen, weil ein Schiff nunmal eine einzigartige Attraktion im Hafen ist, als er sein Mobiltelefon aus der Brusttasche herausfallen sah. Normalerweise ist der Mek ein ganz flotter, fängt fallende Messer mit links, erschlägt Mücken mit dem kleinen Finger, aber dieses kleine Telefon ruinierte seine Hosen, sein Hemd und seine frischgeputzten Schuhe.
Warum die Schuhe? Nun, weil das kleine klingelnde Mistding erst auf dem schmalen Vordach der Aussichtsplattform auffederte und dann in einem eleganten Bogen, aus seinem Blickfeld verschwindend in die Tiefe stürzte. Lange verharrte der Mek, mit dem rechten Ohr zum Abgrund gewendet, auf ein leises Ploinkploink wartend. Im Notfall hätte er auch ein lautes Krachen in Kauf genommen, aber stattdessen geschah gar nichts. Seiner lieben Begleitung entwich ein nachdenkliches “oh-oh”.

Ich gebe zu, das erklärt die Sache mit den Schuhen nicht, aber wir kommen der Sache näher, sobald wir erfahren, dass er daraufhin in die Tiefe spähte und einen undurchdringlichen Urwald unter sich entdeckte. Kein Problem für Supermek, einfach runter auf die Strasse und hoch ins Gebüsch. So dachte er. Nur stand er dann unten auf der Strasse und sah sich vor einer etwa 7 oder 8 Meter hohen glatten Mauer stehen. Supermek hat leider keinen Fliegeumhang, keine Spinnennetzkanülen und erst recht kein Batmobil. Daher sah er sich genötigt einen Weg von oben aus zu suchen.
Supermek hat daraufhin gelernt, dass man in Zeiten von Terror und Horror nicht auf UBahnhöfen versuchen sollte, Türen und Fenster zu öffnen, oder sich über hohe Geländer zu hieven, weil alles Orwellisiert ist und neue Feindbilder entstanden sind. Vor allem sind die uniformierten Wachen alle doppelt so breit und etwa zehn Meter grösser.
Supermek hat dann den besäntigten Wachtmeistern seinen Leidensweg erzählt, vom elegant hinabfliegenden Telefon, von der Mauer in Übergrösse und von den verschlossenen Türen und den damit verbundenen terroristischen Handlungen.

Einer der Wächter hatte Mitleid, gab Supermek ein Taschentuch und stieg von einem Seitengeländer bei den Gleisen hinab ins Gebüsch. Ja und was ist nun mit den Schuhen? Warum sind Meks Schuhe ruiniert wenn der Terrorwächter die Heldenarbeit erledigt? Der Dramatik wegen würde ich jetzt allzu gerne schreiben, dass er sich, während seiner einheizenden Zurufe, mit denen er den wagemutigen Wächter bei der Suche anfeuern wollte, den Fuss gestossen hat und nachher festzustellen, dass sich dabei die Sohle vom Restschuh gelöst hat, stattdessen bekam die Sache mit dem Schuh tatsächlich noch eine abenteuerliche Wendung. Der Wächter kam nämlich gesenkten Kopfes zu ihm zurück und teilte ihm mit, das Telefon nicht gefunden zu haben. Daraufhin erlaubte er Mek selbst über das Geländer in den Urwald hinabzusteigen und sich auf Safari zu begeben.
Seine liebe Dame leistete ihm vom Geländer aus seelischen und akustischen Beistand, während er sich im Dornengestrüpp zwischen leeren Bierflaschen, Dosen, Haarklammern, Viechern und elastischen Ästen die die dumme Angewohnheit haben bei Überstrapazierung zurückzuschlagen (meist ins Gesicht), auf der Suche nach diesem blauen Klingelding, herumzukriechen.
Dornen zerreisen feine Hosen, zerreisen auch Hemden. Und sie ruinieren auch schöne Schuhe. Das weiss Supermek jetzt. Hätte er doch bloss seinen schwarzen Umhang dabei gehabt.

Der Wächter der physischen Beistand leistete (Nein, Herr Wito gehen Sie da nicht rein, da – Autsch, hat das weh getan?) kam mit der glorreichen Idee sein Telefon anzurufen. Was der Wächter natürlich nicht wusste, ist, dass dem Supermek sein Klingelding eigentlich mehr ein Vibration-Telefon ist, weil es ihm immer so peinlich ist, wenn das Telefon in der UBahn klingelt und er seines monophonen Klingeltones wegen, immer von sechzehnjährigen Mädchen ausgelacht wird.

Die Dame oben wurde inzwischen von einem regelrechten schweizer Supermek Fanclub umringt die allesamt seine Nummer wählten und der Aufregung wegen vier Ubahnen passieren liessen, ist ja die Hölle los hier in Hamburg, erst Terrorwarnung, danach zerfetzte Männer im Dornbusch.
Aber es gab kein Happyend. Nach einer halben Stunde hing auch Supermeks Kopf tief und beschämt. Dem schweizer Fanclub verging die Laune jedoch nicht. Lachend stiegen sie in die Bahn ein und versprachen am Abend nochmal anzurufen.
Wenn ich mir vorstelle wie das Telefon dort einsam und verlassen, mitten in der finsteren Nacht zwischen Abfall und Gestrüpp vibriert, werde ich fast ein wenig traurig. Aber so enden gute Geschichten nun mal.

(Alle hundert Jahre einmal hört man in windigen Seenächten die traurigen Gesänge des verschollenen Handies, wie es darauf wartet von einem Prinzen erlöst zu werden)

(ah und bitte, ruft mich nicht mehr an)

Da sich heute überraschenderweise ein ganz launischer Kater in meinem Schädel breitgemacht hat, und sich meine Augenlider derart schwer anfühlen, dass ich bei jedem Blinzeln darauf achten muss, sie auch wieder zu öffnen – was mir vorhin im Flur, beim Grüssen der Chefin fast zum Verhängnis geworden wäre – war ich eben sehr erfreut darüber, auf dem Kalender den heutigen Tag als Feiertag markiert zu sehen. Hatte ich bloss irgendwas verpasst? Bin ich heute für nichts und wiedernichts aufgestanden? Hätte ich einfach im Bett bleiben können und meinen Kater exorzieren?

Die Freude wich jedoch schnell einem typisch norddeutschen Katholenneid, als ich in der Fussnote des Kalenders las, dass der 8. August lediglich in Augsburg gefeiert wird. Katholenneid ist für mich guten Katholen selbstredend immer ein wenig befremdlich.
Vor vielen Jahren war ich mal in Augsburg verliebt. Viele Reisen hatte ich unternommen um meiner Geliebten nahe zu sein. Aber sie hörte zu den Klängen von Jethro Tull und Uriah Heep und das ertrug ich auf Dauer nicht.
Wäre ich musikalisch ein klein wenig toleranter gewesen, dann hätte ich heute vielleicht einen freien Tag, hätte Pizza gefrühstückt und mich wieder ins Bett gelegt bis der Schädel vorbei wäre.

Allerdings wäre ich dann gestern auch nicht in bester Trinklaune mit lauter netten Leuten zusammengesessen.
Komische Algorythmen hat das Leben manchmal.