Vor fast dreissig Jahren arbeitete ich eine Zeit lang als Torwächter in einem niederländischen Schloss. Ich weiss wirklich nicht mehr, wie ich an jene Stelle kam. Ich war Anfang zwanzig, hatte keine Ausbildung, kein Abi. Nebst Häuser zu besetzen und Kurzgeschichten zu schreiben, wusste ich nicht so recht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Zuvor jobbte ich mehrere Monate in einer Tiefkühlzelle eines Grosshandelszentrums, aber davon rann mir ständig die Nase. Das konnte auf Dauer nicht gut für meine Gesundheit sein. Später trat ich eine Stelle als Käseschneider in einer Fabrik an. Ich schnitt 20Kg-Blöcke Fetakäse zu kleinen Würfeln, die ich dann mit Salzwasserlake in eine supermarktfertige Plastikdose legte, Datumsstempel aufklebte und ab damit auf die Europaletten. Wenn ich nicht Käse schnitt, dann füllte ich mittelgrosse Plastikdosen mit einer Zwiebelmarinade, die man im nächsten Verarbeitungsprozess mit Fetakäsestückchen ergänzte.
Abends ging ich in die Kneipen. Ab und zu nahm ich Speed. Schreiben war in diesem Zustand meist eher lähmend. Aber in Utrecht besetzten wir ständig Häuser. Ich war sehr gut darin, alte Türen aufzubrechen. Ansonsten war meine Existenz ziemlich inhaltlos. Mich für ein Studium oder eine Ausbildung aufzuraffen lag mir schlichtweg nicht, ich merkte aber auch, dass ich mit meinen Kurzgeschichten kein Geld verdienen würde. Klar könnte ich Glück haben, ein Buch zu schreiben, das sich millionenfach verkauft, aber ich wusste meine Chancen immer schon sehr gut einzuordnen.
Alternativ hätte ich mich abschiessen können. Das taten in meinem Umfeld eben viele. Also weitersaufen, Chemikalien nehmen und ein bisschen seinen Gang gehen. Manche nahmen sich später das Leben oder warteten bis das Leben sich ihrer nahm. Aber dafür war ich immer zu gut gelaunt. Das klingt komisch, aber ich war halt immer gut drauf, auch wenn ich bis 4 Uhr morgens betrunken in der besetzten Kneipe kellnerte, fuhr ich trotzdem um sieben Uhr in die Fabrik und schnitt acht Stunden lang Käse.
Von den Jobs konnte ich aber einigermassen okay leben. Wesentlich besser als die anderen Menschen um mich herum, die entweder von der Sozialhilfe zogen oder studierten. Irgendwann setzte ich mir schliesslich in den Kopf, dass ich Dudelsack spielen wollte, also kaufte ich mir einen Dudelsack. Das bereitete mir ziemlich lange viel Freude und so weckte ich meine alte Leidenschaft für Burgen und Mittelalter wieder auf. Als Kind war ich nämlich ein ausgesprochener Burgenkenner und wusste alles über alpenländische Burgenanlagen und die dazugehörige Geschichte. Vor allem über die Periode ab etwa 1100 bis zur Renaissance. Daran knüpfte ich mit meinem Dudelsack einfach wieder an. Der Dudelsack, den ich mir anschaffte, war keine schottische Bagpipe, sondern ein mitteleuropäisches, besser gesagt, an die Tradition Flanderns orientiertes, mittelalterliches Instrument. Die Dudelsäcke, wie man sie auch von den Gemälden Pieter Bruegels kennt. Das waren die Instrumente der Troubadoure bzw der Wandermusiker. Diese klangen wesentlich weicher, wobei auch diese natürlich sehr laut tönten, die Melodiepfeife eines Dudelsacks ist schliesslich eine Schalmei mit einem harten Doppelrohrblatt, sowas kann man gar nicht leise spielen.
Das muss der Link gewesen sein, warum ich an den Job in dem Schloss geriet. Ansonsten fällt mir kein vernünftiger Grund ein, warum ich Ausschau nach Arbeit in einem Schloss gehalten hätte. Nach einem Jahr in der Käsefabrik schmiss man mich nämlich wieder raus. Zuerst hatte man den Teamleiter gefeuert, dann machte man mich zum Teamleiter und irgendwann feuerte man eben mich. Ein paar Wochen später war ich Torwächter im Kasteel de Haar, westlich von Utrecht.
Kasteel de Haar ist eine romantisierte neogotische Burganlage, die um 1900 herum auf eine mittelalterliche Ruine aufgebaut wurde. Eigentlich verachtete ich solche romantisierten Schlösser, ich akzeptierte nur richtige Wehrburgen, aber man gab mir den Posten als Torwächter und daraufhin konnte ich mit dem Schloss ganz gut leben.
Mein kleines Torhäuschen stand etwas abseits vom Rest des Schlosses. Es befand sich einen knappen halben Kilometer Fussweg bis zum zum Hauptgebäude. Mein Torhäuschen war das Eingangstor zu allem. Zu den Ställen, zum Park, zur Kirche und natürlich zur Schlossanlage. Im Torgebäude sass ich also den ganzen Tag lang alleine und wartete auf Besucher. Ich verkaufte Tickets für den Park oder ein Kombiticket für Schloss und Park. Für das Schloss alleine konnte man keine Tickets kaufen, das ging nur als Kombiticket mit dem Park. Aber ich versicherte den Besuchern, dass der Park sehr schön sei, eine 55 Hektar grosse, gut gepflegte Anlage. Der Park kostete 5 Gulden, das Kombiticket mit Schloss, kostete 12 Gulden. Ich akzeptierte keine Karten, nur Bargeld, allerdings waren wir an das Museumjaarkaart-System angeschlossen. Es gab viele Leute, die mit dieser nationalen Jahreskarte für Museen zu uns kamen. Die Anzahl der Jahrkarten musste ich auf Papier notieren und am Abend der Schlossverwalterin mitteilen.
Die Saison ging von März bis November. Von März bis Mai war eigentlich nichts los. Ich hatte daher viel Zeit an meinem Roman zu schreiben. Das war eine etwas wilde und phantastische Geschichte über eine Person (ICH), die einen dritten Weltkrieg auslöst. Dafür hatte ich mir für 150 Gulden einen Laptop angeschafft. Der Laptop war so günstig, weil damals gerade Windows 95 herausgekommen war und jegliche Hardware, auf die kein Windows lief, geriet in einen rasanten Wertverfall. Mein Laptop konnte nur Wordperfect. Aber genau das brauchte ich, ich wollte endlich Texte direkt korrigieren können. Zuvor mit der Schreibmaschine musste ich die Fehler auf Papier korrigieren und anschliessend neu tippen, manchmal mehrmals. Das war eine furchtbare Arbeit.
Mein kleines Torhäuschen hatte einen kleinen, runden Raum mit verglasten Schiessscharten. Wenn ich in der Mitte dieses kleinen Raumes sass, hatte ich eine ziemlich gute Rundumsicht, ich stellte dort also meinen Schreibtisch hin, an jener Stelle sah ich rechtzeitig Besucher kommen und konnte mich daraufhin in mein Türchen setzen, wo ich die Tickets verkaufte.
Später fand ich es allerdings bequemer, mich in den dahinterliegenden Raum zu setzen. Das war ein grösserer Raum mit zwei grossen Fenstern links und rechts. Wenn ich am rechten Fenster sass, mit dem Blick zur Zugbrücke, hatte ich den perfekten Überblick auf ankommende Besucher. Von da aus sah ich sogar Autos vom Deich her kommen.
Das Torgebäude hatte auch ein Obergeschoss, das sich über eine sehr enge Wendeltreppe erreichen liess. Aber der Raum im Obergeschoss war leer und eher unspektakulär, ausserdem verfügte der Raum über weniger und kleinere Fenster, da oben fehlte mir schlicht die Übersicht. Später verwendete ich den Raum als Lager für die Kataloge, die ich ab Juni verkaufen sollte. Das waren kleine Hochglanzheftchen mit Fotos des Schlosses und begleitenden Texten, auf niederländisch, englisch und deutsch. Sie verkauften sich sehr gut. An meinem Türchen, an dem ich die Tickets verkaufte hing ein Bord, also eine verglaste Platte, auf der das Heftchen angepriesen wurde und jetzt wo ich an dieses Bord denke, fällt mir ein, dass ich auch Postkarten verkaufte, ich kann mich aber nicht mehr an die Motive und an die Preise erinnern. Ich weiss nur noch, dass ich morgens immer dieses Bord raushing und die Besucher immer danach fragten. Auch die Postkarten gingen gut weg, die machten aber immer Probleme mit dem Wechselgeld.
Mein sogenanntes Türchen an dem ich die Tickets verkaufte war die eigentliche Eingangstür zum Torhäuschen. Sie war in zwei Teile geteilt. Man konnte den oberen Teil öffnen, dann wurde der untere Teil wie eine kleine Verkaufsfläche. Das fand ich aber immer albern. Ich stand meistens als Ganzkörperperson in meiner Tür und plauderte mit den Leuten.
Früh im Jahr oder auch später im Jahr schloss ich allerdings beide Teile der Tür, weil sich das Torhäuschen dann doch etwas auskühlte.
Nach einigen Wochen, die ich da arbeitete und mich ein bisschen wohl fühlte, begann ich Dudelsack zu spielen. Ich hatte das siebenköpfige Verwaltungsteam nicht darüber informiert. Ich weiss bis heute nicht, ob die das gut fanden. Bei gutem Wetter sass ich mit einem Hocker auf der Zugbrücke und trötete auf diesem lauten Ding. Die Besucher fanden das phantastisch und fotografierten mich. Die Gärtner fanden das lustig und erzählten es vermutlich den anderen in der Verwaltung, diese fuhren dann mit dem Auto vor und taten, als würden sie ins Dorf fahren, grüssten, grinsten und kamen zehn Minuten später wieder zurück durch das Tor hinein. Das hatte ich alles durchschaut. Man liess mich aber walten.
Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, den Schlagbaum zu bedienen. Durch dieses Tor musste faktisch der gesamte Schlossverkehr hindurch. Das betraf das Verwaltungsteam, die beiden Gärtner, die Frewilligen Schlossführer und die Bewohner der Stallungen. Gleich hinter dem Tor links gab es ehemalige Stallungen, in denen drei Familien wohnten.
Eine Familie bestand aus einer älteren Frau, die nie mit mir sprach und einem Mann, der ab und zu vorbeikam und lauter zynische Dinge von sich gab. Seine beiden Söhne waren Gabber-Fans. Gabber war damals sehr populär, eine in Rotterdam entstandene Hardcore Techno Variante. Gabberfans erkannte man vor allem daran, dass sie aussahen wie Naziskinheads, also blasse Typen mit Glatze und Bomberjacke. Die beiden Jungs waren Gabbers wie aus dem Bilderbuch, zudem sahen sie sich ähnlich, beide bleich, pickelig, kahlgeschoren und mit Bomberjacke. Sie grüssten mich immer, hatten aber sonst nie viel zu erzählen.
Auch gab es ein älteres, kinderloses Ehepaar. Der Mann wirkte auf mich immer wie ein Lehrer und die Frau brachte mir manchmal Kuchen.
Und dann gab es noch die Hippiefamilie mit diesem wunderschönen Mädchen. Die Mutter war eine sehr freundliche Frau mit wallenden Batikkleidern und offenem Haar. Sie war immer sehr freundlich zu mir und wir plauderten oft. Sie war mit einem mürrischen Mann aus Sri Lanka zusammen und hatte zwei Töchter. Eine der Töchter war etwa achtzehn Jahre alt und die kleine Tochter war im Vorschulalter. Die Achtzehnjährige war unfassbar schön. Sie kam immer auf einem weissen Fahrrad über den Deich gefahren. Ihr Hautfarbe war dunkel, sie hatte Haare so schwarz wie Teer, Augen so schwarz wie die Nacht. Sie trug immer nur schwarze Kleidung, meist weite Röcke und lange Schals, die sich sich um den Oberkörper wickelte. Meist trug sie Stulpen aus schwarzer Spitze, den Lidstrich zog sie oft dick und fast bis zu den Schläfen. Ich wusste immer, wann sie von der Schule nach Hause kam. Ich stelle mich immer in den Torbogen und tat beschäftigt, damit ich sie grüssen konnte. Sie grüsste immer freundlich zurück.
Dann zeichnete ich sie. Ich kann gar nicht schlecht zeichnen, aber das ist kein Hobby, das ich gut gepflegt habe, es gelingt mir aber immer noch eine halbwegs gescheite Zeichnungen von Dingen anzufertigen. Ich zeichnete das Mädchen auf ihrem Fahrrad, wie sie mit ihrer wallenden fledermaus-artigen Erscheinung über die Hebebrücke fuhr. Die Zeichnung geriet etwas comichaft, aber sie war dennoch gut gelungen, wie ich fand. Darunter schrieb ich: Die Prinzessin auf dem weissen Fahrrad.
Als sie einmal von der Schule nach Hause kam, wartete ich auf sie im Torbogen und überreichte ihr das Bild. Ich war sehr aufgeregt. Sie vermutlich auch. Sie bedankte sich hastig und fuhr weiter um die Ecke zu den Stallungen.
Als sie am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, wartete ich nicht auf sie im Torbogen. Ich wusste jetzt nicht so recht, wie ich mich zu verhalten hatte. Als ich sie über den Deich heranfahren sah, blieb ich in meinem Zimmer sitzen und tat beschäftigt. Ich sah sie über die Brücke kommen und dann hörte ich sie im Torbogen bremsen. Sie rief etwas, das ich nicht verstand zu mir herein und fuhr weiter. Ich stand auf und lief zu meiner halb geöffneten Tür. Dort hatte sie ein Bild abgelegt. Ein mit Aquarell gemalenes Bild das ein Männergesicht darstellte. Kein Text, aber sehr kunstfertig, etwas düster und violett.
Mehr geschah zwischen uns nicht. Ich traute mich nie, sie anzusprechen.
Aber ich hatte einen grossen Mund als der Rattenfänger kam. Obwohl das ganze Gelände von Wasser umgeben und von Wasserkanälen durchzogen war, hatten wir im Schloss merkwürdigerweise selten Probleme mit Ratten. Aber einmal war etwas in einem Seitenflügel los. Ich weiss nicht genau, was los war, bezüglich der Angelegenheiten im Schloss liess man mich ziemlich aussen vor. Ich war nur dieser junge, etwas verrückte Torwächter mit dem Dudelsack, der weitab vom Schloss in seinem Torgebäude sass.
Jedenfalls Rattenalarm. Ich war ja für den Schlagbaum zuständig. Der Schlagbaum war kurz, er versperrte nur optisch den Weg, man konnte mit dem Auto daran vorbeifahren, aber das reichte aus um fremde Autos davon abzuhalten auf das Gelände zu fahren. Für Besucher gab es einen Parkplatz gegenüber meines Torgebäudes, der auch gut ausgeschildert war. Ich konnte den Schlagbaum allerdings mit einem einsteckbaren Aufsatz verlängern, damit kamen dann nur noch Fahrräder durch das Tor.
Den Aufsatz verwendete ich aber nur selten, damit ich nicht jedes Mal aufstehen musste, wenn die Gärtner oder die Menschen aus den Stallungen mit dem Auto durch das Tor fuhren. Da gab es nur einen Gruss durch das Fenster als sie über die Hebebrücke fuhren und sie fuhren um den verkürzten Schlagbaum herum.
Aber dann kam der Rattenfänger. Ich kannte den nicht und ich wurde auch nicht darüber informiert, dass er kommen würde. Normalerweise informierte man mich über ausserplanmässige Besuche per Funk oder per Telefon. Diesmal hatte man es vergessen. Und dann kam ein riesiges Auto über die Hebebrücke gefahren. Ich empfand das sofort als Übergriff, rannte hinaus und stellte mich dem Geländewagen breitbeinig in den Weg. Ich konnte durch die Windschutzscheibe die Umrisse eines Mannes erkennen, er trug einen Cowboyhut und liess den Motor aufheulen. Auf der Höhe meiner Brust, auf der Motorhaube des Geländewagens, lag eine nasse, tote Ratte. In jenem Moment spürte ich tausende Nervenenden in meinen Extremitäten. Ich fühlte mich wie eine Nebenfigur in einem schlechten Horrorfilm, die typischen Nebenfiguren die gleich sterben. Also schrie ich einfach drauflos, dass er mit seiner Dreckskarre sofort umdrehen müsse. Ich glaube, ich schimpfte noch eine ganze Weile. Inzwischen öffnete sich die Autotür und daraus stieg ein riesiger, grinsender Mann mit Zigarette und Cowboyhut aus.
Er tat gemächlich. Er redete beruhigend auf mich ein. So wie man beruhigend auf ein wildgewordenes Pferd einredet. Er sagte, er sei der Rattenfänger, man habe ihn gerufen.
Die Geschichte hat keine Pointe. Aber es sprach sich rum, dass ich etwas panisch geworden war.
Im September brach eine besondere Zeit an. Das Schloss und der Park sind im ganzen September für Besucher geschlossen. Das ist der Monat in dem der Besitzer des Schlosses darin wohnt, ein Baron aus Frankreich, ein Enkel der Helene de Rothschild, der ursprünglich das Schloss gehörte. Der Baron hält in jenem Monat Privatfeiern mit Menschen aus Politik und Wirtschaft. Als linksradikaler Hausbesetzer verachtete ich diese Zusammenkünfte natürlich. Aber die waren nur im September da, ich konnte das ganz pragmantisch ausblenden.
Eine Woche vor der Ankunft der Baronfamilie verschloss ich die Tore und ich wurde im Schloss gebraucht. Ich sollte helfen, das Silberbesteck zu polieren. Meine Eltern sind Rettungsfahrer und Bauernkinder, ich wusste nicht einmal, dass man Silberbesteck polieren musste. Es würde Festessen mit vielen Gästen geben, es wurden immer neue Kisten mit Silberbesteck angeschleppt, es fühlte sich an, als würden wir mehrere Tonnen Silber in Akkordarbeit polieren.
Als die Familie angekommen war, bestand meine Aufgabe vor allem darin, die Tore geschlossen zu halten und unangemeldete Besucher sowie Presse abzuwimmeln. Wenn die Baroness oder eine ihrer Töchter mit dem Fahrrad das Gelände verliessen oder wieder zurückkamen (das taten sie ständig), musste ich die schweren Tore öffnen und schliessen. Auch für alle Autofahrer, also das Personal und die Bewohner der Stallungen. Ich hasste das. Der Hippiefamilie war das unangenehm, dass ich jedes Mal aus meinem Türmchen gesprungen kam und ihnen das Tor öffnete. Für die Mutter und den Töchtern war das Tor aber schlichtweg zu schwer.
Ich bekam jeden Tag eine Liste der Besucher mit der geschätzten Ankunftszeit. Ab fünf Uhr abends ging es meistens los. Bei Ankunft an meinem Tor nannte mir der Fahrer den Namen der Insassen. Dann liess ich sie durchfahren. Die Besucher grüssten nie. Auch nicht jene Besucher die im Schloss nächtigten, wenn sie tagsüber mit dem Fahrrad durch das Tor fuhren. Nur die Baroness und ihre Töchter. Die grüssten immer. Und auch der Baron.
Wenn die Gäste aus England und Frankreich zu Besuch wareb, musste ich bis spät in die Nacht arbeiten um für jeden Besucher das Tor zu öffnen. Es wurde immer spät. Der erste Abschnitt meiner Heimfahrt führte durch den Wald. Mein Fahrrad hatte kein Licht, also fuhr ich mit einer Taschenlampe bewaffnet bis ins nächste Dorf und dann die etwa 11 Kilometer am beleuchteten Bahngleis entlang bis zurück in die Utrechter Innenstadt.
Ich hasste diese Zeit.
Allerdings hatte jene Zeit auch etwas Gutes. Der Baron reiste nämlich mit seinem eigenen Küchenteam an. Das Küchenteam bestand aus einem Starkoch (Namen vergessen) und 5 jungen Männern, die richtig gutes Essen zubereiteten. Und jeden Abend kam einer der jungen Köche auf dem Fahrrad den halben Kilometer zu dem Torgebäude gefahren um mir jungem Torwächter ein Abendmahl, bestehend aus Vorspeise, Hauptspeise und einem Dessert zu bringen.
Diese Buttermöhren. Ich musste beim Essen die Augen schliessen, so gut waren die.
Aber ich muss jetzt langsam abschliessen. Es ist bereits spät. Eigentlich wollte ich noch von diesem Liebespaar erzählen. Ich glaube sie waren beide mit zwei anderen Menschen verheiratet und trafen sich heimlich im Park des Schlosses. Sie kamen sicherlich zwei Mal die Woche. Sie kamen immer getrennt, mit ihren eigenen Autos. Beide wirkten etwas aristokratisch, konservativ gekleidet, aber freundlich. Die Frau trug immer eine grosse Sonnenbrille und stand etwas abseits, als der Mann die zwei Tickets erwarb. Nach einem langen Spaziergang kehrten sie zu ihren Autos zurück und fuhren wieder weg.
Und da gab es noch eine Versteigerung des Auktionshauses Christie’s. Der Baron liess hundert seiner Kunstwerke versteigern um eine Renovierung an den Fundamenten zu finanzieren. Das war für mich als Torwächter eine schlimme Zeit. Allerdings stellte man mir einen pensionierten Ex-Polizisten zur Seite um mit dem Besucheransturm fertig zu werden. Der Mann und ich wurden nie sehr miteinander warm. Aber ich weiss auch nicht mehr genau warum.
Während ich diese Zeilen aufschreibe, googelte ich auch verschiedene, vergessene Fakten, damit ich keinen Scheiss erzähle. Ich stelle fest, dass der Baron mittlerweile verstorben ist und das Schloss in eine Stiftung übergegangen ist. Mein Torgebäude ist jetzt ein buchbarer Meetingraum für 2-8 Personen geworden und das grosse Fenster hinter dem ich sass, gibt es nicht mehr. Es wurde schlichtweg zugemauert. Siehe Foto.
Auch die Stallungen sind keine Wohnungen mehr, sondern Meetingräume. Ich habe keine Ahnung, was aus den Leuten geworden ist und ob die Wohnungen überhaupt gut waren.
Auch habe ich ergoogelt, dass es sich bei meinem Torgebäude um ein Phantasiegebäude aus dem 19. Jahrhundert handelt. Dass es dieses Tor bei der ursprünglichen, mittelaterlichen Burganlage gar nicht gab. Nunja. Auch eine Erkenntis.
Im November endete die Saison und damit auch mein Vertrag. Im Jahr darauf würde man das gesamte Konzept mit Ticketverkauf am Tor und Parkplatz ändern und so gab es keine weitere Betätigung mehr für mich. Fand ich schade. Danach heuerte ich auf einem Recyclinghof an, bei dem ich ganze zwei Jahre arbeitete, bevor ich anfing mit Computern zu arbeiten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Eigentlich wollte ich nur von den phantastischen Buttermöhren erzählen, aber dann kamen alle diese Erinnerungen wieder hoch.