[Zusammenwohnen mit Tina in Madrid]

Vor einigen Tagen schrieb ich ziemlich abfällig über den Mann aus der Nachbarschaft. Das habe ich jetzt gelöscht. Zum einen, weil er meinen Namen kennt und mich theoretisch googlen kann, und ich glaube nicht, dass es schön ist, so etwas über sich im Netz zu lesen. Auch wenn er anonym geblieben ist und ich seine Persönlichkeitsrechte damit nicht verletze.

Aber vor etwa zwanzig Jahren schwor ich mir, nie wieder über Menschen zu lästern.

Schon vorher war ich kein grosser Lästerer, Lästerei ist nicht Teil meines Persönlichkeitsprofils. Aber damals wohnte ich mit Tina zusammen in einer kleinen Wohnung in Madrid. Wir waren Kolleginnen und arbeiteten in einer internationalen Firma, die UNIX-Spezialisten in Madrid zusammenzog, um eine Art Tech-Hub zu gründen. Ich wurde von dem niederländischen Zweig der Firma nach Madrid entsandt und Tina vom deutschen Zweig. Die meisten unserer Kolleginnen wohnten am Stadtrand in der Nähe des Büros. Sie lebten in einer internationalen Blase von Expats, redeten nur englisch und pflegten keinen Kontakt zu Spaniern. Ich fand dieses Lebensmodell uninteressant. Für mich war immer klar, dass ich in der Innenstadt wohnen wollte. Schliesslich war ich nicht nach Madrid gezogen, um zu arbeiten. Da es in meiner Wohnung ein freies Zimmer gab und ich mir die Kosten teilen wollte, bot sich Tina als meine Mitbewohnerin an. Ich war bei der Auswahl nicht wählerisch, es war mir nur wichtig, dass die Person kein Arschloch sei, alles weitere würde sich ergeben. Ich kannte Tina nicht gut, sie arbeitete in der deutschen Abteilung, ich hing vor allem mit den Engländern und den Niederländern rum. Einige der Kerle im Büro beglückwünschten mich für meine neue Mitbewohnerin. Tina hatte nämlich auffällig schöne Brüste und sie feierte auch gern. Ausserdem lebe ihr Freund weit weg in Castrop-Rauxel und kam sie nie besuchen. In den Augen der Kollegen sah das sicherlich aus wie ein privates Harem.

Ich hatte aber eine Freundin und ich bin nicht so der Typ für Brüste.

Mein Ansinnen war es nicht, mich mit ihr anzufreunden. Ich brauchte nur eine Person, die kein Arschloch war, ob man zusammen etwas unternähme, war zweitrangig und ergäbe sich, wenn die Chemie stimmte, aber es war mir auch nicht so wichtig. Anfangs luden wir Kolleginnen ein und spielten Karten, oder wir unterhielten uns und gingen dann gemeinsam in die Bars, ein paar Mal luden wir grössere Runden ein und kochten etwas. Die Beziehung zwischen mir und ihr blieb aber funktional. Vermutlich hatte sie sich ein engeres Band vorgestellt. Anfangs wusch sie meine Wäsche mit und kaufte Brot für mich ein, aber ich unterstützte das nicht und erwiderte es auch nicht, so hörte das von selber auf. Ich hatte damals wohl schon das Gefühl, mir vielleicht doch ein Arschloch eingefangen zu haben. Nur war mir das aufgrund der schönen Brüste nicht aufgefallen.

Tina war ein gehässiger Mensch. Tina fand Spanier rückständig. Franzosen waren Franzacken, Italiener waren Spaghettifresser und Engländer nannte sie konsequent „Tommies“. Dabei sass jeden zweiten Tag Simon bei uns. Simon kam aus Reading, westlich von London und war verliebt in Tina. Er kam gerade von der Uni und trug immer Hemden wie alle jungen Engländer in unserer Firma. Er sass Abende lang bei uns im Wohnzimmer mit Tina am Tisch, er bekochte sie, er himmelte sie an, sie liess es geschehen, machte ihm ein schönes Gesicht und wenn er wieder ging, kotzte sie sich bei mir über das Tommieschweinchen aus. Simon hatte das Pech, nicht besonders vorteilhaft auszusehen, ich verstand schon, was Tina mit „Schweinchen“ meinte, schmaler Mund, aufgeschwollene Backen, immer leicht rosa gefärbt. Ich fand das unfair, Simon war eigentlich ein lieber Kerl, er war ein hilfloses Glühwürmchen, dessen Gefühle ihn dazu trieben, jeden Tag um sie herumzuschwirren, wie in der Schwerkraft eines Zentralgestirns verfangen. Und sie liess sich bezirzen.

Von Simons Liebe wussten natürlich alle im Büro. Viele fanden es belustigend, dass er sich so sehr um sie bemühte, sie ihn aber nicht heranliess. Eine Bekannte aus dem deutschen Team sagte mir einmal, sie wundere sich, dass Simon nicht Tinas Bösartigkeit bemerke. In Tinas Sätzen schwang immer Bösartigkeit mit, Missgunst, Grobheit. Wenn man im Taxi durch die Stadt fuhr, stinkte der Taxifahrer, die Strassen waren zu hell beleuchtet, es war immer zu kalt oder zu warm, Männer, die Analsex wollen, sind in Wirklichkeit schwul, undsoweiter. Die Theorie der Bekannten war es, dass Tina sich auf englisch nicht so gut ausdrücken könne und ihre Tiraden und Plattitüden deswegen schlichtweg nicht funktionieren würden, vielleicht wirkte sie in einer fremden Sprache einfach hilfloser. Das war eine schlüssige Theorie.

Nach zwei Monaten kam meine deutsche Freundin zu Besuch, das war die junge Frau, für die ich ein Jahr später nach Hamburg ziehen würde. Ich holte sie vom Flughafen Barajas ab und wir kamen zu Hause an. Die Wohnung war sehr eng und die Türen dünn. Tina war im Büro, aber ich hatte mir freigenommen. Meine Freundin und ich machten uns im Wohnzimmer breit, ich kochte Kaffee und ich beschwerte mich laut und genüsslich über Tina. Zwar hatte ich meine Freundin auf sie vorbereitet, aber das Zusammenwohnen mit Tina und ihrem bezirzenden Simon hatte gerade einen Höhepunkt erreicht, an dem es mich eingehend beschäftigte. Ich sagte richtig böse Dinge über sie.

Die beiden Schlafzimmer gingen direkt vom Wohnzimmer ab und man konnte darin jedes Wort vom Wohnzimmer mithören, sofern es nicht geflüstert wurde. Nach zehn Minuten des bösartigen Lästerns entdeckte ich Tinas Arbeitslaptop, der auf dem Tisch stand und eingeschaltet war. Sie musste wohl einen Homeofficetag eingereicht haben und lag vermutlich für ein Mittagsschläfchen in ihrem Zimmer.

Das war es dann wohl.

Zwar hatte ich Tina nie eine Freundschaft vorgetäuscht, aber ich äusserte mich auch nicht über meine wachsende Ablehnung. Wir waren Kolleginnen und aufgrund der Expat Situation unternahmen wir manchmal Dinge gemeinsam, aber immer zusammen mit anderen Menschen.
Dass sie jetzt meine bösartig geäusserte Meinung über sie hinter ihrem Rücken mitbekommen hatte, traf mich sehr. Es entsprach nicht meinen moralischen Vorstellungen. Ich zog mich erst mal mit meiner Freundin in mein Zimmer zurück und danach gingen wir auf einen Spaziergang in die Stadt, assen etwas, ich zeigte ihr die Puerta del Sol undsoweiter. Aber ich bekam dieses schlechte Gefühl nicht von mir weg.

So beschlossen wir nach Hause zu gehen. Ich besprach das Vorhaben mit meiner Freundin. Ich würde Martina einfach direkt ansprechen. Ihr sagen, dass ich mit ihrer negativen Energie nicht gut umgehen könne und ihr Verhalten mit Simon nicht gut fände und wir nach einer Lösung mit der Wohnung suchen müssten.

So gingen wir nach Hause, Tina war nach den vielen Stunden offenbar immer noch in ihrem Schlafzimmer, es hätte mich nicht gewundert, wenn sie nun zutiefst gekränkt und heulend in ihrem Zimmer läge, also klopfte ich an ihrer Tür. Weil sie nicht antwortete, klopfte ich noch einmal und noch einmal und noch einmal. Sie antwortete aber nicht. Also öffnete ich die Tür. Das Bett war sauber gemacht und Tina war nicht da. Aber ihr Laptop stand immer noch auf dem Tisch.
Also schrieb ich ihr eine Mail. Darin schrieb ich, dass wir jetzt wohl miteinander reden müssen. Ob sie gleich nach Feierabend Zeit hätte.
Sie antwortete verwundert: ja gerne! Aber warum müssen wir reden?

Kurz darauf verstand ich, dass sie gar nicht zuhause gewesen war und mein Geläster gar nicht mitbekommen hatte. Ihren Laptop hatte sie nur zuhause stehen lassen, weil sie eine Teamviewer Session darauf laufen habe, um das VPN der Firma zu umgehen.

In dem Moment fiel die ganze Anspannung von mir ab. Und das war auch der Moment, an dem ich mir schwor, nie wieder über jemanden zu lästern, ohne dass diese Person es nicht ohnehin schon von mir wüsste.

Unsere Beziehung verschlechterte sich danach trotzdem. Aber das ist eine andere Geschichte.

Deswegen löschte ich jedenfalls die Passage über den Mann aus der Nachbarschaft.

(Da wir gerade beim Madrid Thema sind, noch eine andere Erinnerung an Madrid)

2 Kommentare

  1. ach, ich applaudiere! das finde ich doch mal sehr reflektiert. im übrigen hatten wir es hier ja letztens mit den wiener grantlern etc. und den negativen gefühlen, leider stelle ich gleich darauf fest, daß ich das in Berlin hier auch immer öfter antreffe. nur klingt es hässlicher weil der österreichische dialekt fehlt (geschmackssache, ich weiß). zuerst saß ich nämlich mit meinem bruder und meiner tochter am karfreitag in der ankerklause (fish und chips), und am nebentisch kotzte sich jemand da über eine halbe stunde über die mitbewohnerin aus. habe versucht möglichst nicht hinzuhören, aber was ich so fetzenweise mitbekam waren die beiden einfach zwei ratten in einem zu kleinen käfig. dann auch wieder ging ich letzte woche vom lidl nach hause, und vor mir liefen zwei und ich denke es ging auch um einen mitbewohner, und der nehme sich, wann immer es nutella, also schokoladencreme (machte mir eine mentale notiz dass hier besoders prekäre verhältnisse herrschen müssten da man sich nicht mal zusammen das nutella leisten kann) gebe, den pott samt einem löffel auf sein zimmer und würde erst mal das halbe glas leerlöffeln. falls es kein mitbewohner war, dann war es ein kind, ich denke aber mitbewohner. aber ja. aber nein. die gesprächsfetzen, so insgesamt gibt das das porträt der stadt. die wohnungsnot wird uns noch alle zu menschenfeinden machen. the rent is too damn high.

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  2. Vielleicht ist es auch einfach gerade eine Grantlerjahreszeit. Ich merke es an mir selber, dass ich gerade wenig ertrage. So aus dem ewigen Winter kommend direkt in den Hochsommer. Das macht ja was mit einem.

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