amsterdammer Tagebuchnotizen

Viele Dinge fallen mir jetzt erst auf, seit ich seit vier Jahren nicht mehr hier wohne, wie Mikro hier alles ist, wieder so eine Mikrostadt, diese Konzentration halb berühmter Orte, halb bekannter Menschen. Jeroen Pauw macht eine Vollbremsung auf seinem Fahrrad vor einer Traube verwirrter spanischer Touristen, die ihrerseits erschrocken aufspringen und tuscheln, während Pauw freundlich den Kopf schüttelt, mit dieser Luft von „Aj, ihr werdet unser Amsterdam wohl nie verstehen“, dieser merkwürdige Stolz auf diese provinzielle Weltstadt, provinzielles Weltniveau, alles niedlich, klein und knus und gezellig, wie man als in Deutschland Lebender diesen selbstverständlichen Nationalstolz der Holländer genießt, dieser Stolz auf dieses unser Typisches, unsere großen Fenster, unsere Eckkneipen, wie man realisiert wie unprätentiös die Cafes sind, nichts nachahmen, nichts sein wollen, sondern einfach sind.
Während man offenherzig die verlorenen Seelen und gescheiterten Lebensentwürfe aufsaugt, die vielleicht die eigentliche Weltstadt schreiben.
Die Momentaufnahme des auf dem Fahrrad in der Linnaeusstraat erstochenen und erschossenen Theo Van Gogh als Amsterdammer Stillleben.

Die Spiegelgracht hinunter, zigzag Prinsengracht, Leidsegracht um an der Keizergracht in einem langen Bogen immer am Wasser entlang zu meinem Lief am Silodamm zu gelangen. Kulisse. Bloss nicht auf die Singel geraten, dann muss man sich wieder am Grachtengürtel nach außen begeben, dieses hinterlistige Spinnennetz das Dich immer wieder von der Route abbringt, die Unmöglichkeit in dieser Stadt den Norden zu bestimmen, wo ich sonst selbst nachts noch, aus dem Schlaf heraus, sagen kann wo Süden ist. Der Mann und sein innerer Kompass. Wie mein innerer Mann an diesem Spinnennetz scheitert. Ich habe einmal gelesen, dass Spinnen unter LSD die besseren Netze bauen und lache spontan drauflos, beim einfältigen Witz mit dem ich mir erkläre, warum die Besucher dieser Stadt zu Drogen greifen.

Singel, Heren-, Keizer- und Prinsengracht. Nicht Prinsen-Keizer-Heren-Singel. Und Sowieso Keizergracht, ich bin ein Keizergrachttyp. Sie ist mehr der Singeltyp. Und lacht dabei.

Diese Stadt, die viel zu klein ist für den Ruhm den sie genießt. Die Innenstadt ein einziger Vergnügungspark
Wie ich es mir in Amsterdam schon seit je angewöhnt habe Touristenutensilien zu hause zu lassen, keine Knipse, keine große Tasche, wie sehr man sich von den besuchenden Menschenmassen absetzen will, wie sehr man hier die Touristen am Schritttempo erkennt und die Art wie sie ehrfürchtig verweilen, die Grachtenkulisse in sich aufnehmen, und dabei viel zu lange verharren, wegen der vielen Details und noch ein Giebel und noch ein Treppchen, wie schief das Haus und der alte Mann der sein Fahrrad ins Sousterrain schleppt.
Wie ich mir damals als Neuling sofort das Amsterdammer Tempo angewöhnt habe, nicht wie ein Tourist zu wirken, die Kulisse zu lieben, ohne dabei zu erstarren, mit einer weissen Plastiktüte, darin die aktuelle Vrij Nederland und ein Notizbuch, etwas gelangweilt, aber schnellen Schrittes an den Trauben junger Spanier und Trauben junger Italiener vorbei, gefragt werden „Do you know where the next Coffeeshop is?“ und dann nicht genau den Weg zu wissen, aber sehr genau zu wissen, zu was man gerade gemacht worden ist und daraufhin mit dieser typischen hochnäsigen Freundlichkeit mit verwirrenden Straßennamen Looiersgracht, Raamstraat, Lijnbaansgracht um mich zu schmeißen und hochnäsig und freundlich lächelnd, verwirrte spanische Trauben zurück zulassen, die sich mit einem hastigen „Thank you“ bedanken. Und mir dann denken, Gott, was bist Du für ein selbstverliebtes Arschloch manchmal, und drehe mir dann – natürlich im Gehen und ohne die Tüte aus der Hand zu nehmen – eine Zigarette.

Glimlach, wie die Niederländer das Lächeln nennen, bei dem ich unweigerlich immer an das fehlende Glimmen des Lächelns der Servicekräfte denken muss. Die Holländer, die beim Glimlach dann auch nicht an ein Servicelächeln denken, sondern wirklich nur das Lächeln mit einem Glimmen meinen, das Lächeln bei dem es nicht nur an der Fassade, sondern auch dahinter lächelt und rumort. Wie wenig man auf holländisch sagen kann „Setz Dein freundlichsten Glimmlachen auf“, weil man zwar immer lächeln, aber nicht immer glimmen kann, weil es eben nicht immer rumort – hinter der Fassade.
Dieses fehlende Wort: Lächeln.

Beim Vorbeilaufen an den Stationen von früher erinnert werden, an die Geschichten die ich alle noch erzählen sollte, die Krawalle beim Europgipfel, vor Chiracs Hotel, wie wir vor der heranrückenden Staatsmacht flüchteten und einfach in den Kanal sprangen, oder als ich am Amstelufer zwar meinen Herz verlor, dafür aber die besten Fritten meines Lebens aß, oder als ich auf dem Weg zum Westermarkt dachte jetzt sei alles vorbei, alles aus und vorbei, zu ende, und wie es dann doch noch weiterging. Und. Und. Und.

Ah, ganz vergessen, die coolsten Frauen auf der ganzen Welt, die Holländerinnen mit kurzem Rock und hohen Stiefeln bei Wetter und Unwetter auf dem Fahrrad, trotzen sie Sturm und Tram und die allerorts verirrten Italiener, mit stolz und ohne Zucken mit der Wimper.

Den alten S. gesehen. In der Kantine von HEMA am Nieuwendijk. Ich musste daran denken wie ich ihm einmal bei einer Schneeballschlacht am Ufer der Villa Omval einen Schneeball mitten ins Gesicht geworfen habe. Wäre er bloß nicht so unbeteiligt am Rande des Schlachtfeldes gestanden, dann wäre es glimpflicher abgelaufen für ihn. Und nachher, als wir den ganzen Weg zu einer Party in die Spuistraat liefen, er mir stundenlang, nein, tagelang von Guatemala erzählte, vom Kampf der Einheimischen, von der Unterdrückung, romantisch verknüpft mit den revolutionären Guerilleros. Alles Guatemala da beim alten S. Auch als er zu uns in den Stencilkeller kam, wo wir wöchentlich den Springstof klebten und schrieben und druckten, er noch sein Guatemala-Speciaal in unserem Blatt haben wollte.
Ich grüße ihn nicht, er ist zu weit weg. Er ist immer noch alt. Und er trägt rot- und weissgebundene Brochüren unterm Arm. Guatemala wahrscheinlich. Mittlerweile vielleicht Nicaragua.

(reisenotizen 24.01.2007)

Im Zug nach Amsterdam und schon wieder einen falschen Platz reserviert. Ich will schreiben, ich will Strom, aber ich mag es nicht, an diesen Vierertischen zu sitzen. Ich hatte die Bahnschalterdame gebeten mir einen Platz mit Strom zu geben, jedoch nicht an den Vierertischen, sondern genau dahinter.

Es könnte schliesslich geschehen, dass eine hochschwangere Kuh auf den Gleisen steht und der flitzende ICE auf die Vollbremse treten muss. Ich bin im Besitz einer allzu lebhaften Phantasie und ich weiss es mir ziemlich detailiert auzumalen, wie mein Tischgegenüber bei einer Vollbremsung oder einem Frontalaufprall von diesen Tischen entzweigerissen wird. Und wenn es schon sowas gibt wie Qualität bei der Deutschen Bahn, weil in Deutschland ja alles Qualität haben sollte, dann sind diese Tische bestimmt qualitativ übergeprüft und qualitätsversiegelt, sodass sie erst recht nicht nachgeben wenn eine hochschwangere Kuh auf den Gleisen steht.
Und immer wenn ich an diesen Vierrertischen sitze, habe ich zudem das Pech mit dem Rücken zur Fahrichtung zu sitzen, sodass ich zwar, bis zum Tod hin, in den Sessel gequetscht werde, das könnte ich in Ausnahmesituationen (der eigene Tod beispielweise) noch verkraften, aber, dass ich mich noch in meinen letzten Lebenssekunden mit dem blutenden Oberkörpers meines Gegenübers abmühen muss, das muss nun wirklich nicht sein.

Jetzt lacht er noch, der dicke Mann mir gegenüber, beisst vergnügt in sein Wurstbrot und kaut mit offenem Mund, während er den Hals streckt und verstohlen in mein Notizheft schielt. Ja, jetzt lacht er noch. Ich lache schon lange nicht mehr zurück, wenn ich bald mit blutverschmiertem Anzug dasitze, weil sein Rumpf mit Kopf und Armen an mir kleben wird und das zerkaute Wurstbrot oben, oder mitten aus dem Bauch heraus, hervortritt. Nein, ich lache nicht mehr. Ich schweige aber und schaue den grasenden Kühen hinterher.
Und der Mann ist irgendwie sauer geworden.

südtiroler Tagebuchnotizen

Ich will einen Rosengarten.

In Lana die Großmutter eines Freundes besucht. Sie ist schon alt, ich weiß es nicht in Jahreszahlen, aber sie bewegt sich trotz reichlichem Altersspeck an Hüften und überall, wie eine junge Frau durch die Räume ihres hunderte von Jahren alten Bauernhauses. Sie setzt uns in der Küche ab und fragt uns ob wir einen Kaffee trinken. Wir nicken. Während sie in einem unaufhaltsamen Redeschwall davon berichtet welch ein Pech sie in letzter Zeit immer mit dem Mürbeteig habe, hantiert sie kontrolliert und geplant mit Kannen, Pfannen auf dem Holzherd herum, sagt, dass sie das nicht verstünde, sie verwende immer noch das selbe Rezept wie früher, wie schon immer halt, aber seit ein paar Wochen – als wäre der Teufel darin. Vielleicht läge es am Wetter, sie weist mit der Hand aus dem Fenster über die Apfelwiesen hinaus und sagt, auch die Nachbarin da drüben, der ginge es genau so. Es habe seit drei Monaten nicht mehr geregnet, es sei kein Wunder, sowas geht auf den Teig. Als sie den Satz zuende gesprochen hat, stehen vier Tassen auf dem Tisch, der heisse Kaffee raucht aus der Kanne, zwei weitere Kannen, eine mit warmer, die andere mit kalter Milch, ein Pot Zucker und eine Schale Weihnachtskekse. Production effectiveness, denke ich, und schäme mich ein wenig dafür.
Unnötig zu erwähnen, dass sie sich für die misslungenen Kekse entschuldigt. Der Teig halt. Ich esse beinahe ein Dutzend davon, einige lasse ich ich langsam auf dem Löffel im Kaffee versinken und lutsche sie dann auf. Sie ist erfreut.

Es nützt einem die ganze Aufmachung nichts wenn man mit blauer Tasse am Glühweinstand in der UniBozen steht. Man bestellt hier Glühwein in einer weissen Tasse oder Glühwein in einer blauen Tasse. Weiß für den Ausbau des Ausbau des Bozner Flughafens, blau dagegen. Natürlich bin ich dagegen. Für solche Entscheidungen brauche ich keine pro/contra Argumente serviert bekommen. Wenn man Barrikaden angezündet hat, dann ist man auch gegen einen Flughafenausbau. Egal wo, egal warum & vor allem egal wie. Im Notfall auch mit einer blauen Glühweintasse.
Es nützt mir mein ganzer neuer Anzug nichts, dass ich mir wie ein altmodischer Bombenleger vorkomme während ich an einem der Stehtische beim Glühweinstand stehe und diese Zeilen in mein Notizheft schreibe, während ich von lauter jungen und gutaussehenden Studenten umgeben bin, die allesamt aus weißen Tassen trinken.

Den Flieger vor der Haustür wollen sie alle. Ich möchte ihnen gerne sagen, dass ich, obwohl ich in einer ziemlich großen Stadt mit einem internationalen Flughafen wohne, genau so lange mit S- und U-Bahn zum Flughafen brauche, wie sie von Bozen zum Flughafen in Verona. Mit dem Auto sind sie sogar noch schneller.
Ich überlege kurz aus welchem Grund ich ihnen dies sagen möchte. Damit sie vielleicht ein realistischeres Bild der geographischen Abstände bekommen, oder will ich ihnen sagen, dass sie sich einfach damit abfinden sollten in der Scheißprovinz leben und nicht jede Scheißprovinzstadt einen Scheißriesenflughafen braucht?
Ich merke jedoch, dass beides das selbe ist, zudem furchtbar überheblich. Ich schließe besser gleich mein Notizheft und saufe contra. Diskussionen sind so achtziger.

Bozner Stationen ablaufen.

Der Stammbriefträger Gianni sieht trauriger aus als sonst, als ich ihn zur Mittagszeit, der besten Postzeit, ins Wirtshaus schlendern sehe. Gianni ist der Briefträger des Dorfes seit ich weiß was ein Briefträger ist, das heißt, Gianni ist für mich der Inbegriff des Briefträgers überhaupt. Und Gianni sah immer ein bisschen traurig aus. Er sitzt gerne vormittags im Wirtshaus, mit traurigem Gesicht beim Glasl Roten. Dort bleibt er sitzen und schweigt, bis er die Post ausführen muss. Er kommt aus dem Unterland, ist Italiener, er kann zwar kein Deutsch, spricht aber fließend Südtirolertaitsch, sofern er überhaupt etwas sagt und nicht wie üblich nachdenklich in den Rotwein starrt. Gianni ist ledig geblieben, hat ein freundliches, aufgeschwemmtes Gesicht, eine rote Nase, rote Augen und wenn die Postzeit naht, wankelt er ein bisschen unsicher, aber immer sehr zielstrebig zu seinen Dreiradler, ein dunkelblauer Ape, weil er keinen Führerschein hat, womöglich keinen haben darf, fährt zur Post neben der Kirche und füllt das Kistchen auf der Ladefläche mit Briefen und manchmal ist auch das ein oder andere Paket dabei. Die Briefe kommen manchmal ein bisschen spät an, das Gasthaus kreuzt oftmals seinen Weg, aber verschwinden tut niemals was. Wegen Gianni kommen auch solche Brife an die damals schlichtweg „An den Mek“ adressiert waren. Weil Gianni wusste wo dieser wohnte.
Aber Gianni sieht jetzt trauriger aus als sonst und ich weiß spätestens warum, als ich kurze Zeit später einen grauen Fiat Panda mit dem Schriftzug Poste Italiane über den Dorfplatz jagen sehe.

„Hic patriae fines siste signa. Hinc ceteros excoluimus lingua legibus artibus“

Diese großartige Erkenntnis, an einem einzigen Tag des Herumschlenderns in Bozen die halbe südtiroler Prominenz gesichtet zu haben, mit Eva Klotz am Tisch gesessen, den Chefredakteur der FF gegrüßt, Zeitung gelesen, aufgeschaut und drei Tische weiter dasselbe Gesicht sehen wie das im Bild des eben gelesenen Artikels. Abends auf einer art Studentenparty in einer weitläufigen Bozner Altbau-WG läuft ein freundlicher, älterer Herr mit einer Dose Forstbier an mir vorbei, verabschiedet sich links und rechts und verlässt das Haus. Man sagt mir das sei der neue Bozner Bürgermeister gewesen.
Diese südtiroler Mikrowelt, diese Mikrowelthauptstadt. Ich habe sie immer schon geliebt.

Die Frau im einzigen Tabakladen meines Dorfes kenne ich schon lange. Sie ist eine sehr verschwiegene Frau. Meistens hat sie nichts zu tun. Sie sitzt den ganzen lieben Tag in ihrem dunklen Miniladen, strickt oder häkelt, wirkt jedesmal überrascht wenn Kundschaft ihren Laden betritt, ein bisschen blass ist sie geworden in ihrem Laden, aber fröhlich war so ohnehin noch nie, besonders freundlich eigentlich auch nie, einfach nur gleichgültig freundlich, es wurde lediglich gegrüßt, der Wunsch genannt und abgerechnet, schon früher als ich immer zwei Schachteln MS für meinen Vater kaufen musste, und auch später noch, als ich Marlboro für mich selbst kaufte. Die einzige Gefühlsregung die sie je von sich gab, war vielleicht als ich das erste mal Tabak wollte, holländischen Samson, als sie kurz innehielt, mich verstört ansah als hätte ich einen unglaublich eigenwilligen Wunsch gehabt, suchte dann aber wortlos ihr dunkles Regal ab und zog die gewünschte Packung hervor.
Dieses mal bestelle ich wieder Samson, sie nennt den Preis, ich zahle und beim Verlasen ihres Ladens sagt sie noch „Pfiati“ und lässt sich daraufhin zu einem Ausbruch ungekannter Emotionalität aus, indem sie meinen Namen an der Abschiedsfloskel hängt. „Pfiati Mek“.
Ich bin gerührt, halte kurz inne – und wünsche ihr eine frohe Weihnacht.

In Völs alte Zeiten heraufbeschworen. Sabine lädt ein zum Punkkonzert in Jugendzentrum, mit der selben Band wie früher, den selben Freunden wie früher und vorab eine ordentliche Portion Speckknödel.
Wir haben Pogo getanzt und Bier in die Menge gekippt. Ein junges Punkmädel kommt zu Sabine und sagt wie schön es sei, dass wir alte Leute auch einmal auftauchen und dermaßen die Sau raus lassen.
Georg und ich gehen hinaus eine Zigarette rauchen, man darf sich in Italien sonst nirgendwo mehr Zigaretten anzünden. Wir lehnen an einer Mauer, etwas abseits von den Irokesenkämmen und finster gekleideten jungen Leuten und ich sage, wie sehr es mich freut, dass unsere Tradition des Punkrock immer noch so lebhaft weitergelebt wird. Er nickt und hin und wieder weht ein süßlicher Rauch zu uns herüber.
Je länger wir dastehen und unsere Nachfolger betrachten, desto unruhiger werden die Blicke der jungen Leute. Georg sieht an uns herunter und sagt, wir sähen aus wie von der D.I.G.O.S (Politische Abteilung der Polizei) oder von der Anti-Droga. Er hat recht. Wir verwirren unser Haar, lehnen uns noch eine Spur lässiger und abgerockter an der Mauer an, doch als wir uns wieder durch die rauchende Menge nach drinnen schieben wollen, macht man uns erschreckt den Weg frei.

Diese Vorsicht die mich in der Heimat stets begleitet, den jungen Leuten begegnen die immer noch an der selben Fleischtheke stehen, bloß wenig vom eigenen scheinbaren Erfolg erzählen, ihnen nicht das Gefühl geben, sie hätten etwas verpasst im Leben, wenn ich meine ausländischen Stationen aufzähle, schon fast ein wenig verschämt zu sagen, jetzt in Hamburg zu leben, und nicht mehr in Madrid wie letztes mal. Das Hamburg dahingeworfen, als sei es ein schlichtes Kaff und mein Leben gleich ihrem an der Fleischtheke nur in anderer Kulisse.

Meine zuckerkranke, übergewichtige und vom Bluthochdruck geplagten Tante in Mölten beim atemlosen hecheln über den Friedhof begleitet. Ich liess mir die Geschichten der Verstorbenen erzählen, was dem und dem widerfahren sei, warum diese vier Kinder das gleiche Sterbedatum haben und warum so viele Kinder überhaupt.
Erzählungen von Geisteskrankheiten, Muttermord, Erbkrankheiten, Selbstmord, Leberkrebs.
Ich mag meine Tante mit dem ledernen Gesicht sehr. Ihr Händedruck ist etwas schwach geworden in den letzten Jahren, wobei sie früher ganze Wiesen von Hand mit der Sense mähte. Auf dem Weg zum Friedhof muss sie einige male innehalten, auf Atem komme, alles pocht so sehr in ihr drin. Reden ist für sie schon lange schwierig, nicht nur inhaltlich, der kurze Atem, der kurze Atem.
Meine Schwester weist auf die leere Ecke des Grabsteines ihres Familiengrabes hin. Meine Tante hechelt, lächelt und träufelt ein wenig Weihwasser auf das Grab ihrer Familie.

Kaminwurzen

Viel zu viele Dinge und viel zu viele Menschen verpasst.