(über Fabe natürlich…)
Autor: mpf
…
Da leert sich dann die Stadt. Und es leeren sich die Straßen. Die Lichter gehen aus hier im Hinterhof, jeden Abend ein Lichtlein weniger, mein ganz persönlicher Adventskalender. Gegenüber brennt noch das letzte Licht, daher weiß ich es: morgen ist Weihnacht.
Keine Sorge, ich bleibe immer gerne zurück. Ich passe auf, auf die abkühlenden Häuser, auf die leergekauften Läden. Ich mag Weihnachten wirklich gerne, es rieselt leise, das Fest der Liebe, und Liebe ist immer gut.
Und gerade die Liebe ist es. Als würde es sich zu zweit zu schwerlich lieben. Gomisch das.
Machts gut, ich paß schon auf alles auf.
[brautführung]
Meine Schwester wollte, dass ich ihr Brautführer sei. Es ist mir eine große Ehre, meine Schwester bis zum Altar zu begleiten.
Weil ich bereits seit vielen Jahren nicht mehr in Südtirol lebe und ich in meiner Jugend auch nie sonderlich ein Freund der Traditionen gewesen bin, weiss ich allerdings nicht genau, was ein Brautführer ist. Ich weiss, was ein Trauzeuge ist und ich weiss, was ein Pfarrer ist, beim Brautführer bin ich mir nicht ganz so sicher. Aber alle sagten: oh du bist der Brautführer, schön. Zwinkerzwinker.
Das Zwinkerzwinker beunruhigte mich ein wenig, ich wollte aber nicht als Unwissend dastehen und beschloss, ruhig zu bleiben, ich würde es schon im Laufe der Zeit erfahren.
Ich nehme meine Pflicht als Brautführer selbstredend ernst und fragte daher Monate im Voraus, was ich dafür tun müsse. Ich erfuhr, dass ich drei Aufgaben hätte:
– den Brautstrauß bewachen
– die Braut beschützen
– die Braut dem Bräutigam übergeben
Die Aufgaben klangen einfach. Von der Nachbarin meiner Mutter erfuhr ich beiläufig, dass auf Hochzeiten oft diese bescheuerten Traditionen ausgeführt würden. Dass Freunde, Bekannte oder Kollegen Hindernisse aufstellen würden, wo das Ehepaar Aufgaben zu erfüllen hätte. Eine andere Tradition sei beispielsweise die Entführung der Braut. Da werde einfach die Braut entführt und der Brautführer müsse sie wieder finden, um sie dem Bräutigam zu übergeben. Blöde Spässchen.
Ich hob meine Augenbrauen und schaute etwas besorgt meine Schwester an. Sie holte weit mit dem Arm aus und sagte: Weg mit dem traditionellen Scheiß, ich will heiraten!
Meine Schwester wohnt seit Jahren in Wien, sie kennt die Traditionen ja selber nicht mehr.
Ich liebte meine Schwester und war beruhigt.
Als mein Vater davon erfuhr, dass das Ehepaar nichts mit diesen Traditionen zu tun haben wollte, regte er sich auf. Was für eine Hochzeit das denn bitte sei. Keine Böller, keine Straßensperren, er schüttelte den Kopf, und nicht mal eine Entführung. Er fragte, wofür sie dann überhaupt heiraten wollten.
Am Tag der Hochzeit bin ich ständiger Begleiter meiner Schwester. Wir gehen zur Stylistin Renate. Meine Mutter ist dabei, meine kleinere Schwester, auch die Trauzeugin. Es ist unterhaltsam. Auch mein Vater kommt vorbei. Ich begleite ihn auf eine Zigarette vor dem Salon. Dort steckt er mir die Info, dass auf den anderen Teil der Familie Verlass sei, es werde nämlich für eine Brautentführung gesorgt. Er hält sich den Finger vor dem Mund, ich solle darüber aber schweigen. Ich sagte: aber eine Entführung sei ja auch schlecht für mich. Er sagte, ich müsse nur die Braut finden und alle Rechnungen zahlen. Ich frage, wie meinst du, ich muss die Rechnungen zahlen?
Er erklärt mir den umständlichen Part, dass die Braut und die Entführungsgesellschaft in die Kneipen und Bars ginge, sich betrinke und dann die Zeche prelle. Die Rechnung müsse dann ich begleichen.
Was? Ich?
Ja genau. Der Brautführer.
Warum der Brautführer?
Weil das so ist.
Im Salon der Frisörin erzähle ich meinen Verbündeten, vom vermutlich bevorstehenden Akt. Die Braut greift sich an die Stirn. Wie furchtbar das doch sei. Sabine schlägt vor, die Entführung selbst in die Hand zu nehmen und mit der Braut ein paar Schnäpschen zu trinken. Die Braut säße schließlich bei uns im Auto und könne daher nicht von Dritten entführt werden. Den Frauen gefällt die Idee und mir sowieso. Ich bin richtig begeistert.
Es wird Nachmittag. Die Ringe werden getauscht, es wird gesungen, geweint und es gibt Vorfreude auf das Essen. Auf dem Weg von der Kirche ins Gasthaus spricht mich der Trauzeuge des Bräutigams an, offenbar hätten sich die Frauen zusammengetan um die Braut zu entführen. Er wolle mich nur warnen, ich sei ja der Brautführer. Zwinkerzwinker. Ich zwinkerzwinkere siegesgewiss zurück und verrate ihm, es sei schon vorgesorgt, die Braut werde von ihrer Trauzeugin und mir persönlich entführt. Er lacht, und sagt, das sei auch nicht schlecht.
Etwas später kommt die Trauzeugin Sabine und ich schlage vor, mit der Entführung bis fünf zu warten, damit wir noch in Ruhe ein paar Grappas nehmen könnten. Sie sagt das ginge nicht, und ich frage, warum das denn nicht ginge und sie sagt, weil sie gleich nach dem Essen mit den anderen Frauen die Braut entführe.
Ich bin zuerst verwirrt, also frage ich, wie meine Rolle darin aussähe. Das wüsste sie auch nicht, aber das sei dann wohl so, dass ich sie suchen müsse.
Ich glaube der Sache noch nicht so recht, belächle die Situation und erzähle es meiner Schwester, der Braut. Sie ist sehr beschäftigt, umringt von Menschen, die mit ihr reden wollen, ich bin aber etwas beunruhigt und drängle mich dazwischen. Ja, davon habe sie auch gehört, ja, schon verrückter Plan, sie lächelt Tanten an und nimmt Geschenke entgegen. Ich setze mich erstmal an den Tisch, trinke ein Bier.
Zwischen dem dritten und dem vierten Gang hole ich mir Hilfe vom Bräutigam und seinem Trauzeugen. Ich weihe sie ein. Ich würde natürlich alles dafür tun, dass die Braut erst gar nicht verschwände, aber es erschleicht mich das Gefühl, dass wir zu dritt gegen zwei Dutzend Frauen ziemlich machtlos sind. Und die Braut nähme die Situation nicht sonderlich ernst. Falls wir es nicht verhindern können, soll mich der Trauzeuge fahren und der Bräutigam soll im Wagen sitzenbleiben bis ich ihm seine Holde bringe.
Sie nicken beide. Sie nicken ein bisschen nachdenklich, aber sie nicken immerhin.
Nach dem Essen werde ich von meiner zukünftigen Schwippschwägerin Eva eingeweiht. Eva ist der Kopf der Entführung. Sie senkt ihre Stimme und sagt, in einer Viertelstunde ginge es los. Ich müsse dann ein bisschen wegschauen.
Wiewas wegschauen?
Sie lacht mich aus, das ist so.
Alles ist immer so. Ich bin der Brautbeschützer und nun sagt man mir, in jenem kurzen Augenblick, in dem ich meiner Pflicht als Brautführer nachkommen muss, einfach wegzuschauen.
Ich bin stinkig. Ich gehe zu den Männern. Sie wissen auch nicht so genau, wie mit der Situation umzugehen sei. Sie kennen aber die Regeln.
Was ich mir diesmal merke: Es geht eigentlich nur um den Brautstrauß.
Eine Braut ohne ihren Strauß ist praktisch wertlos. Ich bin erleichtert.
Ich kann mich erinnern, dass die Bewachung des Brautstraußes zu den der drei wichtigen Regeln gehörte.
Weil sich alle an der Schnapsbar und in der Raucherecke tummeln, betrete ich den leeren Speisesaal und im leeren Speisesaal sehe ich den Brautstrauß auf dem Tisch liegen. Kurz überfliegt mich ein Schuldgefühl: der Brautstrauß, Du hast den Brautstrauß aus den Augen verloren. Doch der Überflug ist von kurzer Dauer, ich lasse den Brautstrauß hinter der Gardine verschwinden.
Danach bestelle ich an der Bar einen Verdauungsschnaps.
Beim zweiten Verdauungsschnaps betritt meine Mutter das Wirtshaus und verkündet stolz, die Braut sei entführt. Eigentlich hatte ich erwartet, dass die Frauen aufgeregt den Strauss suchen. Die siegessichere Verkündung meiner Mutter überrascht mich allerdings. Daher checke ich im Speisesaal die Gardinen. Die Brautstrauss ist nicht mehr da. Ich rufe den Bräutigam und seinen Zeugen. Wir müssen los. Doch die anderen Männer weisen mich an, mich zu setzen. Man müsse ihnen eine Viertelstunde Vorsprung geben.
Eine Viertelstunde Vorsprung?
Ja, eine Viertelstunde Vorsprung.
Ich lasse mir wieder von den Männern die Regeln erklären.
Was ich mir merke: Das müsse so sein.
Ich schaue aus dem Fenster und sehe einen Konvoi mit weißen Blumen und Schleifen auf den Autos vorbeirasen.
Mein Vater springt aufgeregt von der Terrasse in den Schankraum: sie sind Richtung Andrian gefahren!
Er ist aufgeregt wie ein Zwanzigjähriger. Er will wissen, wer mich fährt, und erwähnt, wie lächerlich das sei, ein Brautführer ohne Führerschein, was für eine lächerliche Brautentführung. Er schüttelt den Kopf. Ich antworte ihm, der Trauzeuge des Bräutigams würde fahren und der Bräutigam käme mit.
Das ginge ja gar nicht, sagt Vater. Der Bräutigam hat bei der Entführung nichts zu suchen. Der muss warten bis ihm die Braut gebracht werde, basta.
Dem Bräutigam scheint diese Idee zu gefallen. Ich beobachte wie mein Vater geschickt meinen mühsam aufgebauten Rettungstrupp demontiert. Seine jugendliche Aufgeregtheit läßt mich schlimmes ahnen. Er fragt den Trauzeugen nach seinem Auto. Dieser nennt den Hersteller.
Langsame Blechbüchse, sagt mein Vater, damit kommt man doch nirgendwo hin.
Er fuchtelt mit den Händen und sagt: Komm Sohn, ich fahr dich.
Mir graut es. Ich hebe meinen Arm, um dem Trauzeugen feierlich auf die Schulter klopfend zu sagen: Neinnein, wir beide machen das schon.
Doch als ich dazu ansetzen will, strahlt dieser erfreut und sagt, das sei schön, dann könne er ja noch einen Schnaps trinken.
Also formt mein Vater das Team. Ich soll die Rechnungen bezahlen und Marco, der Freund meiner anderen Schwester soll mitfahren. Aufs Auto aufpassen oderso. Marco, Sizilianer, spricht kein einziges Wort deutsch, sagt sicherheitshalber: Ja.
Der kleine Jakob ruft aufgeregt: darfichauchmitdarfichauchmit?
Dann ist die Vorsprungsviertelstunde auch schon vorbei und wir steigen in Vaters Auto. Er tritt aufs Gaspedal und wir quietschen in Richtung Andrian. In Andrian gibt es das Wirtshaus “Zum Schwarzen Adler”, dort wo wir uns nachher zum Kuchenschneiden und Schnapstrinken treffen sollen. Der Bräutigam und die anderen Männer, würden uns später dort erwarten. Die Männer scheinen sich nicht sonderlich für die entführte Braut zu interessieren. Sie nippen am Bier.
Mein Vater trägt einen großen, schwarzen Hut. Das sieht bei ihm total daneben aus. Er flucht über die Entführerinnen: keine Anhaltspunkte haben sie gegeben… was für eine dämliche Entführung… die können jetzt ja überall sein… ja gar bis nach Bozen gefahren… Na-Na… die sollen es sein lassen, wenn sie nicht wissen wie das geht…
Ich sage, der Hut sähe komisch aus. Er hört es nicht. Und dann tritt er auf die Bremse.
Am Ortsausgang steht ein Gasthaus, ich muss hineingehen und fragen ob die Braut dagewesen sei. Der kleine Jakob ist schon aus dem Auto gesprungen und wartet auf mich bei der Gasthaustür. Ich steige aus, fühle mich ein wenig seltsam mit meiner Blume am Revers und betrete das Gasthaus. Jakob folgt mir. Am Tresen stehen ein gutes Dutzend halbleerer Sekt- und Schnapsgläser. Die Wirtsfrau kommt, lächelt müde und sagt zu mir: das macht einundvierzig Euro. Und fügt hinzu: ich müsse alle halbleeren Gläser austrinken bevor ich weiter dürfe. Das habe sie als Auftrag bekommen. Austrinken ist leicht. Der kleine Jakob ist sieben und fragt mich ob er die Sektgläser mit austrinken darf. Seine Mutter gehört zu den Entführerinnen. Deshalb sage ich: ja.
Zurück im Auto fragt mein Vater als erstes ob sie einen Tipp hinterlassen haben. Ich sage: Nein. Ich sage das, weil ich keine Lust habe noch einmal hineinzugehen.
Er schimpft wieder über die miserable Qualität der Entführung und gibt Gas. Wir lassen Nals hinter uns und jagen mit dem Wagen die Kurven ins Tal hinunter Richtung Andrian.
Mitten im Wald kommt eine Kreuzung. Er fragt mich, links oder rechts? Ich sage links und er fährt rechts. Ich frage ihn, wo er den Hut eigentlich her habe.
In einer Kurve stehen drei vier Häuser. Eines davon ist ein Gasthaus. Der kleine Jakob aufgeregt von hinten: Hierhier, Evas Astra!
Ich weiß nicht, wie ein Astra aussieht, aber auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus stehen mehrere Autos mit weißen Blumen und Schleifen an der Scheibe. Mein Vater ruft: Volltreffer!
Ich steige aus, Vater steigt aus und der kleine Jakob rennt zur Gasthaustür. Marco bleibt im Wagen. Er schaut auf die schönen Lichter im Tal.
Das Gasthaus ist voll. Ganz hinten sehe ich die bekannten Gesichter der Damen aus der Brautgesellschaft. Ich drängle mich durch die Menschenmassen an der Bar und plötzlich gibt es einen lauten Aufschrei. Ein Sektglas geht zu Bruch. Das Entführungskommando rennt auf mich zu und hält mich fest. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll, als ich aber meine Schwester sehe, die Braut also, bin ich ziemlich glücklich und rufe: Schwester! Hier bin ich! Ich komme! Halte durch!
Doch meine Schwester schaut mich entsetzt an und ruft dem Entführungskommando zu: Kommt Mädls! Folgt mir! Durch die Küche!
Wie eine Seppelwurzel bleibe ich stehen. Ich schaue dem Frauenhaufen zu, wie er sich hinter die Bar drängt und mit lautem Getöse in der Küche verschwindet. Die Gäste an der Bar sind amüsiert und Jakob zieht an meiner Krawatte. Was los sei, will er wissen. Ich bin der Böse, sage ich. Jakob grinst breit und sagt begeistert: Ja. Und ich bin auch böse.
Draußen herrscht große Aufregung. Mein Vater liegt bäuchlings auf der Motorhaube eines gasgebenden Autos und schreit: Wo ist die Braut?
Weiter hinten auf dem Parkplatz jagen vier Autos mit Blumen und Schleifen an der Scheibe in Richtung Parkplatzausgang. Marco kurbelt die Scheibe herunter und zeigt auf die jagenden Autos. Er ruft: La! La! Le macchine!
Mein Vater lässt das Auto los und sprintet zu seinem eigenen Auto. Jakob springt dazu. Bei mir dauert es ein bisschen länger. Mein Vater schreit.
Wieder im Auto sage ich zu meinem Vater, dass mir sein Hut scheißegal ist. Er beschwert sich, dass wir jetzt wieder nicht wissen, wo sie hingefahren sind. Wir fahren erst in Richtung Andrian weiter, nach einigen Weggabelungen beschließen wir links nach Lana zu fahren, doch dann merken wir, dass Lana zu weit ist und wir kurven dann wieder mit mörderischem Tempo durch die Apfelwiesen Richtung Andrian. Ich sage zu meinem Vater, dass wir aber schon ein bisschen schnell unterwegs seien. Und er sagt, ich solle die Frauen (Scheißweiber, die sollen das Entführen sein lassen wenn sie nicht wissen wie das geht) anrufen, weil sie uns schon wieder keinen Tipp hinterlassen haben. Bevor ich ihn nach seinem Mobiltelefon fragen kann, nimmt er es selbst in die Hand und wählt die Nummer meiner Schwester.
“(Ma porcohittneini) Wo seid ihr denn? (…) Blauer Kirchturm (…) aha (…)”
Er legt wieder auf und sagt: Ein blauer Kirchturm, sie sind in Vilpian.
Ich sage, Terlan habe aber auch einen blauen Kirchturm, und übrigens, der in Vilpian sei doch eher gräulich.
Wir fahren natürlich nach Vilpian, ans andere Ende der Talsohle. Das Etschtal ist kein typisches Alpental. Das Etschtal ist sozusagen eine weite Ebene mit steilen Wänden an den Seiten. Und dazwischendrin eine Art Autobahn, eine Zugstrecke und unzählige zwei Meter breite Asphaltstraßen die die Apfelwiesen durchschneiden. Wir durchschneiden die Apfelwiesen bei Tempo achtzig während mein Vater telefoniert. Ich fange wieder an, seinen Hut daneben zu finden.
In Vilpian gibt es weit und breit keinen Hochzeitskonvoi, also fahren wir in Richtung Süden nach Terlan. In Terlan, auf dem Dorfplatz vor dem bläulichen Kirchturm stehen mehrere blumenverzierte Autos. Alle steigen aus, sogar Marco. Ich bleibe kurz sitzen, erinnere mich aber daran, dass jemand die Rechnung bezahlen muss, nein, nicht jemand, sondern ich, und steige auch aus. Ich latsche über den Platz am Glühweinstand vorbei zum Gasthaus. Am Glühweinstand verrät mich meine Blume am Revers. Die Leute lachen und prosten mir zu. Das ganze Dorf weiß Bescheid.
Ich betrete das Gasthaus, die Gäste machen mir Platz. Das Entführungskommando wurde natürlich längst von meinen männlichen Begleitern verscheucht. Ich gehe zum Tresen und frage nach der Rechnung. Ich setze mich hin, schaue ein wenig betrübt und bestelle einen Schnaps dazu. Die Wirtin lächelt, sagt, dreiundvierzig Euro und fragt, ob ich der Bräutigam sei. Ich nicke, stelle dann aber fest, dass ich nicht der Bräutigam bin sondern der Brautführer, korrigiere mein Nicken und frage ob sie mir den Schnaps doppelt machen könne. Sie macht ihn doppelt und sagt: der geht aufs Haus.
Dann verlasse ich das Gasthaus und auf dem Platz rennt mir der kleine Jakob in die Arme: Wo! bleibst! du! denn!
Dann sehe ich meinen Vater mit mörderischem Tempo quer über den Platz fahren. Der Platz der eigentlich Fußgängern vorenthalten ist. Vor uns hält er und schreit: Wo! bleibst! du! denn!
Ich steige ein. Die Frauen seien vorne links abgebogen, sie seien also unterwegs nach Andrian. Andrian ist gut, denke ich, das Endziel sozusagen. Ich drehe mich zu Marco um und frage ihn auf italienisch, ob er den Hut meines Vaters auch albern fände. Er sagt: Si. Das freut mich.
Die Äpfelbäume verschwimmen bei hoher Geschwindigkeit zu einer grauen Wand. Ich mag das. Es erinnert mich an früher, als es immer so viel geschneit hat, als an der Straße immer die hohen schmutzigweißen Schneewände standen.
Kurz vor Andrian tritt mein Vater voll in die Bremse. Es quietscht. Und als wir stillstehen, stehen wir quer vor einem Parkplatzausgang. Der Parkplatz gehört zu einem Wirtshaus. Mein Vater hat sehr geschickt gebremst, da der Ausgang der einzige Ausgang ist, kann niemand mehr raus. Das Entführungskomitee samt Braut ist sozusagen gefangen. Sozusagen nur. Weil eines der Entführerautos die Situation sofort erkannt hat und dabei ist das eingemauerte Blumenbeet, das den Parkplatz auf der hinteren Seite von der Straße abschneidet, umzufahren. Der kleine Jakob wirft sich auf ein willkürliches Entführerauto, mein Vater versucht das flüchtende Auto aufzuhalten und Marco läuft den Parkplatz ab.
Ich reiße die erste Wagentür auf. Es sind Sabine und ein paar andere Frauen. Wertlos.
Doch beim nächsten Wagen habe ich Erfolg. Es ist Evas Auto und die Braut sitzt drin. Der gesamte Wageninhalt schreit auf. Da die Braut hinten sitzt und die hinteren Türen verschlossen sind, tauche ich vorne über die Eva in den Wagen ein und greife nach der Braut.
Sie schreit Vokale. Später fügt sie den Vokalen Konsonanten hinzu und plötzlich verstehe ich, was sie zu sagen versucht: sie habe den Strauß gar nicht.
Ich überprüfe sie und stelle fest, dass sie die Wahrheit spricht.
Die Braut ohne ihren Strauß, auf diese Situation bin ich nicht vorbereitet. Ich liege wie ein Torpedo in einem Auto, quer über verschiedene Menschen hinweg, halte die Braut fest und realisiere, dass ich eigentlich gar nicht die Braut brauche, sondern den Strauß. Ich frage, ob das die Regeln sind, woraufhin mir die anwesenden Frauen die Regeln erklären.
Was ich mir merke: die Braut ist gar nicht so wichtig.
Dämlicherweise wusste ich das eigentlich schon, somit überlege ich, was nun am besten zu tun sei. Dann fällt mir auf, dass ich ziemlich unbequem liege, also kämpfe ich mich wieder nach draußen. Eva ist erleichtert.
Dann weiß ich nicht genau was geschieht. Was ich registriere, ist Sabine, die versucht Vaters Auto aus der Auffahrt wegzufahren, weil mein Vater die Schlüssel stecken lassen hat und gerade auf der Motorhaube eines anderen Autos liegt. Marco hindert Sabine daran, das Auto von der Einfahrt wegzuparken.
Die Mutter des Bräutigams rennt von einem Auto über den Parkplatz zu einem anderen Auto und hat eine dicke Beule unter ihrem Kleid was verdächtig nach einem versteckten Brautstrauß aussieht. Und Vater liegt später auf der Motorhaube eines anderen Autos.
Als ich wieder koordinierter wahrnehmen kann, steht der kleine Jakob vor mir. Er hält mir grinsend den Brautstrauß entgegen und sagt: jetzt noch die Braut.
Die Braut ist einfach. Der Beifahrersitz im Auto der Braut ist aus irgendeinem Grund frei, ich setze mich hinein und sage der Fahrerin sie solle nun zum Schwarzen Adler fahren. Der Bräutigam warte. Ich hebe den Strauß und alles verstummt. Der kleine Jakob ruft mein Team zusammen und alles scheint sich zum Ende zu neigen. Ich habe es geschafft und die Öffentlichkeit nimmt daran teil. Schön ist das. Ich muß allerdings dreimal wiederholen, dass die Fahrerin jetzt losfahren solle, bis sie mich endlich ernst nimmt.
Irgendwie scheint jetzt alles ruhig geworden zu sein. Die Braut ist unter Dach und Fach, wir sind auf dem Weg zum Bräutigam und es hat keine Toten gegeben. Die Entführung hat ein gutes Ende genommen. Doch dann geschieht die Katastrophe. Die Katastrophe für meine Ehre jedenfalls.
Wir kommen endlich beim Schwarzen Adler an. Auf dem Parkplatz halten wir. Neben uns parkt Sabine. Die Braut steigt aus — und steigt in Sabines Wagen wieder ein. Sabines Auto brummt laut auf und fährt los, talabwärts.
Bevor ich das alles richtig verstanden habe, startet auch Eva den Wagen und fährt los. Jedoch talaufwärts.
So sitze ich in Evas Wagen, hinten lachen die Frauen, und ich versuche vorsichtig ein Bild dieser neuen Situation zu formen. Die erste Sache ist klar, die Braut ist wieder weg. Die zweite Sache ist schwieriger zu verstehen, deshalb frage ich bei Eva nach. Ob sie jetzt umkehren würde und der Braut nachfahre, wenn ich es ihr befehle. Sie prustet und schüttelt den Kopf. Sie fährt achtzig. Den Berg hoch.
Ich bin also ein Gefangener. Ich wäre lieber eine Geisel.
Wir sind schon ein ganzes Stück gefahren, mir fällt keine neue Taktik ein. Es ist nicht einfach, die Aussicht hier oben ist schön, man kann fast das ganze obere Etschtal überblicken, zudem läuft im Radio Schrammelmusik. Doch dann bittet mich Eva, kurz das Lenkrad festzuhalten, sie müsse ihre Jacke ausziehen. Nichts lieber als das, und hier wittere ich meine Chance, ein bisschen Macht über mein eigenes Schicksal wiederzuerlangen. Doch ich traue mich nicht, gefährliche Manöver mit dem Lenkrad zu vollbringen, ich bin ein miserabler Autofahrer.
Doch das bessere Erpressungsmittel bietet sich gleich, als Eva mir verächtlich ihre Jacke auf meinen Schoß wirft.
Sie kehrt abrupt um. Und sie schreit, da sei ihr Handy drin, da sei ihr Geld drin, während ich die Jacke aus dem Fenster halte. Und ziemlich grinse.
Wieder zurück beim Schwarzen Adler befehle ich der Fahrerin anzuhalten. Sie gehorcht. Ich halte den Strauß hoch und sage, dass ich den Strauß habe und ich jetzt reinginge, zum Bräutigam, um ihm den Strauß zu überreichen. Ein bisschen merkwürdig scheint mir das schon, so will er doch die Braut haben und nicht ihren Strauß, aber ging es nicht letztendlich um den Strauß?
Ich lasse mir wieder die Regeln erklären.
Was ich mir diesmal merke: Braut und Strauß sind mir wurscht.
Mit dem zerfledderten Brautstrauß betrete ich das Lokal. Die Männer stehen an der Bar und prosten mir lachend zu (Ein Prosit auf den entführten Brautführer!), ich beschließe sie zu ignorieren, gehe in die Wirtsstube und sehe das glückliche Brautpaar. Die Braut sitzt mit einem strahlenden Lächeln bei ihrem Bräutigam.
Ich setze mich neben sie und verschränke die Arme. Ich bekomme ein Bier.
Nachher kommt mein Vater rein. Die Braut sagt zu mir: Sieht unmöglich aus, der Hut, gell?
[Notiz für unter die Krawatte]
Ein Brautführer hat drei Aufgaben:
1) Ein Auge auf den Brautstrauß werfen. Das heißt, Dein ganzes Herz und Deinen ganzen Einsatz dem Brautstrauß widmen, nämlich dafür zu sorgen, dass die Braut den ganzen Tag den Brautstrauß bei sich behält. Verlöre sie diesen, dann geräte er womöglich auf Abwegen und abends beim Straußwurf nicht in die Hände der dafür prädestinierten, heiratswilligen Jungfer.
Das muss so sein. (Hat man Dir gesagt)
Und verliert die Braut ihren Strauß, verliert der Führer seinen Kopf. (Man hat es Dir dreimal gesagt)
2) Die Braut bewachen. Weitaus wertvoller als der Strauß, ist natürlich die Braut selbst. Auch die kann auf Abwege geraten. Vor allem wenn die Braut Deine Schwester ist. Als ihr klein wart und Du auf sie aufpassen musstest, dann hast Du sie manchmal in ihr Zimmer eingesperrt. Das geht am Samstag natürlich nicht. Erstens tun Dir die Einsperraktionen von damals leid, zweitens stehen auf dem Terminplan aber wirklich spannende Sachen wie: Drei Stunden bei der Frisörin Irene, drei Stunden im Schminksalon von Nanna, und wegschauen beim Umziehen.
Du weißt schon was dem Brautführer passiert wenn der Strauß flöten geht. Sie (das Organisationskomittee) wissen aber noch nicht was sie Dir bei Abhandenkommen der Braut abhacken werden. (Sie haben dabei gelacht, sei auf der Hut!)
2a) Falls Dir die Braut abhanden kommt: Sabine anrufen. Du hast keinen Führerschein und in Südtirol gibt es keine Ubahnen. Sabine magst Du, zudem kann sie schnell bergauf und bergunter fahren.
3) Die Braut dem Bräutigam übergeben. Komm Mek, das kannst Du.
—
Eine Ära geht zu ende, die Blätter fallen von den Bäumen, und plötzlich wird mir mulmig zumute, aber man kann nicht ewig jung bleiben: Nebst Brautführer, werde ich Onkel und Schwager werden.
Heimat, ich komme.
oh.
Ich war kurz Schuhe kaufen. Bin aber immer noch hier.
Nächsten Dienstag lese ich übrigens auf der Lesebühne Die Lautmalerei, in der Christinenstrasse. Das wird sicherlich nett, auch wenn ich mich ein wenig unwohl fühle dabei, so war ich doch froh, endlich einmal von einer Lesebühne gehört zu haben, bei der die Frauenquote weit über dem Durchschnitt der ziemlich männerlastigen Berliner Bühnen liegt. Ich senke diese Quote ungerne, auch wenn ich vielleicht die Ausländerquote erhöhe, aber diese Bühne klingt toll, zudem bin ich Gast und ich nehme selbstredend dankend an.
Und sonst mache ich gerade etwas mit Geschichten, zwölf Geschichten über Regen und neun Geschichten über Staub. Mir scheint als gäbe es etwas wegzuspülen. Eine dieser Regengeschichten passt auf die Bühne. Und später vielleicht ins Blog. Wenn ich sie bis Dienstag fertig geschrieben habe, dann lese ich diese vor. Sollte ich es nicht schaffen, dann mache ich Staub, und lese etwas älteres.
ver punkt di
Sie sehen aus wie die Spielkartenarmee der Herzkönigin. Nicht nur weil sie ein wenig verwirrt wirken, weil ihnen vielleicht ein fähiger Caporal entbehrt, sondern weil sie in diesen übergestülpten eckigen Ver.di-Tüten watscheln. Watschelwatschel, wie eine riesige, schnatternde Entenkolonie. Dass sie auf Trillerpfeifen ohne Triller pfeifen macht das Entenbild nur vollständiger.
Wie ich es hasse was ich gerade tue, hätte ich doch niemals gedacht jemals ein böses Wort über Streikende fallenzulassen. Ist mir doch jedes Streikmittel recht, finde ich doch jammern über Zugausfälle kleinlich, engstirnig, medikamentös behandelbar. Die Bosse haben gelernt und warten. Warten auf verärgerte Kundschaft, und der Ärger läßt sich in Zeiten der Globalisierung, in Zeiten in denen wir alle ein bisschen teilen sollen, nett sein müssen zueinander, schlichtweg weiterleiten an die faulen Schweine die immer mehr wollen und irgendwann die Firma ruinieren anstatt sich ans Fließband zu setzen. Und da bleibt der Ärger dann hängen. An übergestülpten Plastiktüten womöglich weniger, wer weiß.
Und dem schwitzenden, um seine Firma und persönlichen Ruin bangenden Capo, der sich in den Tagesmeldungen den Fragen stellt, bringt man dann ein bisschen Mitleid entgegen. Ist ja schlecht für den Magen, wenn man so ungesund aussieht, weil die Leute immer alles wollen.
Und dann Streikende in Deutschland. Ich bin wirklich der letzte der ein schlechtes Wort über dieses Land verlieren will, zumal es die Deutschen selbst schon bis zur Peinlichkeit hin tun, und ich bin gerade dabei dieses Land als Land richtig gerne zu mögen, so gerne wie man ein Land eben mögen kann, Aber Streikende in Deutschland – das geht so nicht.
Eine trillerlos pfeifende Spielkartenarmee im Watschelwatschel-Schritt, bei der ich vergeblich nach Inhalten (jaja) suche. Alles was lesbar ist sind Ver-Punkt-Di-Schriftzüge auf Fahnen, Ver-Punkt-Di auf Tshirts und Ver-Punkt-Di auf den Uniformen der Spielkartenarmee. Man wird den Eindruck einer Marketingaktion nicht los. Mit Werbemitteln finanziert. Der folgende Umzug wird Ihnen präsentiert. Von.
Und dabei nervt es mich natürlich nicht, dass ich mich nicht zwischen den Termen Spielkartenarmee und Entenkolonie entscheiden mag, sondern dass ich ein wenig Mitleid bekomme, und mir denke, Himmel, nehmt sie von der Straße, gebt ihnen alles was sie fragen.
Aber vielleicht ist das die neue Arbeitskampfstrategie.
moby
Es war wieder wie damals, als wäre ich ein kleiner Junge gewesen. Slalom. In weiten Kurven den Berg hinunter. Nur ging es diesmal nicht ganz so schnell vonstatten, schließlich führte der Weg bergaufwärts, und ich auf zwei Rädern, und Berlin schaukelte um mich herum wie ein stürmischer Atlantik voller Mobydicks, im Dreivierteltakt, weil es das war, diese Melodie, dieses Lied das ich komponierte, nachdem ich mich auf das rettende Fahrrad gesetzt hatte und darüber so froh war, weil ich gehen nicht mehr konnte, aber auf das Fahrrad, wie immer, Verlass war, und so war ich dermaßen glücklich darüber, dass die schwankende Stadt direkt in meinen Kopf überschwappte und ich von dem Augenblick an diese Melodie summte und mich darüber freute, welch schöne Melodien ich auf dem Fahrrad immer wieder komponiere, und weil das Lied so ging: Damm, da-daaa, dadadammm, dam-daaa, und dann ein Zwirbel und dann wieder damm, dam-daa, und bald summte ich nicht nur, sondern sang es erst leise, dann lauter, damm, dam-daa, im Slalom, Slalom Super-G, und die Autos hupten im Takt, einzweidrei-
Nur den Prenzlauer Berg hoch, am Anfang der Prenzlauer Allee, dort ist es ein wenig steil, die Luft blieb mir weg. Ich musste improvisieren, dichten zum Beispiel, sodann schlug es, mein dichterisches Herz:
Tropf zweidrei
auf unergründeten Wogen
Kopf entzwei
doch Herz hängt hoch droben im Bogen
Eine halbe Weltumsegelung später erreichte ich meine Haustür, doch die Musik schwankte in mir, und ich war noch nicht einmal bei der zweiten Strophe angelangt, da mir die erste dermaßen gut gefiel, dass ich sie wiederholte und wiederholte, so winkte ich, schönes Haus bist Du, und fuhr daran vorbei, doch tat es mir fast ein wenig leid, es in diesem Zustand zu hinterlassen, darum hing ich dieser Trauer unmittelbar eine zweifelnde Frage an: welchen Zustand?, so dachte ich, steht es doch tageintagaus seit nunmehr hundert Jahren so desolat herum, und ich sah auch gleich ein, dass es bedeutend schlimmere Zeiten hinter sich hatte, Zeiten von Kälte, oder als die Russen sich durch die Straße bombten, doch sieht mein Haus immer ein bisschen traurig aus, womöglich liegt es an der Nase, oder den hängenden Lidern der obersten Fenster, oder diesem immer ein wenig nach Hilfeschrei geöffneten Mund, ich weiß es nicht genau, ich dachte mir Mekmek, Du mußt jetzt Deinen Weg gehen, stark sein nennt man das manchmal, und ich tat es, war stark, fuhr weiter, Slalom Aleikhum nach Weißensee, bis ich dann einen Walzer und eine Ballade später arg verfahren zwischen all den Mobydicks im schwankenden Berlin den Notruf betätigte. Maydaymayday, ze ship is zinking. Man will nicht wissen was es dachte.
Lieber Merlix,
allererstens danke für Deine Mail, sie hat mich sehr gefreut, ist es doch lange her, dass wir voneinander gehört haben. Zudem muß ich wirklich sagen, die letzten drei Monate fühlen sich an, als wäre eine ganze Ewigkeit an mir vorübergezogen. Und da siehst Du mal wie mir die Zeit davonläuft: es waren nicht drei Monate, sondern gleich ganze vier.
Du und die anderen, wie Du sie nennst selection of fine Hamburg Bloggers, standen also an der Alster und fragten sich wie es mir so geht, was ich so tue. Das freut mich natürlich. Damit will ich sagen, es freut mich, dass ihr an mich gedacht hat, nicht, dass ihr mich vermisst, weil vermissen ist schlecht für den Magen, und wenn es nicht gerade notwendig ist, spart man sich das Vermissen besser auf, es kommen noch genug Momente an denen das Vermissen richtig böse wird.
Also will ich Dir ein bisschen erzählen.
Das Einleben in Berlin war bisher ganz OK, einige Berliner kannte ich schließlich schon, meist die Leute aus dem Internet, und mit einigen wenigen verbindet mich sogar eine Art Freundschaft. Mit diesen verabrede ich mich ab und zu, zum Trinken, zum Essen oder gar zum Feiern. Es ist noch alles ein wenig, wie soll ich sagen, lauwarm vielleicht, weil man sich zum Wärmen erstmal ein bisschen reiben muss, und damit meine ich jetzt nicht notwendigerweise Streitereien oder Auseinandersetzungen, sondern das Schunkeln im Bierzelt. Oderso. Aber das ist ja immer so. Das mit dem Wärmen. Ich glaube ich mag das schon, es ist ja wie wenn man morgens in der Kälte das Auto wärmen muss, das hat auch etwas anregendes. Vermutlich ziehe ich deshalb so häufig um. Ich besitze ja kein Auto.
Mit der Wohnung habe ich Glück gehabt. Ein bisschen jedenfalls. Ich wohne etwas abseits. Auf dem Prenzlauer Berg zwar, aber da oben rechts, bei der S-Bahn Prenzlauer Allee, eine schöne und billige Altbauwohnung im Hinterhof, ich kann auf die Gleise schauen und nachts beim Einschlafen höre ich das erotische flirren (?) von Metallrädern auf Metallschienen. Und ich schlafe dabei wie ein Engel. Das klingt jetzt nicht so als sei das wirklich abseits, aber doch, ist es schon, dort wo ich wohne läuft die Grenze zwischen Prenzlauer Berg und Russland. Und ich wohne auf der russischen Seite. Hier an der Grenze kleiden sich die Menschen schlecht, sitzen morgens mit einem Bier vor dem Asiaimbiss und wenn ich abends nachhause komme, sitzen sie immer noch da. Und Du weißt wie sehr mir schlechtgekleidete Menschen ein Gräuel sind. Mit dem Bier kann ich sympathisieren, aber diese Joggingshosen den ganzen Tag, ich weiß nicht, das macht doch das ganze Leben irgendwie Gummi.
Ich glaube wir hätten eine wahre Freude daran zusammen Menschen nachzugucken. Um ehrlich zu sein habe ich schon daran gedacht darauf zu warten bis wir beide ein bisschen älter sind, sagen wir 90, und uns dann auf eine Holzbank hier an die Straße zu setzen und den ganzen lieben langen Tag den Menschen nachschauen und von den alten Zeiten reden. Mit einer Flasche Rotwein meinetwegen und dann können wir ein bisschen staunen, wie jung die jungen Frauen doch geblieben sind.
Julietta wohnt ganz nahe. Ihre Wohnung ist etwa vier Minuten von meiner entfernt. Das erleichtert die Dinge. Wenn ich ihr beispielsweise den Bohrer vorbeibringen muss und dann in ihrer Wohnung merke, dass ich den Bohrer vergessen habe, ist der Weg zurück zu mir nur ein kurzer Weg. Wenn ich dann noch genau weiß wo in meiner Wohnung der Bohrer liegt, dann brauche ich genau 8 Minuten dafür. Hin und zurück.
Und wie sehr mich die Arbeit wieder freut. Du kannst Dich vielleicht daran erinnern in welchem Zwiespalt ich mich befand, wie es beruflich mit mir nun weitergehen solle, aber diese Bedenken sind vorbei, in meiner neuen Firma zu arbeiten macht wirklich Spaß. Wir haben dort einen Kicker stehen und ich habe anfangs immer gewonnen. Doch Du ahnst es, nicht umsonst benutze ich das wort anfangs. Aus unerklärlichen Gründen gelingen mir die Tore nicht mehr. Und mein Chef freut sich einen Ast ab. Jetzt gewinnt immer er. Schon acht spiele unbesiegt. Ich glaube das ist gut für das Arbeitsklima.
Mein Zwiespalt beruhte also nicht auf der Materie meiner Arbeit, sondern es lag vermutlich an meiner ehemaligen Fabrik. Kein Kicker dort. Ah ich hätte die eine oder andere Geschichte zu erzählen, aber das mache ich womöglich in meinem Blog, dann kommt da auch mal wieder etwas rein, ich vernachlässige es gerade ein wenig, wie Du sicherlich schon bemerkt hast.
Nicht, dass es nichts zu erzählen gäbe, es ist vielmehr, dass ich gerade all das nicht erzählen will, oder kann. Am liebsten sage ich immer ich hätte keine Zeit, das versteht jeder, Umzug undso, schwere Sache das, aber das sage ich nur weil es schön klingt, weil ich mir selbst dabei ein bisschen gefalle, ich bin ja so dick geworden, ich muss das kompensieren. Schon toll, bei Nachfrage immer erschöpft ausatmen und sich über die Stirn streifend sagen: puh, so wenig Zeit gerade. Und dabei ein bisschen tragisch gucken. In Wirklichkeit sitze ich jeden Abend am Rechner und tippe von zwanzig Uhr bis Mitternacht.
Im November kommt ein Freund aus Wien zu mir, bleibt einen Monat hier wohnen und dann schreiben wir ein Drehbuch. Ein Filmemacher aus Paris will einen südtiroler Heimatfilm drehen und wir sollen die Geschichte und die Dialoge dazu verfassen. Merkwürdig wird das werden, denke ich. Ich weiß nicht wie das gehen soll, nebeneinander am Rechner sitzen und tippen? Ich meine, man muss sich ja auch unterhalten, aber man kann sich doch nicht über etwas unterhalten, eine Geschichte ausspinnen und parallel dazu alles niederschreiben. Das sind ja zwei verschiedene Dimensionen, das Reden und das Schreiben. Drei Dimensionen eigentlich: das Ausspinnen noch dazu. Aber ich freue mich auf jeden Fall, mein Wiener Freund ist ein großartiger Koch, der besitzt sogar eine Küchenmaschine. Aber nicht, dass Du jetzt denkst, wow der Mek, Autoren und Regisseure aus Wien und Paris, fehlt nur noch die Hintertür zum Kulturministerium. Nein, mein Lieber, die beiden Burschen leben zwar in Wien und Paris, aber der eine kommt aus einem Kaff am Ende der Gaulschlucht und der andere ist unterm Haselberg aufgewachsen. Ich weiß, beide Orte sagen Dir nichts, aber das ist halt Südtirol.
Berlin ist übrigens toll. Für mich fühlt es sich so an als würde ich zu einer alten Liebe zurückkehren. Und Wenn Du mich einmal besuchen kommst, dann zeige ich Dir die traurigsten Ecken der Stadt. Ich beende diese Absatz jetzt, weil ich sonst ein bisschen schwärmerisch werde. Deshalb springe ich gleich ungekünstelt zum nächsten Thema und tue so, als sei das ein ganz neuer Absatz:
Dabei fällt mir ein, dass ich mich nach der spektakulären, oder sagen wir: tragischen Geburt Deines Sohnes gar nicht mehr bei Dir gemeldet habe. Was ein Glück. Die Geburt meine ich damit. Dass letztendlich doch alles gut ausgegangen ist. Ich wurde ein wenig unruhig als nach der Ankündigung der Geburt erstmal lange keine Neuigkeiten kamen. In jenen Tagen hatte ich Isa hier in Berlin getroffen, und Isa klang sehr besorgt, aber Du weißt ja wie Isa ist, die sorgt sich immer um alles. Deshalb habe ich es erstmal nicht als tragisch angesehen, ich muss ja meine Nerven schonen, da laß ich mich nicht von so einer Übersetzerin die Nerven aufrauhen. Auch wenn es die liebste Übersetzerin der Welt ist. Als dann jedoch die Neuigkeiten immer noch ausblieben, wurde ich schon unruhig, aber dann wollte ich Dich auch nicht mit meinen Sorgen nerven, weil ich bei Nachfragemails immer das Gefühl habe ich würde eine Antwort einfordern, wobei ich glaube, dass man (Du eben) in solchen Momenten am allerwenigsten daran denkt sich an den Rechner zu setzen und lauter Antworten zu tippen. Und Telefon! In solchen Momenten ist das Telefonieren noch schlimmer als jede liebste Übersetzerin der Welt. Das wollte ich erst recht nicht.
Letztens hatte ich übrigens Heimweh nach Hamburg. Julietta hatte eine CD von Studio Braun aufgelegt. Du kennst die vielleicht, das sind die Jungs aus dem Radio die immer so Anrufe tun. Ich höre mir das gerne an, weil ich mir dann immer denke, dass die Welt eigentlich schon OK ist. Aber einer dieser Anrufe hat mich mit Heimweh versorgt. Das war der Anruf bei dem sie bekiffte (jetzt hatte ich befikkte geschrieben) Hamburger Jungs nachgespielt haben und es war dieser eine Satz, als sie am Telefon erklärten was sie gerade machten, der so Hamburg war. Als sie sagten, sie säßen gerade an der Elbe, büschn Schiffe kukken. Das war schön. Das war Heimweh.
Aber jetzt habe ich schon viel geschrieben, habe mich ein bisschen verheddert, in vielen belanglose Kleinigkeiten. Dabei will ich ja wissen wie es Dir so geht, wie es Hamburg so geht. Vieles erfahre ich ja aus dem Blog, praktisch ist das.
Ich weiß noch nicht genau wann ich nach Hamburg komme, bestimmt noch dieses Jahr, ich werde mich melden, wir könnten einen Flammkuchen essen und Bier aus Flensburg trinken und uns zu den neuesten Büchern austauschen.
So, mein Lieber. Ich schließe jetzt ab. Grüß mir auch Deine Frau, die ich übrigens auch wiedermal sehen möchte, auch um mein Erinnerungsbild von ihr zu korrigieren. Ich habe sie immer noch mit diesem großen, kugelrunden Bauch im Gedächtnis, das dürfte sich jetzt ja verändert haben.
Grüß mir auch den Paulsen, den Großblogbaumeister, den Alexander und wenn Du sie siehst, die Lyssa. Die anderen, die mir jetzt gerade einfallen werde ich vermutlich selbst irgendwann zu Gesicht bekommen.
Sei gegrüßt,
allerherzlichstlich,
Dein Mek
recitativo nr.82
Das Blog ist aus dem Urlaub zurück. Darüber war ich so froh, dass ich mich gleich an den Schreibtisch setzte, seit langem wieder einmal das Mikrophon zur Hand nahm und Kid37’s Tango Mortale vorlas. Dazu spiele ich ein wenig auf der Ziehharmonika als wäre ich ein barfüßiger Junge der in einem Hauseingang der Boca sitzt und das Instrument seines Großvaters erlernt. Um diese Stimmung zu verstärken habe ich es in Unterhosen gespielt.
Drüben im Vorleseblog.
…
ein russischer Freund, der Punk, als wir gestern früh auf Stufen in der Danziger saßen und in die Morgensonne blinzelten und ich ihn fragte, womit er nun seine Brötchen verdiene, erwiderte, er hätte sich jetzt verkauft. Er würde Kritiken aus Finnland ins Russische übersetzen, er habe Urlaub nehmen müssen, um mit seiner Band in Deutschland zu spielen. Ah, sagte ich, Ausverkauf, weil sich für die Arbeiten, die wir erledigen, niemand finden lässt, der es umsonst tut. Sonst wäre sie ja schön, die Arbeit. Und so gäbe es jemanden, der es erledigt haben wolle, und jemanden, der dafür entlohne. Korrekt, sagte er, er wolle ja auch, dass das alles da draußen funktioniere. Die Geldautomaten, jemand, der das Bier zapfe, gar jemand, der es braue, und nicht zu vergessen: die U-Bahnen! Fuck the System, erinnerte ich ihn. Fuck the system, erinnerte er mich. Aber, eröffnete ich ihm, ich hätte ohnehin immer die Welt im Kopf gehabt, und legte nach: dass es Aufgaben zu erfüllen gebe. Das ganze Ding am Drehen zu halten. Er schaute mich an und sagte, ich hätte zu viel Nietzsche gelesen. Wie er darauf käme, fragte ich, ich mochte nur Zarathustra, und davon lediglich Richard Strauß‘ Ouvertüre. Das wäre ihm zu pompös, ihm läge mehr an Bach: kleine Ameisen, eifrig am Bauen, unbemerkt, das ganze Ding am Drehen halten. Mit System. Er vergäße die großen Gesten, warf ich ihm vor. Mit Pomp die Schlucker zu Königen. Und wer dann wohl die U-Bahnen baue, fragte […]