[als ich Torwächter in einem niederländischen Schloss war]

Vor fast dreissig Jahren arbeitete ich eine Zeit lang als Torwächter in einem niederländischen Schloss. Ich weiss wirklich nicht mehr, wie ich an jene Stelle kam. Ich war Anfang zwanzig, hatte keine Ausbildung, kein Abi. Nebst Häuser zu besetzen und Kurzgeschichten zu schreiben, wusste ich nicht so recht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Zuvor jobbte ich mehrere Monate in einer Tiefkühlzelle eines Grosshandelszentrums, aber davon rann mir ständig die Nase. Das konnte auf Dauer nicht gut für meine Gesundheit sein. Später trat ich eine Stelle als Käseschneider in einer Fabrik an. Ich schnitt 20Kg-Blöcke Fetakäse zu kleinen Würfeln, die ich dann mit Salzwasserlake in eine supermarktfertige Plastikdose legte, Datumsstempel aufklebte und ab damit auf die Europaletten. Wenn ich nicht Käse schnitt, dann füllte ich mittelgrosse Plastikdosen mit einer Zwiebelmarinade, die man im nächsten Verarbeitungsprozess mit Fetakäsestückchen ergänzte.

Abends ging ich in die Kneipen. Ab und zu nahm ich Speed. Schreiben war in diesem Zustand meist eher lähmend. Aber in Utrecht besetzten wir ständig Häuser. Ich war sehr gut darin, alte Türen aufzubrechen. Ansonsten war meine Existenz ziemlich inhaltlos. Mich für ein Studium oder eine Ausbildung aufzuraffen lag mir schlichtweg nicht, ich merkte aber auch, dass ich mit meinen Kurzgeschichten kein Geld verdienen würde. Klar könnte ich Glück haben, ein Buch zu schreiben, das sich millionenfach verkauft, aber ich wusste meine Chancen immer schon sehr gut einzuordnen.
Alternativ hätte ich mich abschiessen können. Das taten in meinem Umfeld eben viele. Also weitersaufen, Chemikalien nehmen und ein bisschen seinen Gang gehen. Manche nahmen sich später das Leben oder warteten bis das Leben sich ihrer nahm. Aber dafür war ich immer zu gut gelaunt. Das klingt komisch, aber ich war halt immer gut drauf, auch wenn ich bis 4 Uhr morgens betrunken in der besetzten Kneipe kellnerte, fuhr ich trotzdem um sieben Uhr in die Fabrik und schnitt acht Stunden lang Käse.

Von den Jobs konnte ich aber einigermassen okay leben. Wesentlich besser als die anderen Menschen um mich herum, die entweder von der Sozialhilfe zogen oder studierten. Irgendwann setzte ich mir schliesslich in den Kopf, dass ich Dudelsack spielen wollte, also kaufte ich mir einen Dudelsack. Das bereitete mir ziemlich lange viel Freude und so weckte ich meine alte Leidenschaft für Burgen und Mittelalter wieder auf. Als Kind war ich nämlich ein ausgesprochener Burgenkenner und wusste alles über alpenländische Burgenanlagen und die dazugehörige Geschichte. Vor allem über die Periode ab etwa 1100 bis zur Renaissance. Daran knüpfte ich mit meinem Dudelsack einfach wieder an. Der Dudelsack, den ich mir anschaffte, war keine schottische Bagpipe, sondern ein mitteleuropäisches, besser gesagt, an die Tradition Flanderns orientiertes, mittelalterliches Instrument. Die Dudelsäcke, wie man sie auch von den Gemälden Pieter Bruegels kennt. Das waren die Instrumente der Troubadoure bzw der Wandermusiker. Diese klangen wesentlich weicher, wobei auch diese natürlich sehr laut tönten, die Melodiepfeife eines Dudelsacks ist schliesslich eine Schalmei mit einem harten Doppelrohrblatt, sowas kann man gar nicht leise spielen.

Das muss der Link gewesen sein, warum ich an den Job in dem Schloss geriet. Ansonsten fällt mir kein vernünftiger Grund ein, warum ich Ausschau nach Arbeit in einem Schloss gehalten hätte. Nach einem Jahr in der Käsefabrik schmiss man mich nämlich wieder raus. Zuerst hatte man den Teamleiter gefeuert, dann machte man mich zum Teamleiter und irgendwann feuerte man eben mich. Ein paar Wochen später war ich Torwächter im Kasteel de Haar, westlich von Utrecht.

Kasteel de Haar ist eine romantisierte neogotische Burganlage, die um 1900 herum auf eine mittelalterliche Ruine aufgebaut wurde. Eigentlich verachtete ich solche romantisierten Schlösser, ich akzeptierte nur richtige Wehrburgen, aber man gab mir den Posten als Torwächter und daraufhin konnte ich mit dem Schloss ganz gut leben.

Mein kleines Torhäuschen stand etwas abseits vom Rest des Schlosses. Es befand sich einen knappen halben Kilometer Fussweg bis zum zum Hauptgebäude. Mein Torhäuschen war das Eingangstor zu allem. Zu den Ställen, zum Park, zur Kirche und natürlich zur Schlossanlage. Im Torgebäude sass ich also den ganzen Tag lang alleine und wartete auf Besucher. Ich verkaufte Tickets für den Park oder ein Kombiticket für Schloss und Park. Für das Schloss alleine konnte man keine Tickets kaufen, das ging nur als Kombiticket mit dem Park. Aber ich versicherte den Besuchern, dass der Park sehr schön sei, eine 55 Hektar grosse, gut gepflegte Anlage. Der Park kostete 5 Gulden, das Kombiticket mit Schloss, kostete 12 Gulden. Ich akzeptierte keine Karten, nur Bargeld, allerdings waren wir an das Museumjaarkaart-System angeschlossen. Es gab viele Leute, die mit dieser nationalen Jahreskarte für Museen zu uns kamen. Die Anzahl der Jahrkarten musste ich auf Papier notieren und am Abend der Schlossverwalterin mitteilen.

Die Saison ging von März bis November. Von März bis Mai war eigentlich nichts los. Ich hatte daher viel Zeit an meinem Roman zu schreiben. Das war eine etwas wilde und phantastische Geschichte über eine Person (ICH), die einen dritten Weltkrieg auslöst. Dafür hatte ich mir für 150 Gulden einen Laptop angeschafft. Der Laptop war so günstig, weil damals gerade Windows 95 herausgekommen war und jegliche Hardware, auf die kein Windows lief, geriet in einen rasanten Wertverfall. Mein Laptop konnte nur Wordperfect. Aber genau das brauchte ich, ich wollte endlich Texte direkt korrigieren können. Zuvor mit der Schreibmaschine musste ich die Fehler auf Papier korrigieren und anschliessend neu tippen, manchmal mehrmals. Das war eine furchtbare Arbeit.

Mein kleines Torhäuschen hatte einen kleinen, runden Raum mit verglasten Schiessscharten. Wenn ich in der Mitte dieses kleinen Raumes sass, hatte ich eine ziemlich gute Rundumsicht, ich stellte dort also meinen Schreibtisch hin, an jener Stelle sah ich rechtzeitig Besucher kommen und konnte mich daraufhin in mein Türchen setzen, wo ich die Tickets verkaufte.
Später fand ich es allerdings bequemer, mich in den dahinterliegenden Raum zu setzen. Das war ein grösserer Raum mit zwei grossen Fenstern links und rechts. Wenn ich am rechten Fenster sass, mit dem Blick zur Zugbrücke, hatte ich den perfekten Überblick auf ankommende Besucher. Von da aus sah ich sogar Autos vom Deich her kommen.

Das Torgebäude hatte auch ein Obergeschoss, das sich über eine sehr enge Wendeltreppe erreichen liess. Aber der Raum im Obergeschoss war leer und eher unspektakulär, ausserdem verfügte der Raum über weniger und kleinere Fenster, da oben fehlte mir schlicht die Übersicht. Später verwendete ich den Raum als Lager für die Kataloge, die ich ab Juni verkaufen sollte. Das waren kleine Hochglanzheftchen mit Fotos des Schlosses und begleitenden Texten, auf niederländisch, englisch und deutsch. Sie verkauften sich sehr gut. An meinem Türchen, an dem ich die Tickets verkaufte hing ein Bord, also eine verglaste Platte, auf der das Heftchen angepriesen wurde und jetzt wo ich an dieses Bord denke, fällt mir ein, dass ich auch Postkarten verkaufte, ich kann mich aber nicht mehr an die Motive und an die Preise erinnern. Ich weiss nur noch, dass ich morgens immer dieses Bord raushing und die Besucher immer danach fragten. Auch die Postkarten gingen gut weg, die machten aber immer Probleme mit dem Wechselgeld.

Mein sogenanntes Türchen an dem ich die Tickets verkaufte war die eigentliche Eingangstür zum Torhäuschen. Sie war in zwei Teile geteilt. Man konnte den oberen Teil öffnen, dann wurde der untere Teil wie eine kleine Verkaufsfläche. Das fand ich aber immer albern. Ich stand meistens als Ganzkörperperson in meiner Tür und plauderte mit den Leuten.
Früh im Jahr oder auch später im Jahr schloss ich allerdings beide Teile der Tür, weil sich das Torhäuschen dann doch etwas auskühlte.

Nach einigen Wochen, die ich da arbeitete und mich ein bisschen wohl fühlte, begann ich Dudelsack zu spielen. Ich hatte das siebenköpfige Verwaltungsteam nicht darüber informiert. Ich weiss bis heute nicht, ob die das gut fanden. Bei gutem Wetter sass ich mit einem Hocker auf der Zugbrücke und trötete auf diesem lauten Ding. Die Besucher fanden das phantastisch und fotografierten mich. Die Gärtner fanden das lustig und erzählten es vermutlich den anderen in der Verwaltung, diese fuhren dann mit dem Auto vor und taten, als würden sie ins Dorf fahren, grüssten, grinsten und kamen zehn Minuten später wieder zurück durch das Tor hinein. Das hatte ich alles durchschaut. Man liess mich aber walten.

Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, den Schlagbaum zu bedienen. Durch dieses Tor musste faktisch der gesamte Schlossverkehr hindurch. Das betraf das Verwaltungsteam, die beiden Gärtner, die Frewilligen Schlossführer und die Bewohner der Stallungen. Gleich hinter dem Tor links gab es ehemalige Stallungen, in denen drei Familien wohnten.
Eine Familie bestand aus einer älteren Frau, die nie mit mir sprach und einem Mann, der ab und zu vorbeikam und lauter zynische Dinge von sich gab. Seine beiden Söhne waren Gabber-Fans. Gabber war damals sehr populär, eine in Rotterdam entstandene Hardcore Techno Variante. Gabberfans erkannte man vor allem daran, dass sie aussahen wie Naziskinheads, also blasse Typen mit Glatze und Bomberjacke. Die beiden Jungs waren Gabbers wie aus dem Bilderbuch, zudem sahen sie sich ähnlich, beide bleich, pickelig, kahlgeschoren und mit Bomberjacke. Sie grüssten mich immer, hatten aber sonst nie viel zu erzählen.

Auch gab es ein älteres, kinderloses Ehepaar. Der Mann wirkte auf mich immer wie ein Lehrer und die Frau brachte mir manchmal Kuchen.

Und dann gab es noch die Hippiefamilie mit diesem wunderschönen Mädchen. Die Mutter war eine sehr freundliche Frau mit wallenden Batikkleidern und offenem Haar. Sie war immer sehr freundlich zu mir und wir plauderten oft. Sie war mit einem mürrischen Mann aus Sri Lanka zusammen und hatte zwei Töchter. Eine der Töchter war etwa achtzehn Jahre alt und die kleine Tochter war im Vorschulalter. Die Achtzehnjährige war unfassbar schön. Sie kam immer auf einem weissen Fahrrad über den Deich gefahren. Ihr Hautfarbe war dunkel, sie hatte Haare so schwarz wie Teer, Augen so schwarz wie die Nacht. Sie trug immer nur schwarze Kleidung, meist weite Röcke und lange Schals, die sich sich um den Oberkörper wickelte. Meist trug sie Stulpen aus schwarzer Spitze, den Lidstrich zog sie oft dick und fast bis zu den Schläfen. Ich wusste immer, wann sie von der Schule nach Hause kam. Ich stelle mich immer in den Torbogen und tat beschäftigt, damit ich sie grüssen konnte. Sie grüsste immer freundlich zurück.

Dann zeichnete ich sie. Ich kann gar nicht schlecht zeichnen, aber das ist kein Hobby, das ich gut gepflegt habe, es gelingt mir aber immer noch eine halbwegs gescheite Zeichnungen von Dingen anzufertigen. Ich zeichnete das Mädchen auf ihrem Fahrrad, wie sie mit ihrer wallenden fledermaus-artigen Erscheinung über die Hebebrücke fuhr. Die Zeichnung geriet etwas comichaft, aber sie war dennoch gut gelungen, wie ich fand. Darunter schrieb ich: Die Prinzessin auf dem weissen Fahrrad.
Als sie einmal von der Schule nach Hause kam, wartete ich auf sie im Torbogen und überreichte ihr das Bild. Ich war sehr aufgeregt. Sie vermutlich auch. Sie bedankte sich hastig und fuhr weiter um die Ecke zu den Stallungen.

Als sie am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, wartete ich nicht auf sie im Torbogen. Ich wusste jetzt nicht so recht, wie ich mich zu verhalten hatte. Als ich sie über den Deich heranfahren sah, blieb ich in meinem Zimmer sitzen und tat beschäftigt. Ich sah sie über die Brücke kommen und dann hörte ich sie im Torbogen bremsen. Sie rief etwas, das ich nicht verstand zu mir herein und fuhr weiter. Ich stand auf und lief zu meiner halb geöffneten Tür. Dort hatte sie ein Bild abgelegt. Ein mit Aquarell gemalenes Bild das ein Männergesicht darstellte. Kein Text, aber sehr kunstfertig, etwas düster und violett.

Mehr geschah zwischen uns nicht. Ich traute mich nie, sie anzusprechen.

Aber ich hatte einen grossen Mund als der Rattenfänger kam. Obwohl das ganze Gelände von Wasser umgeben und von Wasserkanälen durchzogen war, hatten wir im Schloss merkwürdigerweise selten Probleme mit Ratten. Aber einmal war etwas in einem Seitenflügel los. Ich weiss nicht genau, was los war, bezüglich der Angelegenheiten im Schloss liess man mich ziemlich aussen vor. Ich war nur dieser junge, etwas verrückte Torwächter mit dem Dudelsack, der weitab vom Schloss in seinem Torgebäude sass.

Jedenfalls Rattenalarm. Ich war ja für den Schlagbaum zuständig. Der Schlagbaum war kurz, er versperrte nur optisch den Weg, man konnte mit dem Auto daran vorbeifahren, aber das reichte aus um fremde Autos davon abzuhalten auf das Gelände zu fahren. Für Besucher gab es einen Parkplatz gegenüber meines Torgebäudes, der auch gut ausgeschildert war. Ich konnte den Schlagbaum allerdings mit einem einsteckbaren Aufsatz verlängern, damit kamen dann nur noch Fahrräder durch das Tor.
Den Aufsatz verwendete ich aber nur selten, damit ich nicht jedes Mal aufstehen musste, wenn die Gärtner oder die Menschen aus den Stallungen mit dem Auto durch das Tor fuhren. Da gab es nur einen Gruss durch das Fenster als sie über die Hebebrücke fuhren und sie fuhren um den verkürzten Schlagbaum herum.

Aber dann kam der Rattenfänger. Ich kannte den nicht und ich wurde auch nicht darüber informiert, dass er kommen würde. Normalerweise informierte man mich über ausserplanmässige Besuche per Funk oder per Telefon. Diesmal hatte man es vergessen. Und dann kam ein riesiges Auto über die Hebebrücke gefahren. Ich empfand das sofort als Übergriff, rannte hinaus und stellte mich dem Geländewagen breitbeinig in den Weg. Ich konnte durch die Windschutzscheibe die Umrisse eines Mannes erkennen, er trug einen Cowboyhut und liess den Motor aufheulen. Auf der Höhe meiner Brust, auf der Motorhaube des Geländewagens, lag eine nasse, tote Ratte. In jenem Moment spürte ich tausende Nervenenden in meinen Extremitäten. Ich fühlte mich wie eine Nebenfigur in einem schlechten Horrorfilm, die typischen Nebenfiguren die gleich sterben. Also schrie ich einfach drauflos, dass er mit seiner Dreckskarre sofort umdrehen müsse. Ich glaube, ich schimpfte noch eine ganze Weile. Inzwischen öffnete sich die Autotür und daraus stieg ein riesiger, grinsender Mann mit Zigarette und Cowboyhut aus.
Er tat gemächlich. Er redete beruhigend auf mich ein. So wie man beruhigend auf ein wildgewordenes Pferd einredet. Er sagte, er sei der Rattenfänger, man habe ihn gerufen.
Die Geschichte hat keine Pointe. Aber es sprach sich rum, dass ich etwas panisch geworden war.

Im September brach eine besondere Zeit an. Das Schloss und der Park sind im ganzen September für Besucher geschlossen. Das ist der Monat in dem der Besitzer des Schlosses darin wohnt, ein Baron aus Frankreich, ein Enkel der Helene de Rothschild, der ursprünglich das Schloss gehörte. Der Baron hält in jenem Monat Privatfeiern mit Menschen aus Politik und Wirtschaft. Als linksradikaler Hausbesetzer verachtete ich diese Zusammenkünfte natürlich. Aber die waren nur im September da, ich konnte das ganz pragmantisch ausblenden.

Eine Woche vor der Ankunft der Baronfamilie verschloss ich die Tore und ich wurde im Schloss gebraucht. Ich sollte helfen, das Silberbesteck zu polieren. Meine Eltern sind Rettungsfahrer und Bauernkinder, ich wusste nicht einmal, dass man Silberbesteck polieren musste. Es würde Festessen mit vielen Gästen geben, es wurden immer neue Kisten mit Silberbesteck angeschleppt, es fühlte sich an, als würden wir mehrere Tonnen Silber in Akkordarbeit polieren.

Als die Familie angekommen war, bestand meine Aufgabe vor allem darin, die Tore geschlossen zu halten und unangemeldete Besucher sowie Presse abzuwimmeln. Wenn die Baroness oder eine ihrer Töchter mit dem Fahrrad das Gelände verliessen oder wieder zurückkamen (das taten sie ständig), musste ich die schweren Tore öffnen und schliessen. Auch für alle Autofahrer, also das Personal und die Bewohner der Stallungen. Ich hasste das. Der Hippiefamilie war das unangenehm, dass ich jedes Mal aus meinem Türmchen gesprungen kam und ihnen das Tor öffnete. Für die Mutter und den Töchtern war das Tor aber schlichtweg zu schwer.

Ich bekam jeden Tag eine Liste der Besucher mit der geschätzten Ankunftszeit. Ab fünf Uhr abends ging es meistens los. Bei Ankunft an meinem Tor nannte mir der Fahrer den Namen der Insassen. Dann liess ich sie durchfahren. Die Besucher grüssten nie. Auch nicht jene Besucher die im Schloss nächtigten, wenn sie tagsüber mit dem Fahrrad durch das Tor fuhren. Nur die Baroness und ihre Töchter. Die grüssten immer. Und auch der Baron.

Wenn die Gäste aus England und Frankreich zu Besuch wareb, musste ich bis spät in die Nacht arbeiten um für jeden Besucher das Tor zu öffnen. Es wurde immer spät. Der erste Abschnitt meiner Heimfahrt führte durch den Wald. Mein Fahrrad hatte kein Licht, also fuhr ich mit einer Taschenlampe bewaffnet bis ins nächste Dorf und dann die etwa 11 Kilometer am beleuchteten Bahngleis entlang bis zurück in die Utrechter Innenstadt.

Ich hasste diese Zeit.

Allerdings hatte jene Zeit auch etwas Gutes. Der Baron reiste nämlich mit seinem eigenen Küchenteam an. Das Küchenteam bestand aus einem Starkoch (Namen vergessen) und 5 jungen Männern, die richtig gutes Essen zubereiteten. Und jeden Abend kam einer der jungen Köche auf dem Fahrrad den halben Kilometer zu dem Torgebäude gefahren um mir jungem Torwächter ein Abendmahl, bestehend aus Vorspeise, Hauptspeise und einem Dessert zu bringen.

Diese Buttermöhren. Ich musste beim Essen die Augen schliessen, so gut waren die.

Aber ich muss jetzt langsam abschliessen. Es ist bereits spät. Eigentlich wollte ich noch von diesem Liebespaar erzählen. Ich glaube sie waren beide mit zwei anderen Menschen verheiratet und trafen sich heimlich im Park des Schlosses. Sie kamen sicherlich zwei Mal die Woche. Sie kamen immer getrennt, mit ihren eigenen Autos. Beide wirkten etwas aristokratisch, konservativ gekleidet, aber freundlich. Die Frau trug immer eine grosse Sonnenbrille und stand etwas abseits, als der Mann die zwei Tickets erwarb. Nach einem langen Spaziergang kehrten sie zu ihren Autos zurück und fuhren wieder weg.

Und da gab es noch eine Versteigerung des Auktionshauses Christie’s. Der Baron liess hundert seiner Kunstwerke versteigern um eine Renovierung an den Fundamenten zu finanzieren. Das war für mich als Torwächter eine schlimme Zeit. Allerdings stellte man mir einen pensionierten Ex-Polizisten zur Seite um mit dem Besucheransturm fertig zu werden. Der Mann und ich wurden nie sehr miteinander warm. Aber ich weiss auch nicht mehr genau warum.

Während ich diese Zeilen aufschreibe, googelte ich auch verschiedene, vergessene Fakten, damit ich keinen Scheiss erzähle. Ich stelle fest, dass der Baron mittlerweile verstorben ist und das Schloss in eine Stiftung übergegangen ist. Mein Torgebäude ist jetzt ein buchbarer Meetingraum für 2-8 Personen geworden und das grosse Fenster hinter dem ich sass, gibt es nicht mehr. Es wurde schlichtweg zugemauert. Siehe Foto.
Auch die Stallungen sind keine Wohnungen mehr, sondern Meetingräume. Ich habe keine Ahnung, was aus den Leuten geworden ist und ob die Wohnungen überhaupt gut waren.

Auch habe ich ergoogelt, dass es sich bei meinem Torgebäude um ein Phantasiegebäude aus dem 19. Jahrhundert handelt. Dass es dieses Tor bei der ursprünglichen, mittelaterlichen Burganlage gar nicht gab. Nunja. Auch eine Erkenntis.

Im November endete die Saison und damit auch mein Vertrag. Im Jahr darauf würde man das gesamte Konzept mit Ticketverkauf am Tor und Parkplatz ändern und so gab es keine weitere Betätigung mehr für mich. Fand ich schade. Danach heuerte ich auf einem Recyclinghof an, bei dem ich ganze zwei Jahre arbeitete, bevor ich anfing mit Computern zu arbeiten. Aber das ist eine andere Geschichte.

Eigentlich wollte ich nur von den phantastischen Buttermöhren erzählen, aber dann kamen alle diese Erinnerungen wieder hoch.

Bild von Avondwandelingen.nl

[Mi, 9.8.2023 – vorm Behandlungszimmer]

Ich musste nur kurz zum Tierarzt. Ich brauchte Tabletten gegen Zeckenbisse. Dafür braucht man keinen Termin, für Tabletten kann man sich direkt ins Wartezimmer setzen und wenn sich die Tür zum Behandlungszimmer öffnet, äussert man schnell den entsprechenden Wunsch. Das ist Teil des Konzeptes bei meiner Tierärztin.

Im Wartezimmer sassen ein Rockabilly-Paar mit ihrem Hund, eine Frau meines Alters mit Hund, eine Frau meines Alters mit Hamster und eine ältere, sehr elegante Frau, die aber ohne Tier in dem Zimmer sass. Von den Wartenden wurde ich gleich gefragt ob ich einen Termin hatte, weil ich ohne Termin nämlich abgelehnt werden würde. Sie selber sassen schon seit 3 Stunden da und es sei unsicher, ob sie noch drankämen. Als ich aber sagte, dass ich nur wegen Tabletten käme, meinten sie, das würde wahrscheinlich schon klappen.

Innerhalb von 3 Sekunden entstand ein lebendiges Gespräch zwischen uns Wartenden. Und es hörte nicht mehr auf. Wir plauderten und lachten eine Stunde lang, erzählten von unseren Tieren, warum wir da sassen, redeten von Urlaub, inzwischen kamen auch mal die Töchter von zwei der Frauen herein, mischen sich in die Gespräche ein und gingen dann wieder.

Der Hund der Frau neben mir hatte seit drei Tagen Blut im Stuhl. Das ist meist kein gutes Zeichen. Alle hatten optimistische Theorien. Der Rockabilly Mann sagte: vielleicht hat sie Rote Bete gegessen. Das fand die Frau lustig. War es aber nicht. Der Hamster der Frau gegenüber hatte eine riesige, harte Beule am Kiefer. Es handelte sich um einen Zwerghamster und die Beule war so gross wie eine Walnuss. Offenbar werden Zwerghamster 2,5 bis 3 Jahre alt. Ihr Hamster zählte bereits 3 Jahre. Die Tochter sass eine zeitlang daneben auf dem Boden und streichelte das kleine Tier dessen Beule grösser als sein Kopf war.

Einmal kam eine Frau mit einem Hund und einem Kinderwagen. Die Frau neben mir fragte die neue Frau ob sie einen Termin habe, wenn nicht, dann würde sie heute wahrscheinlich nicht mehr drankommen. Ich sagte: wenn Sie aber eine gute Geschichte für uns haben, dann möchten wir, dass Sie bleiben. Alle nickten.
Daraufhin sagte sie: mein Hund will nicht mehr sitzen. Seit drei Tagen schon.

Wir staunten und alle hatten optimistische Theorien. Ein kleiner Infekt, vielleicht eine harmlose Beule. Dem Hund schien der Besuch bei Tierarzt überhaupt nicht zu gefallen. Er zog seinen Schwanz ein und zitterte leicht. Plötzlich gingen uns die Theorien aus und waren etwas ratlos geworden. Der Hund stand in unserer Mitte und schaute in die Runde. Auch er schien ratlos und dann – setzte er sich hin.
Wunderheilung. Die Frau schien zufrieden und ging.

Nach einer Stunde öffnete sich die Tür zum Behandlungszimmer, ich brachte mein Anliegen mit den Zeckentabletten an, ich konnte sofort eine Packung kaufen und damit war meine Wartezeit vorbei. Ich bedankte mich für die unterhaltsame Stunde, woraufhin alle nickten und dann ging ich.

Aber ich weiss immer noch nicht, warum die elegante, ältere Frau ohne Hund da sass.

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Am Abend wollte ich eine kurze Anekdote über meinen Job als Torwächter in einem niederländischen Schloss aufschreiben. Die Anekdote war als Tagebuchfragment gedacht, der Text wuchs aber zu einem längerem Text an und ich brauche dafür wesentlich mehr Zeit. Wenn er fertig ist, wird er wohl als selbstständige Geschichte online gehen. Jetzt sitze ich hier noch um 1Uhr und muss mich zwingen aufzuhören. Manchmal sprühen Texte wie Funken von einem ab.

[Di, 8.8.2023 – Malerweiss, Hans, Dadbod-Tshirts]

Heute kam der Maler in mein Büro, er wollte die orangene Wand weiss streichen. Ich dachte, das würde erst Ende des Monats geschehen. Heute passte es nicht so gut, weil ich einen längeren Call hatte, bei dem ich meinen voll ausgestatteten Schreibtisch brauchte. Ich sagte aber, dass er trotzdem malen könne, mich störe das nicht, solange er nicht hämmere, weil dann würden die anderen Gesprächsteilnehmer nichts mehr hören.

So taten wir dann auch. Er malte zwar nicht alle Wände aber er begann immerhin damit. Zwischendrin unterhielten wir uns auch länger, ich wollte ein paar handwerkliche Tipps von ihm, ich erzählte ihm von dem schwedischen Holzhaus meiner Schwiegerfamilie, das ich in den nächsten Jahren einmal komplett durchstrichen werden muss und ich sagte, ich sei darin ja nicht so geübt wie er, wenn ich mich einen halben Tag mit dem Roller an den Wänden entlang rollere, dann kann ich daraufhin 3 Tage nicht mehr meine Arme verwenden. Das fand er lustig, ich nur mittelmässig lustig. Ich habe sogar vom Mähen im Juli noch Unterarmschmerzen, die sich nach einer Sehnenscheidenentündung anfühlen. Sagte ich ihm auch, er hörte aber trotzdem nicht auf zu lachen. OK, ich auch nicht.

Die Tipps, die ich mitgenommen habe fürs Protokoll:

  • Alpina Weiss aus dem Baumarkt kann man vergessen. Damit muss man immer 3 Mal malen
  • Man kann keine Spritzer verhindern
  • Privat würde er das Malerweiss von Schöner Wohnen verwenden

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Meine Schwester ist mit ihrem Mann und drei Kindern nach Norwegen gefahren. Es ist ihr erstes Mal Skandinavien. Statt Griechenland und überhaupt, wegen der generellen Hitze im Süden, wollten sie diesmal den Norden ausprobieren.
Der Norden zeigt sich jetzt bei 12 Grad von einer sehr unsommerlichen Seite. Sie wohnen in einem kleinen, gemütlichen Bungalow aus Holz, direkt an der Atlantikküste. Sie kamen mit dem Regen. Und jetzt ist aus dem Regen das Sturmtief Hans geworden, der stärkste Sturm seit 25 Jahren. Ich fiebere sehr mit. Es ist kindisch, ich weiss. Aber es geht ihnen gut, sie haben es gemütlich, sie finden es sogar abenteuerlich.

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T-Shirt Statistik.

Ich hatte ja diese Tshirts von True Classic aus der Instagram- und Facebookwerbung gekauft. Jene Tshirts, die versprechen, das Beste aus einem Dadbod herauszuholen. Das ging dann so:
Ich bestellte drei Tshirts in Grösse L -> ich bekam daraufhin zwei in Grösse L und eines in Grösse XL. Das XL sah bei mir wie ein Kartoffelsack aus, also liess ich es tauschen. Der Support der Firma True Classic zeigte sich grosszügig. Ich bräuchte es nicht zurückzuschicken, ich könne es verschenken, sie würden mir die Grösse L einfach noch einmal schicken. Dabei gaben sie auch zu, dass sie schlichtweg nicht die Logistik (und vermutlich das Budget) haben um Retouren aus Europa handzuhaben.

Ein paar Wochen später erhielt ich drei neue Tshirts. Nicht nur das eine, das ich beanstandet hatte. Aber: alle drei Tshirts waren in Grösse XL.
Ich schrieb denen wieder eine Mail, eines sehr freundliche Mail, dass sie mir nicht nur ein Tshirt gesendet hatten, sondern gleich drei, und alle in der falschen Grösse. Ich bräuchte nur eines in Grösse L. Sie entschuldigten sich und versprachen mir, die Bestellung zu korrigieren.

Jetzt kam das korrigierte Paket. Endlich in der richtigen Grösse L. Aber wieder in dreifacher Ausfertigung. Natürlich habe ich nichts dagegen.

Bestellt habe ich: 3x L
Besitzen tue ich: 5x L + 4x XL

Die XL können bei mir abgeholt werden.

[So, 6.8.2023 – terug]

Ich bin fertig. Am Sonntagfrüh kam ich kaum aus dem Bett. Letztendlich schleppte ich mich zum Frühstück und legte mich danach wieder ins Bett, dann packte ich die Sachen und legte mich wieder ins Bett. Um zwei Minuten vor Checkout stand ich auf und traf mich mit meinem Kollegen an der Rezeption. Dort tranken wir einen Kaffee und bestellten uns einen Uber nach Schiphol. Der Uber war ein roter Tesla. Ich war von dem Bordcomputer sehr angetan, aufgrund der vielen Sensoren und Kameras zeichnet der Computer ein Bild der Umgebung auf das Display. Man sieht neben dem Navi auch die Autos im Umfeld und die Strassenmarkierungen mit Abbiegepfeile, alles als Skizze und wenn man den Blinker nach rechts schaltet, dann öffnet sich das Kamerbild der rechten Autoseite, oder auch wenn man auf einer engen Strasse fährt, zeigt die Kamera automatisch die Bordsteinkante auf dem Display. Es ist ein Raumschiff.

Dann Schiphol, Weinchen, Boarden, Flug, Taxi, Frau und Hund. Es ist immer schön, nach Hause zu kommen.

[Sa, 5.8.2023 – Canal Pride]

Das Bett in diesem Hotel ist phantastisch. AUsserdem schlafe ich besser als zuhause. Es gibt ja diesen Begriff Schlafhygiene. Das hat viel mit Ritualen und dem mentalen Zustand zu tun. Vielleicht habe ich zuhause eine schlechte Schlafhygiene.
Vielleicht habe ich aber auch einfach nur ein paar gute Schlaftage, bzw -Nächte.

Heute war die Canal Pride. Meine Firma hat ein eigenes Boot. An der Canal Pride nehmen 80 solche Botte teil. Die ganze Stadt feiert mit. Zehntausende Leute stehen an den Kanälen und in den Häusern und Hausbooten und sie feiern mit. Es ist ein sehr friedliches Spektakel. Es regnet meist in Strömen, es schadet der Stimmung aber nicht. Ich trage ein Unterhemd mit einer Weste, auch ein Jäckchen habe ich dabei. Das Jäckchen verstaue ich am Anfang der Fahrt vorne bei den Bierkästen. Es sind 90 Menschen auf unserem Boot. Alle sind aufgedreht und betrunken, es regnet, es gibt kein Dach, ich bin gespannt, wie ich das Jäckchen am Ende der Feier vorfinden werde.

5 Stunden später beim Leeren des Bootes, finde ich es nicht weit weg von dem Ort, an dem ich es verstaut hatte, allerdings steht ein feiernder Mann mit seinem linken FUss darauf. Das Jäckchen ist durchnässt, aber es ist völlig intakt. Mich freut das.

Wir beschliessen noch zum Dam zu gehen und dort die offene Bühne zu besuchen. Unterwegs verliere ich aber alle meine Begleiter. Als ich am Dam niemanden wiederfinde, merke ich auch, dass ich keine Energie mehr habe. Also laufe ich zum Nieuwmarkt zur Metro. Alles an mir ist nass. Ich laufe mit einem nassen Doppelrip Unterhemd und einer kurzen Hose bekleidet durch die Stadt, in die Ubahn hinein. So würde ich in Berlin wohl eher nicht rumlaufen. Obwohl, es sind ja immer die Umstände.

Am frühen Abend im Hotel merke ich, dass ich kompolett durch bin. Von den 5 Stunden auf dem Boot bin ich auch schwindelig geworden. Wenn ich sitze, schwankt die Welt. Aber ich habe dieses phantastische Bett, in das ich mich legen kann und holländisches Fernsehen schauen.

Und noch ein paar unverschämt gute Selfies von mir.

[Fr, 4.8.2023 – Sneakers, Utrecht]

Im Büro wurde ich zwei Mal anerkennend auf meine neuen Turnschuhe angesprochen. Einer trug sogar das selbe Modell. Es war mir nicht bewusst, dass ich mir einen bekannten Schuh angeschafft hatte.

Die Blasen an den Fersen und die befürchtete Qual für die nächsten Tage, hielt sich in Grenzen. Auf der linken Ferse behalf ich mir mit einem Pflaster, die rechte Ferse hingegen brauchte gar nichts, die Haut war lediglich leicht irritiert. Mein Fussproblem war also erträglich.

Am frühen Abend fuhr ich nach Utrecht, wo ich meine Exfreundin traf. Auch sie wohnt seit zwanzig Jahren nicht mehr in Utrecht, zwischenzeitlich wohnte sie in Burkina Faso, als sie schwanger wurde zog sie wieder zurück in die Niederlande, aber raus aufs platte Land, in den sogenannten Bibelgürtel, im Südosten, im Land zwischen den beiden grossen Flüssen, wo die streng reformierten Kirchen ihr Unwesen treiben. Aber das stört sie nicht, sie kommt aus der Gegend, sie hat genau so viel Recht dort zu wohnen, wie die anderen, sagt sie.

Es ist schon sechs Jahre her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Sie hat sich in all den Jahren kaum verändert, und das dachte ich vor sechs Jahren auch schon. Das erste, das sie zu mir sagte war: du bist dick geworden.
Sie lachte dabei aber, sie meinte das nicht böse, sie weiss, dass mich das nicht kränkt, die meisten Menschen finden aber auch, dass ich die eine oder andere Gemeinheit durchaus verdiene. Sie gehört durchaus zu diesen Menschen.

Sie mag ja dünne Männer, mochte sie immer schon, eigentlich komisch, dass wir überhaupt ein Paar waren. Sie war ausserdem immer dicker als ich und ist jetzt immer noch dicker als ich, aber das bedeutete nicht, dass man nicht dünne Männer mögen kann.
Jetzt fiel mir auch wieder ein, dass sie sechs Jahre älter ist als ich, das war mir nie so bewusst, ich bilde mir ein, dass man den Altersunterschied jetzt besser sieht, aber ich vergesse immer, dass ich selber ja auch gealtert bin. Mir machten ein Selfie und stellten fest, dass man den Altersunterschied nicht sieht.
Wir gingen ins Café Belgie. Dort sassen wir damals oft. Auch sie war schon zwanzig Jahre nicht mehr dort. Das Café Belgie hat sich kein bisschen verändert. Nur die Tische sind neu und die Logos auf den Toiletten. Der Rest ist genau so wie früher. Und die vielen Biere gibt es auch immer noch. Mittlerweile sind es mehr als 195. Es ist eine gute Kneipe.

Danach assen wir Pizza an der Oude Gracht. Wir haben uns viel aus unseren Leben zu erzählen, wir zeigen einander Fotos von dies und das. Meine Fotogalerie ist sehr einseitig, sie besteht aus Fotos von meiner Hündin, von meiner Frau und von Essen. Sie zeigt mir Fotos von ihren beiden Kindern. Ich hatte sie beide vor sechs Jahren kennengelernt, jetzt sind sie schon fast erwachsen.

Gegen elf Uhr fuhr ich wieder zurück nach Amsterdam. Das Intercitysystem ist unglaublich effizient. Diese kleinen Intercitys flitzen in 15-Minutentakt von Stadt zu Stadt, Frequenz und Erreichbarkeit ähnelt mehr einem erweiterten S-Bahnsystem, was in einem kleinen, dichtbevlökerten Land wie die Niederlande natürlich wesentlich einfacher ist als in einem grossen Flächenland wie Deutschland. Von Utrecht Centraal nach Amsterdam Centraal fährt man 35 Minuten. Das ist schneller als von Spandau bis nach Köpenick. Es allerdings auch weniger Kilometer.

[Do, 3.8.2023 – Metro, Aufnahme hin, Füsse]

Funfact: Obwohl ich fast zehn Jahre in der Gegend gelebt habe, fuhr ich heute zum ersten Mal mit der Amsterdam Metro.
Mein Amsterdam beschränkte sich offensichtlich auf einen Fahrradradius. Den Flughafen zähle ich jetzt nicht mit, da der Flughafen nur ans nationale bzw internationale Bahnnetz angeschlossen ist. Die Metro ist die Metro.

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Die Aufnahme des Herthfrauen Podcasts ist leider unbrauchbar. Das Mikro der Spielerin war dermassen hart eingestellt, dass die leiser gesprochenen Wortenden oder sogar ganz, leise gesprochene Wörter, ausgeblendet wurden. Es ärgert mich, dass mir das nicht während des Interviews aufgefallen ist. Jetzt müssen wir alles wiewderholen. Sieht blöd aus. Ausserdem sind die Spielerinnen alle im Trainingslager, das wird also etwas dauern.

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Mein linker Schuh ist innen kaputt. Ein Loch im Schuhboden. Ich habe keine Ahnung woher das kam, aber weil ich hier so viel laufe, habe ich mir meine linke Fusssohle total aufgeschürft. Eine Wunde, die sich jetzt auch noch entzündet hat. Heute tagsüber war das in Ordnung, ich humpelte ein wenig durchs Büro, am späteren Nachmittag nahm ich mir aber vor, ein neues paar Schuhe zu kaufen, Sneakers am besten, weil ich in den nächsten Tagen noch viel zu Fuss unterwegs sein werde.

Die Sneakerläden überforderten mich ziemlich. Ich brauchte etwa eine Stunde um ein geeignetes Paar zu finden. Überall lungerten Jugendliche um die schicken Sneakers herum, ich war drei Mal so alt wie der Durchschnitt der Kundschaft, ich hätte vielleicht irgendwo anders hingehen sollen, aber ich griff zu den Nike Air, weil, nunja, ich meine gelesen zu haben, dass die eine weiche Sohle haben. Vielleicht liege ich mit dieser Vermutung auch falsch, aber sie haben eine dicke Sohle und meine alten Schuhe haben eine sehr dünne, ungnädige Sohle, mit der ich neuerdings Fernsenschmerzen bekam.
Nike Air jetzt also, in weiss. Mir hätten auch die Adidas in violett gefallen, aber Adidas ist Union, das trage ich nicht. Nicht, dass ich Markenaffin wäre, aber Adidas ist Union, das trage ich nicht.

Weil ich bei der Auswahl so lange brauchte, war ich fürs Dinner mit meinen Kollegen spät dran. Ich zog meine neuen Schuhe noch im Laden an und steckte meine alten Schuhe in den Karton, den Karton entsorgte ich dann in der Fussgängerzone.

Wir waren in Noord verabredet, das ist die Insel nördlich des Bahnhofs Centraal. Vor zwanzig Jahren war die Gegend dort völlig verwaisd. Hinterm Bahnhof gab es Brachen und Wasser, jetzt haben sie dort eine richtig schöne Promenade mit Fähranlegern und Fahrradwegen gebaut. Dort nahm ich dann die Fähre auf die andere Seite. Mittlerweile merkte ich, dass mir die Nike Airs zu klein sind, ich hatte bereits nach 100 metern gemerkt, dass sich meine beide Fersen sehr an der Hinterseite der Schuhe reiben, ich dachte zuerst nur, dass es an meiner Eile liegt, die schnellen Schritte, die Hast, ich war ja spät dran und rannte die zehn Minuten zur Fähre. Aber als ich dann mit den brennenden Fersen in den engen Schuhen am Tisch sass, merkte ich, dass die Sneakers vermutlich ein Fehlkauf waren. Es ärgerte mich. Man sollte nicht 150€ ausgeben, wenn man wenig nachdenkt. Jetzt habe ich eine Wunde an der linken FUsssohle und zwei aufgeschürfte Fersen. Ich bin gespannt, wie ich das die nächsten drei Tage manage. Ich sehe es schon so kommen, dass ich mir Sandale kaufen muss.

[Mi, 2.8.2023 – Ride, Flug, Centraal]

Ich fuhr dann in einem schmutzigen Ride-Auto nach Schönefeld, stand da wieder ewig an der Security an und sass dann fast zwei Stunden lang in einem Flugzeug, das bei defekter Klimaanlage und 50 Grad Innentemperatur nicht starten durfte, weil in Amsterdam das Wetter dermassen windig ist, dass die Flugzeuge nur sehr ausgewählt landen durften.
Die Klimaanlage funktionierte allerdings, sobald die Engines starteten, wie uns versprochen wurde.

Danach war also alles gut, trallala, mann, ich hatte zwischendurch Gefühle, die mich an Panik denken liessen und ich dachte: kein Sauerstoff, Saunatemperaturen, bitte stirb nicht, bleib jetzt bloss ruhig, das geht schon vorbei, so heiss ist es gar nicht und atmen kannst du eigentlich ja auch, und dann kam es auch so, ich konnte ja atmen.

Mein Kollege und ich sind dann direkt ins Hotel. Wegen der Canal Pride sind die Preise in der Stadt astronomisch hoch, also hatten wir uns beide ein Hotel am Omval gebucht, weit ausserhalb, aber immerhin gut angebunden, ein schönes, gut designtes Hotel mit fantastischem Badezimmer und einer wunderbaren Aussicht aus dem 11. Geschoss über, nunja, über ein Gewerbegebiet und einem Baumarkt.

Nach der Ankunft schnitt ich noch an dem Podcast der Herthafrauen weiter, mein Kollege fuhr inzwischen in die Stadt, Einkäufe tätigen und er würde sich mit seinem Date in ein Restaurant setzen, von da aus würde er mir seine Location schicken. Das ist immer lustig, wenn man mit schwulen Männern verreist, schwule Männer haben immer Dates.
Wir trafen uns also später bei einem Italiener am Nieuwendijk und hatten ein sehr unterhaltsames Abendessen, nachher gingen wir noch ins Prik, eine der bekannten Schwulenbars an der Spuistraat. Ich trank niederländisches Witbier und wir unterhielten uns über Sex, vor allem über Sex unter Heteros und über Sex unter Homos.

Um Punkt 12 betrat ich mein Hotelzimmer. Etwas zu betrunken bereits. Morgen werde ich lange Meetings haben und der morgioge Abend wird wieder lange werden.

[Di, 31.7.2023 – Calls, Hertha, Podcast, Frauenmannschaft]

Zwischen 10 und 13 Uhr reihten sich drei einstündige Calls hintereinander ein.

Der erste dauerte 20 Minuten.
Der zweite fiel aus.
Der dritte dauerte 7 Minuten.

Diese gewonnene Zeit. Ich wusste gar nicht, was ich damit anfangen sollte, also trank ich erstmal Kaffee.

Am Abend fuhr ich zu Hertha in die Geschäftsstelle an der Hans Braun Strasse. Wir hatten einen Interviewtermin mit einer Spielerin aus der Frauenmannschaft bekommen. Es würde unsere erste Podcastfolge sein. Dummerweise haben wir die Mikros ohne Kabel bestellt, da sich diese speziellen Kabel nicht auf die Schnelle besorgen liessen, mussten wir improvisieren. Inis kaufte schnell ein zweites USB Mikrophon und wir verwendeten daher das wackelige Setup, das wir am Dienstag getestet und als nicht ausreichend bewertet hatten.

Vor Ort wurde ich nicht müde zu sagen, dass die Technik heute improvisiert sei, das schien die Spielerin und die Angestellten aber nicht zu stören. Das Interview lief gut, ich werde einiges zusammenschneiden müssen, das werde ich in den nächsten Tagen in Amsterdam tun, statt abends an der Hotelbar zu sitzen.

Nach der Aufnahme redeten wir noch eine Weile in unserem vierköpfigen Podcastteam. Bereits während der ersten Aufnahme waren uns einige Dinge aufgefallen, die wir beim nächsten Mal anders machen sollten, vor allem über die Struktur, also Kategorien, auch Fragekategorien, Spielerinnensteckbrief, das Ding mit der Playlist usw. Ich glaube, das ist ein Prozess. Wir beginnen einfach mit einem Intro, einer Vorstellung und dann Fragen. Und wir schauen von Folge zu Folge, was gut geht und was besser gemacht werden muss.

[Mo, 31.7.2023 – orange]

Heute bezog ich mein neues Büro. Ich komme eigentlich ja aus einer Firmenkultur, in der, bis auf die Personalabteilung, niemand ein eigenes Büro hat. Ich bin es gewohnt, zwischen den Leuten zu sitzen, in Verbindung zu bleiben undsoweiter. Seit ich ein eigenes Büro habe, verliere ich diese Verbindung, zu den neuen Leuten habe ich nicht mehr die Verbindung wie zu den Leuten, mit denen ich noch zusammensass. Aber ich sitze ständig in Calls und wenn nicht, dann sitze ich in meist vertraulichen Zweiergesprächen. Weil ich eigentlich nur noch in dem kleinen Meetingraum sass, bauten mir die Jungs irgendwann klammheimlich meinen alten Arbeitsplatz ab und nutzten den Schreibtisch anderweitig.
Jetzt bin ich von dem kleinen Büro in ein grösseres gezogen. Weil ich ständig Leute bei mir habe, die keinen Platz haben. Ich habe ein grosses Sofa und könnte Basketball darin spielen. Keine Ahnung, warum ich gerade auf Basketball komme, aber das Bild kommt mir richtig vor.

Die Hündin hat viel Platz. Ich habe mehrere Liegemöglichkeiten für sie im Raum verteilt, damit sie sich einen Ort suchen kann, an dem sie sich wohl fühlt. Sie liegt dann aber zwischen meinen Füssen.

Die Wand hinter mir war schwarz. Aber weil meine Haare schwarz sind, mein Bart schwarz ist und meine Kleidung meist schwarz ist, hatte ich Angst in den zahlreichen Calls mit dem schwarz zu verschmelzen. Also liess ich die Wand hinter mir orange streichen. Wegen der Wärme, wegen Optimismus, gute Laune. Jetzt sitze ich davor und meine Webcam kompensiert das intensive orange indem sie den allgemeinen Farbton etwas runterkühlt. Meine Haut hat einen leichten Blaustich, ich sehe nicht sehr gesund aus.

Ich werde ein grosses Bild malen und es hinter mir aufhängen.