[Schulische Bildung]

Ich habe ja keine formelle Bildung. Normalerweise spielt meine Ausbildung in einem Bewerbungsverfahren keine Rolle. Es fragt niemand mehr nach meinem Studium, dafür bin ich in meinem Berufsumfeld schlichtweg zu erfahren. Oder zu alt. Je nachdem, wie man es betrachten will.

Bei meinem letzten Schulbesuch war ich 14 Jahre alt. Hätte ich das letzte Pflichtschuljahr nicht wiederholen müssen, dann wäre ich sogar schon mit 13 Jahren ausgeschult gewesen. In Südtirol gibt es fünf Jahre Volksschule und drei Jahre Mittelschule. Damit hat man das Pflichtpensum absolviert. Danach erlernt man einen Beruf, oder man geht auf das Gymnasium bzw. auf eine sogenannte Oberschule und macht die Matura, also das Abitur.

Nach der Pflichtschule hatte ich überhaupt keine Ahnung, was ich tun wollte. Mein bester Freund wurde Metzger, das war bei ihm schnell klar. Da ich in den Schulferien in der Küche eines Restaurants arbeitete, hätte ich sicherlich dort eine Ausbildung beginnen können. Mir war aber auch bewusst, dass ich nicht mein ganzes Leben lang von einem alkoholisierten Chefkoch herumkommandiert werden wollte. Ausserdem arbeiteten Köche immer dann, wenn andere Spass hatten. Dasselbe galt für den Beruf des Bäckers. Ich konnte es mir nicht vorstellen, einen solchen Beruf für den Rest meines Lebens auszuüben. Aber ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, jeden Tag das selbe für den Rest des Lebens zu tun.

Die einzige Idee, die ich etwas ernsthafter in Betracht zog, war eine Konditorlehre. Aber davon riet man mir ab, weil man davon so dick werde, wie man an den beiden Dorfkonditoren sehen konnte. Für andere Berufe fehlte mir die Fantasie. In den zahlreichen Hotels wollte ich nicht arbeiten. Die Kinder der Hotelbesitzer gehörten nicht wirklich zu meinem sozialen Kreis. Die gingen nach der Mittelschule aufs Gymnasium, um später auf der Universität zu studieren. Es gab auch Bauernkinder, die aufs Gymnasium gingen. Ich weiss aber nicht, was die anders machten als ich.

Das Gymnasium war für mich keine ernsthafte Option. Zum einen hätte ich gar nicht gewusst, welches Gymnasium ich hätte besuchen sollen und auch meinen Eltern fehlte hierzu eine richtige Idee. Aber ich hatte nach diesen neun Schuljahren auch nicht viel Lust, weiterhin auf Schulbänken zu sitzen. Ausserdem hätte ich für das Gymnasium runter vom Berg in das zwei Stunden entfernte Bozen ziehen müssen.

Also schickte mich meine Mutter zu einer Berufsberaterin. Diese meinte, ich sei ja so kreativ, ich sollte einen Kreativberuf ausüben. Also begann ich eine Lehre in einer Druckerei. Eine Druckerei ist schliesslich ein kreativer Betrieb, immerhin werden dort Bücher und Kalender gedruckt. Und Todesanzeigen. Ich lernte den Beruf des Druckformherstellers und Montierers. Dort klebte ich Texte und Fotos für Todesanzeigen und Sterbebildchen auf durchsichtige Filmfolien und belichtete damit Druckplatten für den Offset-Druck. Ich habe keine Ahnung, wie genau ich in dem Beruf landete. Auch meine Eltern können den Weg dahin nicht mehr nachvollziehen. Aber ich hatte ein Einkommen. Das Einkommen war mir immer das Wichtigste.

Die Druckerei war ein kleiner Betrieb in der Altstadt von Bozen. Nebenher besuchte ich zwei Monate im Jahr die begleitende Berufsschule. Ich sass jetzt also doch in Bozen, wo ich eigentlich nicht hin wollte und ich drückte wieder die Schulbank, wenn auch nur wenige Wochen im Jahr.

Den Beruf gibt es heute allerdings nicht mehr. Haben alles die Roboter und Computer übernommen.

Das erste Jahr in Bozen wohnte ich in einem katholischen Heim. In grossen Schlafzimmern, zusammen mit anderen Jugendlichen aus entlegenen Tälern. Nach Bozen zu ziehen, erwies sich für mich natürlich als Glücksfall. Die gewonnenen Freiheiten erkannte ich sofort. Da meine Familie nach einem Jahr aber in die Nähe von Bozen zog, genauer gesagt in das Dorf meines Vaters, ein Bergdorf im weiteren Umland von Bozen, und das Heim zu teuer war, um langfristig zu bewohnen, musste ich ab dem zweiten Jahr jeden Tag mit dem Bus zum neuen Wohnort meiner Eltern fahren. Jeden Tag hinauf und hinunter. Eine Stunde pro Richtung. Abends um 20:05 fuhr der letzte Bus zurück ins Dorf. Verpasste ich diesen, musste ich per Anhalter nach Hause. Da ich immer mehr Freude an der städtischen Abendgestaltung fand, verpasste ich den letzten Bus immer öfter.

Das alles fand ich zunehmend furchtbarer, bis sich meine Lebensvorstellungen radikalisierten und ich Konflikte mit meinen Eltern provozierte, worauf ich mit 18 das elterliche Haus verliess. Ein Freund von mir aus dem entfernten Vinschgau absolvierte gerade in Bozen den Zivildienst. Meistens schlief er bei Bekannten in der Stadt. Weil ich auch eine Bleibe suchte, zogen wir zusammen in seinen schwarzen Ford Fiesta ein, den wir auf der Brache des Ex-Monopolios abstellten. Das war ein illegaler, aber gut genutzter Parkplatz, auf dem nicht nur wir beide die Nächte im Auto verbrachten.

Weil sich dieser Lebensstil nur schwer mit der Ausbildung in der Druckerei verbinden liess, kündigte ich zwei Monate später meine Lehrstelle und zog für einen Sommer nach Berlin. Danach verbrachte ich ein Jahr wieder in Südtirol und Norditalien, hauptsächlich in Padova und Milano und arbeitete als Saisonarbeiter auf den Apfelwiesen, wovon ich mehr oder weniger leben konnte. In jener Zeit wollte ich aber nur weg aus den Alpen. Ich schmiedete Pläne für Berlin, für London, vielleicht Paris. Viele Menschen, mit denen ich in jener Zeit in Bozen befreundet war, gingen zur Schule, lernten auf das Abitur hin und zogen danach für ein Studium nach Wien oder nach Bologna. Da begann ich langsam die Weichen zu bemerken, die mich von den Pfaden meiner Freunde trennen würden.

Ich ging zuerst nach Wien, weil die meisten meiner Freunde dort landeten, Wien fand ich aber furchtbar und so zog ich schliesslich in die Niederlande, wo ich jemanden flüchtig kannte und deswegen eine Andockstation hatte. Von jener Zeit handelt auch die Novelle.

Aber ich wollte hier ja von meiner Schulbildung schreiben. In den Niederlanden schrieb ich mich nämlich in die Hoogeschool van Utrecht ein, wo ich Geografie studieren wollte. Ich wusste, dass ich ohne Abitur nicht studieren konnte, aber ich schrieb mich einfach ein und schickte meinen höchsten Abschluss mit, um zu sehen, was passiert. Ich traute mir das Studium auf alle Fälle zu. Schliesslich hatte ich Nietzsche gelesen und mindestens 5% davon verstanden. Mein höchster Abschluss war die popelige „Mittelschule“. In Utrecht verwechselten sie vermutlich „Mittelschule“ mit „Middelbare School“. Bei Middelbare School handelt es sich in den Niederlanden aber um ein Gymnasium oder Lyzeum. Sie waren also der Annahme, dass ich ein Abitur in der Tasche stecken hatte.

Und so studierte ich plötzlich Geografie.

Das ging natürlich nicht lange gut. Nach drei Monaten flog der Schwindel auf. Anstatt mich rauszuwerfen, bot man mir allerdings eine Aufnahmeprüfung an. Die Prüfung legte ich aber nicht mehr ab. Zum einen gab es gerade Stress wegen des Hauses, das wir besetzt hielten und frühmorgens arbeitete ich bei Ikea, wo ich die Fächer mit Waren füllte. Das passte zeitlich alles nicht so gut zusammen.

Bei meinem Bewerbungsgespräch von neulich wurde ich jedenfalls gefragt, wie es mit meinem Studium aussähe. Die Angaben dazu würden im Lebenslauf fehlen. Auf diese Frage war ich gar nicht vorbereitet, weil sie mir nie gestellt wird. Ich sagte, damals bei uns in dem Dolomitendorf sei ein Studium nicht unbedingt eine Option gewesen. Als ich das sagte, kam ich mir vor wie ein alter Bergbauer, der als Kind Barfuss 10 Kilometer über Berghänge zur Schule lief.

4 Kommentare

  1. Sehr interessant, jetzt kann ich die Bruchstücke, die bereits kannte, besser zuammensetzen. Und ich möchte Tracey Emin zitieren, die kürzlich zur „Dame Commander“ ernannt wurde: „“Growing up in Margate, I left school at 13, so many people told me I couldn’t do things, I wasn’t allowed to do this, I couldn’t go to university, I couldn’t be an artist. Look at me now. Yes I can, and other people can.“

    1

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert