Berlin

(Erschienen in der Anthologie “Berlin. Oder so.” Thomsen Verlag, Berlin.)

Als ich ‘93 nach Berlin zog, war ich achtzehn und hatte einige Monate vorher im Streit das elterliche Haus verlassen, weil ich nun eben achtzehn war und endlich dieses magische Alter erreicht hatte, das mich auch gesetzlich für mich selbst verantwortlich machte. Gesetzlich für mich selbst verantwortlich, das klang ähnlich wie Freiheit, nur besser. Und so entledigte ich mich aller Unfreiheiten, brach die Lehre ab, brach alles ab, das Band zu den Eltern, und nahm in jenem Sog auch gleich die Freundschaften mit, die schon länger keine Freundschaften mehr waren.
Ich wohnte mit einem Freund in seinem rostigen Ford Fiesta auf einem Parkplatz in Bozen, wo früher mal ein besetztes Haus gestanden hatte, das einzige das Südtirol jemals zu Gesicht bekam, das Ex-Monopolio. In den frühen Achtzigern als Terroristenhochburg verschrien, wobei es eigentlich bloß eine kurzlebige, kreative Aktion eines kulturellen Dachverband ohne Dach war, ein Projekt, das sich selbst innerhalb eines Jahres ausverkauft hätte, wenn es nach zwei Monaten nicht geräumt worden wäre, weil in den Bergen damals, und vielleicht auch heute noch, die Zeit für einen kulturellen Umsturz einfach nicht gegeben war. Aber seit der Räumung und anschließenden unmittelbaren Abriss, klaffte da diese Baulücke seit Jahrzehnten so vor sich hin, während die Landeshauptstädtler ihre Autos dort parkten, weil sonst ja nur Unkraut wuchern würde. Dieser neue Parkplatz war schließlich mitten in der Altstadt. Nur nachts, ließ man das Auto da besser nicht stehen, weil dort die Junkies in den ausgebrannten Wagen schliefen und die Ratten dort hausten, weil es keinen Asphalt gab, sondern nur die Erde, und den plattgefahrenen Schutt des früheren Gebäudes, so dass es immerfort staubte, und wenn es regnete war der Ort eine einzige Pfütze.

Ich ließ mich treiben, meine Lehre hatte ich abgebrochen, weil, was wollte ich schon in der Druckerei, wenn die Revolution da draußen irgendwo lauerte. Nicht in Bozen natürlich, sondern da draußen hinter den Bergen, im fernen Deutschland, wohl in Berlin, da wo die Bilder von den brennenden Barrikaden herkamen. Meine Lehrer hatten meinen Eltern früher immer nahegelegt ich solle doch studieren, erstmal in die Oberschule, die Matura absolvieren, und dann würde mich die Lust am Lernen schon ergreifen. Ich hätte ja viele Fähigkeiten und zeige überaus großes Interesse an Erdkunde, Geschichte und Sprachen. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, mich mit einem großen “Genügend” auf dem Zeugnis von der Pflichtschule zu schicken, mit dem verblümten, schriftlichen Verweis, ich tauge nur für die Arbeitswelt.
Vielleicht hatten sie bloß die Schnauze voll von mir, weil ich ihren Motivationsreden nicht zu folgen gedachte. Mag sein.
Aber auch in der Arbeitswelt wurde ich nicht glücklich. Als sich meine Haare erst weiß, dann grün verfärbten, rief mich schließlich der Geschäftsführer meiner Lehrstelle ins Büro und legte mir nahe, dass er etwas gegen meine Haarfarben unternehmen müsse, dass das so einfach nicht ginge, dass er mich vor den Kunden verstecken müsse, falls mal einer durch die Fabrik lief. Zwei Stunden später reichte ich meine Kündigung ein.
Und so verbrachte ich meine Tage im Ford Fiesta, las Baader-Meinhof-Komplex und Nietzsche, betrank mich abends auf dem Walterplatz, oder wir machten Wohnungsparty mit ein paar Freunden im Ford Fiesta, zu Ton Steine Scherben und Slime.

Bis der Freund und ich beschlossen nach Berlin zu fahren. Er hatte ein Jahr vorher, beim Äpfelpflücken ein paar Berliner kennengelernt und seitdem waren diese Bekannten aus dem hohen Norden immer wieder ein Thema gewesen, als ob man etwas Gutes in Aussicht hätte, woran man sich in schlechten Zeiten festhalten kann. Man hatte Bekannte in Berlin, das war etwas Wertvolles, das war mir mehr Wert als verliebt zu sein.

An einem Mittwochmorgen, oderso, nach dem letzten Tag seines Zivildienstes, drehte er nach dem Aufwachen, anders als sonst den Schlüssel um und wir gingen eine zwölfstündige Autofahrt an. Wir hörten deutschen Punkrock, tranken ausnahmsweise mal keinen Rotwein aus der Flasche, sondern Wasser, oder Cola, weil es sich bei solch großen Abständen nicht empfiehlt betrunken am Steuer zu sitzen, weil man schließlich nicht bloß auf einer Landstraße von einem Berg herunter auf den nächsten hinauf fuhr, sondern auf der Autobahn, auf der Autobahn nach Berlin, und das war eben wie aufregend, wie früher Urlaub ans Meer, oder halt hinüberfahren in eine andere Welt, Aufbruch in eine bessere und schlechtere Welt. Schon ab dem Brenner schien die Welt sich zu verändern, wenn man Berlin in Aussicht hatte. Die Berge wurden immer kleiner. Irgendwann waren wir in Deutschland und bloß noch Hügel um uns herum, bis dann auch das lang ersehnte Flachland kam. Und Rio Reiser sang aus den blechigen Lautsprecherboxen des schwarzen Ford Fiestas.
Mein Freund wollte bloß eine Woche bleiben, deshalb legte ich ihm gleich schon nahe, dass ich nicht daran dachte, mit ihm zurückzufahren, sondern erstmal in Berlin zu bleiben. Weil ich weg musste, weil ich in den Bergen gerade nichts verloren hatte, weil ich mich eingeschränkt fühlte, weil ich andere Ideen darüber hatte wie ich mir die Welt und die Welt um mich herum gestalten wollte. Ich wollte keinen vorhersehbaren Lebenspfad durchlaufen, ich wollte mich auf kreativer Art und Weise durch das Leben schlagen.

Dann tauchte irgendwann, schon spät in der Nacht, diese riesige Stadt auf. Erst viele Autobahnkreuzungen, mit Schildern nach links und nach rechts, nach Berlin-Wannsee, nach Berlin-Neukölln, Berlin-Pankow, Berlin-Moabit, Berlin-Mitte, Berlin-Lichtenberg, dieses Berlin hatte viele Herzen die schlugen, und viele Adern, durch denen wir uns bald treiben liessen, ja schon auf der Autobahn, wo ich nur die Schilder gesehen hatte, trieb ich schon durch einer dieser Adern. Dahinter pulsierte irgendwo dieses Berlin mit seinen vielen Herzen, das mich gerade aufzusaugen schien, weil ich seinem Gravitationsfeld schon ausgeliefert war, und die Lichter der vorbeiziehenden Häuser mich schweigend begleiteten auf den Weg in das immer lauter schlagende Mittelherz. Mein Freund und ich wir schwiegen. Andächtig beobachteten wir wie die Stadt uns aufnahm und uns den Weg zum Ziel wies.

Ich hatte nie das Gefühl, wirklich angekommen zu sein, auch nicht, als wir tatsächlich am Ziel waren, in der Dunckerstraße ausstiegen und mein Freund mir sagte, dass er die Hausnummer gar nicht genau wisse, irgendwas mit siebzig, in einem Hinterhof. Ich wollte gar nicht ankommen sein, ich suchte einfach nach dem richtigen Haus, als ob es der nächste Schritt auf der langen Reise wäre. Ich mochte die spärlich beleuchtete Straße, die verlotterten Häuser, die offenen Tore durch die man in dunkle, verwilderte Hinterhöfe kam, wo dann noch ein weiteres Haus stand, das in der Nacht noch viel verwahrloster aussah, wir liefen durch die schlecht beleuchteten Treppenhäuser, auf der Suche nach einer Klingel mit dem Namen des Bekannten, von Stockwerk zu Stockwerk, jede Tür war anders, die eine beklebt mit hunderten Aufklebern, die andere schwarz angemalt, eine zugenagelt, eine andere Rot, AntiFa-Sticker, Parolen, aufgesprühte Sprüche, dann ein weiterer, noch weiter dahintergelegener Hinterhof, meistens hörte man irgendwo Musik, ohne genau zu wissen woher sie kam, die Stadt war wie ein riesiger und geheimnisvoller Organismus, voller Details und Bilder.
Schließlich fanden wir ein paar Häuser weiter die richtige Tür, wurden herzlos, jedoch freundlich empfangen als ob wir die Nachbarn von nebenan wären, eine Wasserpfeife mit Haschisch wurde uns vor die Nase gestellt und die anwesenden Leute sprachen mit uns und alles ging in Nebel auf.

Und der Nebel blieb, die ganzen nächsten Tage, Wochen, Monate. Wir wurden gleich in den Freundeskreis aufgenommen, ich konnte manchmal gar nicht wirklich sprechen, so sehr war ich immer noch auf Reisen. Und die Menschen kamen mir alle so weise vor und hatten alle so viel erlebt, sprachen eine Sprache die zwar dieselbe war wie meine, die aber so viel schöner und bestimmter floss, als meine Sprache die nach Bergen klang und sich anhörte wie ein verkrampfter Versuch, ebenso eine selbstverständliche Gelassenheit anklingen zu lassen. Ich habe diese warme Arroganz, wie ich sie damals empfand, nie imitieren können, so sehr ich mich auch angestrengt habe. Ich hörte einfach nur zu, auch wenn sie von Kalle und Motze sprachen, die ich alle nicht kannte, und ich dem Erzählten eigentlich gar keine Beachtung schenkte, sondern bloß den Klängen horchte und dem Nebel nachschaute. Das waren keine Hippies, wie sie bei uns in den Bergen waren, die sich herrichteten um so auszusehen wie sie eben aussahen, nein, das waren Leute die schmutzige Kleider hatten, weil sie keine Waschmaschinen besaßen und nur einmal alle heilige Zeiten die ganze dreckige Wäsche packten und zum Waschen brachten. Das Leben klebte ihnen regelrecht an der Haut, und die Wohnungen waren nicht geschmackvoll eingerichtet, sondern hatten sich im Laufe der Zeit von alleine geformt, zu dem was sie geworden waren, eine wilde Ansammlung von ungebrauchten Gebrauchsgegenständen die sich weiterformten mit der Zeit, ohne dass dem jemand wirkliche Aufmerksamkeit schenkte, wie ein Wald meinetwegen, der auch nur eine Symbiose von wachsen und absterben ist.

Mein Freund verließ die Stadt nach einer Woche und ich übernahm die Wohnung eines verwahrlosten Punks in der Marienburgerstrasse, der die Stadt oder das Land verlassen musste, da er irgendwas angestellt hatte, ich weiß nicht mehr was, und wohin er gehen würde, das wusste auch niemand. Ich habe ihn seitdem auch nie mehr gesehen. Einen Schlüssel hatte ich nie bekommen, die Tür hatte gar kein Schloss, weder die Haustür, noch die Wohnungstür. Die Wohnung wurde mir schlichtweg mündlich übergeben. Jeder schien diese Art von verlotterten Wohnungen zu haben. Ein großes Zimmer, eine Küche, und ein Gemeinschaftsklo im Zwischengeschoss. Ich habe nie nachgefragt wem die nun gehörten, oder wieviel man dafür Miete bezahlte. Sie waren einfach da und die Wohnungen boten Platz.

Auch wenn ich nun eine Bleibe hatte, die ich etliche Monate benutzen konnte, hielt ich mich kaum darin auf. Höchstens zum Schlafen, wenn ich Nachts noch genug Kräfte hatte, mich nach Hause zu schleppen, sonst blieb ich einfach dort liegen, wo ich hingefallen war, auf einer Party, bei einem Bekannten, oder sonstwo. Das machte jeder. Die Wohnung war eine regelrechte Müllhalde gewesen als ich sie übernommen hatte. Natürlich kam ich nicht auf die Idee sauberzumachen. Ich dachte einfach das wäre gut so, Chaos war ja überall und, dass der Vormieter einen Eimer voll Fäkalien in der Küche stehen hatte, war bestimmt in Ordnung. Zwar fand ich es etwas ärmlich von ihm, dass er nachts nicht in die geteilte Toilette ins Zwischengeschoss laufen könne um seine Ausscheidungen loszuwerden -das waren schließlich nur ein knappes Dutzend Stufen- aber ich fand es auch nicht schlimm, so war das halt, man ließ jeden tun was er tun wollte, und weil die Küche sowieso ein ekliger Ort war, von faulenden Speisen und generellem Abfall übersäht, mit Insekten und komischen Verfärbungen die sich über Herd, Schrank und Boden hinzogen, deshalb also ließ ich die Küche eben Küche sein. Ich glaube ich habe bloß zweimal die Küche betreten, einmal zur ersten Begutachtung und das zweite Mal, als ich ein Messer suchte um mir ein Brötchen zu schmieren. Was ich jedoch in der Schublade vorfand, verdarb mir jeden Appetit, worauf ich einfach die Tür hinter mir zuzog und mich dem Besuch im Schlafzimmer zuwandte.

Das Brandenburger Tor habe ich nie zu Gesicht bekommen, ich wusste gar nicht was das war. Jetzt im Nachhinein betrachtet, kannte ich es natürlich schon, das steinerne Gebäude mit den vielen Säulen und irgendwas mit Engeln oder anderem Geflügel obendrauf, da wo ein großer Bogen Mauer drumherum gebaut war, was man manchmal auf Fotos oder Postkarten sah. Nur, wo das stand, das hätte ich nicht sagen können. Berlin war für mich die Stadt der Feuer und der angemalten Fassaden, nicht des Brandenburger Tores. Ebensowenig hatte ich eine Ahnung vom Reichstag. Allerdings hatte ich die Gedächtniskirche am Kurfürstendamm zu Gesicht bekommen. Nicht dass ich gewusst hätte was das war, aber sie gefiel mir ganz gut, nachdem mir meine Begleitung im Vorbeigehen erklärte, dass diese Kirche den Krieg gedenken sollte. Ich mochte die Tragik die von der Kirche ausging, wie sie da stand, ganz verrußt und der feinen Schnörkeln entledigt. Aber der Großteil des Westens der Stadt, vor allem um den Kudamm herum, erregte bei mir Widerwillen, und wir liefen dort nur vorbei, weil wir da irgendetwas, das ich schonwieder vergessen habe, zu erledigen hatten.

Bis auf diesen einmaligen Besuch des Kudamm, der umliegenden Gegend, und einige Ausrutscher nach Kreuzberg („Ihr kriegt und hier nicht raus! Das ist unsa Haus!“), habe ich den Osten der Stadt -also Prenzlauer Berg, Mitte und Friedrichshain- gar nie verlassen. Vielleicht weil der Osten der Stadt in den ersten Jahren nach der Wende viel aufregender war, oder jedenfalls kam es mir so vor, ich weiß es nicht sicher, ich habe den Vergleich nicht, aber es gab keinen Grund in den Westen zu verreisen, wenn ich ganze Nächte auf dem Helmholtzplatz in Gesellschaft und mit ein paar Schultheiss verbringen konnte, während oben, im niemals dunkel werdenden Himmel über Berlin, die paar Sterne, die hell genug waren, um die Dunstglocke und Lichter der Stadt zu überstrahlen, vor lauter Hasch und LSD, hin und her tänzelten. Wenn es regnete oder kalt war, dann ging man mit dem tagsüber erlotterten Geld in die Schliemannkneipe in der Schliemannstrasse —die heute, dem Zeitgeist gemäß Schliemanncafe heißt— und kaufte sich einen doppelten Whiskey für 2,50 Mark. Da gab es auch eine Kellnerin, die immer den Eindruck machte, als ob sie sich jedesmal über meinen Besuch freuen würde, und mir oft ungefragt einen Whiskey einschenkte, vor allem wenn ich verdattert dreinguckte. Jedoch, sobald ich mir ein paarmal meine Schüchternheit vom Leibe getrunken, und versucht hatte, ihr in einem Gespräch etwas näher zu kommen, entgegnete sie mir immer mit einer so abweisenden Kälte, dass ich gleich einen Schnaps nachgiessen musste, um sämtliche schockgefrorene Organe in meiner Brust wieder zum Auftauen zu bringen.

Meine zwanzig Mark, die ich bei meiner Ankunft in Berlin bei mir hatte, waren natürlich schnell aufgebraucht, auch wenn das Bier und das Leben billig war. Aber Geld spielte damals keine Rolle. Das war bloß ein Mittel, sich ein Getränk in der Kneipe zu leisten, oder sich was warmes zum Essen zu beschaffen. Das kalte Essen ließen wir im Supermarkt in tiefe Innentaschen der Jacke verschwinden. Ich hatte mir vorgenommen, kreativ zu sein beim Anschaffen von Geld, ich wollte auf dem Alexanderplatz Musik spielen, oder mit ein paar Freunden irgendetwas ausdenken, ein Theaterstück, oder sonst etwas mit Kunst. Aber mein Leben in Berlin ging in einer steilen Linie sehr schnell bergabwärts, und so fand ich mich schon nach wenigen Wochen, nachts auf dem Rosa-Luxemburg-Platz zurück, wir einen einsamen, betrunkenen Naziskinhead, der an der Straßenbahnhaltestelle sitzend auf seine Bahn gewartet hatte, die Brieftasche aus der Bomberjacke prügelten. Mit Schlägen wurde nicht gespart, man wusste genau, dass er das in der umgekehrten Situation auch machen würde. Jedenfalls redete man sich das ein. Dass wir dadurch nur zu noch mehr Hass und Verfeindung ankurbelten war uns egal, falls wir überhaupt daran dachten. Das Glatzenklatschen wurde zum regelrechten Sport. Ich befreundete mich mit einigen Hausbesetzern aus dem Friedrichshain, die gewisse Strassen kannten, wo sich die Nazis sicher wähnten und daher auch vereinzelt bewegten. Dort lauerten wir ihnen auf. So ähnlich muss sich wohl das Jagen auf wilde Tiere anfühlen, wie wir da springgestiefelte Bomberjacken durch Seitenstraßen, Hinterhöfe und Treppenhäuser hetzten. Ich muss heute noch an das Bild dieses einen Naziskins denken, dieses Bild, das mich noch lange verfolgte, wie er zusammengekauert in einer Ecke unter der Treppe saß, seinen Hände zitternd über den Kopf gelegt und wimmerte, dass er kein Nazi sei, sondern bloß ein Fußballfan, wir sollen ihm doch nichts tun. Aber wieso sollten wir ihm auch glauben, wenn wir gar nicht glauben wollten. Überdies begleitete uns zweifellos das Gefühl, etwas Gutes für die Welt zu tun. Vor allem sah ich mich in meinen Taten regelmäßig bestätigt, in einer Nacht beispielsweise, als ich nichtsahnend die Prenzlauer Allee überquerte, auf der anderen Straßenseite eine Gruppe Bomberjacken mit Hunden stehen sah, und ich dann hinter mir, laute, unverständliche Rufe hörte. Ich drehte mich daraufhin um, und sah an der Currywurstbude weitere Bomberjacken in meine Richtung blicken. Die Gruppe auf der anderen Straßenseite kam auf mich zu und die anderen legten ihre Currywurst beiseite und taten dasselbe. Von dem Moment an kann ich mich nur noch erinnern, dass ich lief und lief, und jedesmal wenn ich mich umdrehte, sah ich Hunde und große, glatzköpfige Männer mit schwingenden Knüppeln. Das Patrouillieren solcher Schlägertrupps in voller Ausrüstung war damals keine Seltenheit, aber es geschah nicht oft, dass sie bis zum Prenzlauer Berg vordrangen. Ich hatte Glück, dass es damals eine verlassene Tankstelle an der Ecke Wisbyer Str. / Prenzlauer Promenade gab, die völlig mit Gebüsch und hohem Unkraut zugewachsen war. Ich schmiss ich mich ins Gebüsch und blieb selbst von den Hunden unentdeckt, obwohl ich vor lauter Angst und Dreck am Leib, aus hundert Metern Entfernung gestunken haben musste.

Des Geldes wegen waren Nazis eine schlechte Beute. Höchstens auf deren Bankkarten gab es vielleicht Geld, aber das fanden wir nie heraus, obwohl wir so naiv waren und immer die Karten in den Automaten schoben und anhand von Vermerken auf Notizzetteln in der Brieftasche, glaubten, den Code entschlüsseln zu können. Alles was blieb, war, dass wir sabbernd vor dem Bankomatenbildschirm verschiedene Nummern eingaben, bis nach dem dritten Versuch die Karte gesperrt blieb.
Es war ein Hin und Her von jagen und gejagt werden, bis auf ein einziges Mal, bei dem es nach regelrechter Razzia aussah. Ich betrat ohne böse Vorahnung einen Dönerladen in der Dunckerstraße, und trippte völlig auf LSD vor mir her, setzte mich in eine Ecke und wartete auf das Essen, als ich plötzlich durch eine einfallende Fensterscheibe aus meinen Träumen gerissen wurde. Als ich meine Augen soweit hinbekommen hatte, dass sie halbwegs naturgetreue Farben und Formen widergeben konnten, sah ich, wie fünf Nazis mit langen Baseballkeulen das Lokal erstürmten.
Einer davon drosch gleich auf den Türken ein, der ganz vorne beim Fleischspieß mir mein Essen zubereitete und —obwohl er ein langes Messer in der Hand hielt— sich bloß duckte, und seine Arme, samt Messer zum Schutze über sich hielt. Trotz Drogen begriff ich sofort, was geschah, vielleicht war es eine Art Instinkt, den ich mir mit der Zeit angeeignet hatte und der bei Glatzköpfen sofort auf Automatismus schaltet (später als ich nach Holland zog und dort die Mode des glatzköpfigen Techno-Gabbers aufkam, brauchte ich Jahre, um nicht jedesmal einen Herzstillstand zu bekommen, wenn ich nachts auf Gruppen von denen stieß) mein Herz schien jedenfalls für einen Moment stillgestanden zu haben, ich glaube, ich schlotterte von oben bis unten und nahm schließlich die Beine in die Hand. Wie ich aus dem Laden herauskam — ich weiß es bis heute nicht. Ich lief einfach los, auf den Eingang zu, vor dem sich die glatzköpfigen Schränke aufgebaut hatten, und stand plötzlich unversehrt draußen vor dem Lokal. Ich rannte weiter in eine Kneipe in der Stargarder Straße, die ich manchmal besuchte, weil dort ein oft ein Mann saß, der mich für wenig Geld tätowieren wollte, und wo ich wusste, dass es dort Leute gab, denen die Nachricht von schlägernden Nazis in der Dunckerstraße sehr zu Herzen gehen würde. Viele der Anwesenden eilten daraufhin sofort zu Hilfe. Aber es waren schon weitaus mehr Leute alarmiert gewesen: ich konnte mehrere Gruppen an der Kreuzung mit der Dunckerstraße sehen, die sich in Richtung Süden bewegten. Wahrscheinlich war die Schlägerbande schon seit einiger Zeit unterwegs gewesen. Ich war mit mir selbst völlig überfordert nach diesem Zwischenfall. Das LSD spielte den ganzen Rest der Nacht grausame Spielchen mit mir, Verfolgungswahn, jeder Mensch den ich begegnete schien glatzköpfig zu sein, und selbst zurückgezogen in der Wohnung eines Freundes, bei dem ich angeklopft hatte weil ich mich nicht alleine nach Hause traute, erschien mir jedes Geräusch außerhalb des Hauses in Verbindung mit unmittelbar angreifenden Rechtsradikalen zu stehen.
Ich weiß nicht mehr was mit den Nazis in jener Nacht noch weiter geschehen ist. Ich hatte nie mehr nachgefragt weil es mich eine ganze Zeit lang nicht interessierte. Mein Horrortrip in jener Nacht hallte noch lange nach.
Es war das letzte Mal, dass ich LSD genommen habe.

Tagsüber saßen wir auf dem Brunnen vor dem Kaufhof am Alexanderplatz herum -dort wo ich ursprünglich eigentlich Musik machen wollte, wozu aber inzwischen jegliche Motivation fehlte- und schnorrten die Leute um Geld an. Der Plan, mich kreativ durchs Leben zu schlagen, war schon lange missglückt, bevor ich es überhaupt ahnte, wie das halt so ist, wenn man sich treiben lässt und keinerlei Antrieb hat.
Inzwischen war ich zusammen mit einem Freund, der sich bei mir in der Marienburger Straße einquartiert hatte, in eine andere Wohnung an der Prenzlauer Promenade umgezogen, das Haus neben der rettenden Tankstelle damals, eine Einzimmerwohnung die wieder von einem Bekannten, der für unbestimmte Zeit verreist war, hinterlassen wurde. In kurzer Zeit wohnten wir in jener Wohnung zu siebt oder acht, zusätzlich einiger Hunde. Das waren keine Freunde, sondern bloß irgendwelche Bekannte, die bei uns hängengeblieben waren, weil wir uns wenigstens darum kümmerten, dass wir Trinken, Kippen und Hasch in Hause hatten. Das macht Freunde. Der Eimer am Morgen ließ sie für den Rest des Tages schweigen und deshalb bemerkte ich sie auch nicht weiter, wodurch es mir auch nicht auffiel, dass ich mich daran hätte stören können. Bei mir vernebelte der Eimer am Morgen und der Eimer zu Mittag und alle Joints dazwischen lediglich meinen Tatendrang. Der Tag fing immer später an, und im Herbst wurden die Tage, sodass es plötzlich auch keine Möglichkeit mehr gab, sich beim Supermarkt ein paar Marken zu erschnorren, weil alles schon geschlossen war.

Im Friedrichshain holte ich mir dann die Schleppscheiße. Eine Krankheit von der ich bis heute noch nicht ganz genau weiß woher sie kommt und was sie nun genau verursacht. Es hat irgendwas mit Vitaminmangel zu tun, scheint aber auch ansteckend zu sein. Weil Mädchen mit Schleppscheiße, die küsste man nicht. Dass es auch ohne küssen ging, merkte ich, nachdem ich in einer wüsten Bruchbude die Nacht neben einer jungen Frau verbrachte, die mich zwar nicht weiter interessierte, mich aber vor einer Nacht, auf der mittlerweile kalt gewordenen Straße, verschonte und mich mit ins Bett nahm. Einige Tage darauf bekam ich an meinen Handgelenken Eiterflecken. Ich hatte da sowieso schon kleine Wunden, die ich von Mercedessternen bekam, die wir abbrachen, den inneren Stern herausschlugen und den übriggeblienen Kreis als Armreifen trugen. Meine Haut reagiert allergisch auf Mercedessterne, eine Reaktion auf die ich damals mächtig stolz war. Heute nennt sich das ganz langweilig: Nickelallergie. Und da müssen sich wohl die Schleppscheißviren oder -Bakterien oder welche Monster auch immer, sich eingenistet haben. Die Wunden wurden schnell größer, bald waren auch meine anderen Mitbewohner davon befallen.
Im Friedrichshain gab es damals eine Art religiöses Jugendhaus, in dem man Kickern konnte und wo sie einen auch wegen Schleppscheiße versorgten.
Man behandelte mich und ich nahm dort auch meine erste Berliner Dusche. Und auch die Letzte.

Immerhin gab es in diesem abwärtsführenden Schacht einen kurzen Lichtblick. Das war auf dem Rückweg aus dem Friedrichshain, als ich von einer Hardcoreparty in einem militanten, besetzten Haus in der Kinzigerstraße, die K9, in das ich vielleicht bald einziehen konnte, zurückkehrte, und ich mich mit zwei jungen Punketten und einem verwilderten Kerl von der Party in der S-Bahn vorfand. Ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, warum wir zusammen in der Bahn saßen. Vielleicht weil ich das eine Mädchen hübsch fand und ich mich in irgendetwas reingeredet hatte. Es geschah dann etwas, mit Polizei oderso, und wenn ich versuche die Geschichte zu rekonstruieren, dann waren es vielleicht auch bloß uniformierte Kontrolleure der BVG. Es entstand jedenfalls verbaler Streit, dann hielt die Bahn überraschend schnell im nächsten Bahnhof, und wir stürmten Hals über Kopf aus der Bahn heraus. Der verwilderte Kerl wurde festgenommen und wie sich in Nachhinein herausstellte, saß er anschließend 48 Stunden in Untersuchungshaft. Außerhalb des Bahnhofes, in Sicherheit, lieferten sich die beiden Punketten eine aufgeregte Diskussion, eine davon schien mit dem Kerl liiert zu sein und machte sich große Sorgen, vor allem weil sie jetzt keinen Schlafplatz hatten, sie kamen ja aus Bayern und Hessen und wussten deshalb nicht wohin. Ich bot ihnen einen Schlafplatz an, aber die Liierte wollte davon nichts wissen. Die andere hingegen, glücklicherweise jene die ich hübsch fand, schien einem Bett sehr zugeneigt zu sein. Die Diskussion der beiden artete bald zum Streit aus und schließlich ging die Hübsche mit mir mit. Das war der Lichtblick. Dass sie die restlichen Wochen noch bei mir blieb, hätte eigentlich auch ein Lichtblick bleiben sollen, wurde aber bloß ein trüber Abschnitt meines abwärtsfließenden Flusses. Sie war faul, saß den ganzen Tag mit den anderen bei mir im Zimmer herum, und langsam assimilierte auch ich mich, rauchte den Eimer um zu schweigen, raffte mich aber wenigstens dazu auf, fast jeden Dienstag und Donnerstag zur Suppenküche für Obdachlose in der Wollankstraße zu fahren, damit ich wenigstens noch was warmes zwischen die Kiefer bekam. Aus welchem Grund auch immer, es war immer noch genügend Bier zuhause, damit man einen betäubenden Rauschpegel aufrecht erhalten konnte, weil das ganze Kiffen nur die Nerven aufrauhte und zu lästigen Streitereien führte, bei denen sich jeder im Recht fühlte, jedoch nie richtig etwas ausgeredet wurde, sondern sich bloß tagelang anknurrte, weil man für tiefere Versöhnungsgespräche einfach zu abgestorben war. Mit der Zeit verschwanden die meisten der einquartierten Leute bei mir, weil sich niemand mehr um das Trinken der anderen kümmerte, sondern alles eine trübe Gesellschaft geworden war.

Irgendwann wurde tiefer Herbst, die Wohnung kalt und mir fiel auf Grund der fehlenden Heizung nichts ein, was ich dagegen unternehmen konnte. Auch konnte ich mich nicht dazu aufraffen, in eine andere Wohnung zu ziehen. Wirkliche soziale Kontakte pflegte ich schon lange keine mehr, die Leute um mir herum kamen mir vor wie Pflanzen mit denen man sich dauernd streitet, weil Streit vielleicht noch das einzige Zeichen war, das einem das Gefühl gab, noch am Leben zu sein. Schließlich, wurde ich nach mehrmaligem Frieren und mangelnder Nahrungsaufnahme derart Krank, dass ich mich ein letztes Mal aufraffte und ohne mich von jemanden zu verabschieden in die S-Bahn stieg, bis Wannsee fuhr, und mich dort an die Autobahn stellte.
Keinen von denen habe ich jemals wiedergesehen und auch sonst ist mir niemand geblieben in jener Stadt.

Mit diesem kurzen Vorwort wollte ich eigentlich nur sagen, dass ich am nächsten Samstag in der früh, nach Berlin fahre, wo ich meine Schwester treffen werde, die extra aus Wien anreist um ein paar Biere zu trinken, wie ich schon vor einigen Wochen berichtete. Und ich werde diesmal das Brandenburger Tor besichtigen. Ich freue mich sehr.

"Wij zitten gewoon lekker te niksen"

In Utrecht tragen die Frauen diesen Winter kurze Roecke und hohe Stiefel.

Internetwerkstatt PUSCII war dicht. Wir fanden das furchtbar und beschlossen den Laden zu oeffnen, da wir ja eh nichts besseres zu tun hatten als uns in Utrecht wohl zu fuehlen, und ich hatte den Laden ja jahrelang geschmissen, soviel konnte sich da nicht veraendert haben. Also klingelten wir an, dass uns jemand von den Bewohnern den Schluessel runterschmeissen sollte, aber keiner war zuhause.

Der alte Grieche mit dem langen Gyrosmesser guckte nur launisch und brummte “Bist du nicht in Italien?”. Es freute mich zu wissen, dass er immer noch so war. Dass es ihn jetzt nach all der Zeit erst wundert, dass ich immer noch in Utrecht bin, hat mich auch gefreut. “Griekse Tosti?” fragte er. Julietta und ich nickten. Dann laechelte er. Griekse Tosti, also Griechischer Toast, ist ein saftiger Leckerbissen, und gibt es nur bei seinem Imbiss am Ganzenmarkt.

Das da oben war mein erstes Zimmer. Hier war ich gluecklich.

Die Oude Gracht

Die Kromme Nieuwe Gracht

Der Dom

Dieses Haus wollte ich immer besetzen.

Das beste Stammlokal. ACU.

Noch ein schoenes Nachtfoto.

in venedig.

Es ist schon lange her. Ich war noch nicht einmal achtzehn glaube ich. Oder ich war es gerade geworden. Schon damals zog es mich jedes Jahr wieder nach Venedig. Zum Fasching. Bloeder haette es natuerlich nicht sein koennen. Alsob ich jedes Jahr nach Muenchen zum Oktoberfest gefahren waere. Aber damals faszinierte mich Venedig zu Fasching immer wieder. Ich war zwei oder drei Jahre vorher zum ersten Mal da gewesen, irgendeine Saufgeschichte, weil ich jemanden aus Venedig kennengelernt hatte, und ich mir die Stadt mal angucken wollte. Man muss ja was von der Welt gesehen haben, um mitreden zu koennen, und von Bozen aus, war das ja nur eine 4 stuendige Zugfahrt. Aus purem Zufall war ich in der Woche vor Fasching da, hing einige Tage herum, das heisst, ich irrte eigentlich mehr, als dass ich hing, und ploetzlich merkte ich, dass die Stadt innerhalb kuerzester Zeit, eine wahre Metamorphose durchgelaufen war. Ich war ja schon immer etwas langsam und merkte daher nur, dass ploetzlich, zwischen einem Augenschlag und dem anderen, aus der ausgestorbenen Lagunenstadt eine richtig ueberfuellte Metropole mit tausenden und tausenden Menschen, aus allen Laendern, geworden war. Und nach dieser Woche besuchte ich Venedig jedes Jahr zu dieser Zeit. Ich blieb meistens drei Wochen, schaute zu wie die Stadt sich fuellte, und sich nachher wieder entleerte. Waehrend ich durch die Stadt irrte.

Ich war in jenem dritten Jahr mit Juergen dort. Fuer unsere rebellierenden Punkerherzen gab es den carnevALtro, den “anderen Fasching”, ein Faschingsfestival in einem kleinen Arbeiterviertel, noerdlich der Piazza San Marco. Wir schnorrten uns durch die Tage, klauten Wein aus dem Supermarkt und tranken eben, weil das zum gluecklichsein dazugehoerte. Die Nacht verbrachten wir meistens in einer verlassenen Druckerei im selbigen Viertel, die uns ein Junkie mal gezeigt hatte. Er meinte, da gaebe es zuviele Chemikalien im Boden, da blieben die Ratten fern. Scheinbar schliefen dort oefters Leute. Es gab Matratzen und Decken. Spaeter wurden wir mehrere Male von einer amerikanischen Austauschstudentin in deren Schlafsaal geschmuggelt. Inmitten einem dutzend anderer jungen Frauen. Ich wundere mich heute noch, dass das alles so ging wie es ging.

Alessandra lernte ich am Rosenmontag kennen. Eigentlich war ich schon viel zu betrunken und weggetreten von allen berauschenden Mitteln, die mir ueber den Weg gelaufen waren, oder mir in den Mund geflogen kamen, um einer Frau die Liebe zu erklaeren, oder wenigstens um einen lieblichen Blick erwidern zu koennen. Und trotzdem gab es einen kleinen, hellen Moment in dieser sumpfigen Nacht. Ich brauchte tausend Lire, fuer einen grossen Becher Rotwein, und lief quer ueber den Platz, da liefen wir uns genau entgegen und blieben voreinander stehen. Um ehrlich zu sein kann ich mich gar nicht mal erinnern wie sie aussah. Ich glaube sie war sehr huebsch. Was mich aber in dem Moment wohl am meisten beruehrte, war dass sie mich bloss anlaechelte und einfach stehenblieb. Sie machte gar keine Anstalten auszuweichen und ihren Weg zu verfolgen, sondern sie blieb einfach stehen. Und laechelte. Ich will von Glueck reden, wenn ich sage dass ich mich auch in betrunkenem Zustand ziemlich gut halten kann, was meine Koerperhaltung und meine schwere Zunge betrifft. Ich machte deshalb wohl einen besseren Eindruck als mir tatsaechlich war. Ueberdies bemuehte ich mich sehr, klar dreinzuschauen. Es vergingen zehn Sekunden waehrend wir da einander so gegenueber standen. Der Dramaturgie wegen haette ich da noch gerne fuenf Minuten draufgelegt, waehrend irgendein seifiger Soundtrack im Hintergrund liefe, aber ich war mir bewusst davon, dass dies kein Film war, und es auch niemanden gab, der uns mit traenenden Augen zusah, sodass ich etwas machen musste, weil sie mir sonst entgleiten wuerde. Ueberdies ist es mir aeusserst zuwider als Apathe angesehen zu werden.
“Rauchst du?” fragte ich, ohne den Schwerpunkt auf Haschisch festzulegen. Sie bejate. So nahm ich sie bei der Hand und fuehrte sie zu meinem Freund Juergen, der ebenso betrunken und weggetreten auf einer Art Brunnen sass und die Umgebung in seinem Inneren betrachtete.
“Juergen, raus mit dem Zeug. Jetzt rauchen wir”. Juergen guckte Alessandra an und erkannte gleich den Ernst der Lage, zog deshalb sein Rauschgift hervor und fing sofort mit der Arbeit an.
Sie hatte lange, gewellte Haare. Ihre Augen strahlten dauernd. Ob das von Drogen kam, oder ob das bloss ihre Froehlichkeit war, weiss ich nicht. Sie verdiente in Venedig etwas Geld, indem sie, zusammen mit ihrer Schwester, uebers Wochenende, Touristen auf dem Markusplatz, deren Geischter bemalte. Zu Fasching wollte jeder angemalt sein. Und vor allem die Leute aus den fernen Laendern. Sie stoerte Juergen beim drehen des Joints, und strich ihm Rot und Gruen und Gelb ins Gesicht. Er liess es ueber sich ergehen.

Ich wuerde noch gerne ueber den Rest des Abends erzaehlen. Wie wir suedtiroler Freunde trafen, durch die Gassen irrten, noch mehr tranken und uns beim Tanzen versuchten vor der eisigen Kaelte zu schuetzen, jedoch muss ich gestehen, dass ich nicht viel mehr darueber zu berichten weiss, als ich hier in dieser Zeile geschrieben habe. Alles liegt in einer nebligen Alkoholwolke irgendwo in meinem Gedaechtnis verborgen. Ich weiss nur noch, dass sie irgendwann abgeholt wurde und gehen musste, zurueck nach Padova, wo sie wohnte. Wir hatten uns nicht gekuesst, nicht einmal zum Abschied, das waere zuviel koerperliche Naehe auf einmal gewesen. Ueberdies glaube ich, waere ich vom Knutschen schwindelig geworden, und haette mich uebergeben muessen. Nein, es war bloss eine liebevolle Umarmung. Und dann ging sie.

Ich hatte noch genuegend Verstand zu wissen, dass ich am naechsten Tag nach Trient, zur Militaermusterung musste. Ein Fernbleiben von der Musterung kam Desertation gleich. Ich war auf dem Platz, bei offenem Feuer, in Gesellschaft meiner Freunde eingeschlafen, wachte nach zwei oderso Stunden Schlaf auf und marschierte voellig automatisiert zum Bahnhof, stieg in den Zug Richtung Brenner, verschanzte mich auf der Toilette, und wachte rechtzeitig in Trient auf. Die Militaermusterung ist eine eigene Geschichte, die ich, wenn ueberhaupt, ein ander Mal erzaehlen sollte, und nicht hier, wo es letztendlich ja um die Liebe geht. Ich brachte den muehsamen Tag auf der Kaserne, mit meiner restlichen Vodkaflasche um. Trotz der Betaeubung und des Schlafentzuges war ich ueber alle Wolken hin verliebt. Ich wusste zwar nur dass sie Alessandra hiess, und so ungefaehr wie sie aussah, aber die paar kurzen Stunden die wir miteinander verbracht hatten, hatten mein Gemuet voellig im Griff. So ging der Tag vorbei, bis uns der Soldat am Ende des Nachmittags verkuendete, dass wir am morgigen Mittwoch nicht kommen braeuchten, da Aschermittwoch ein Feiertag war. Gleich realisierte ich, dass ich den letzten Faschingsabend also wieder in Venedig verbringen konnte. Ich musste Alessandra einfach wieder sehen. Auch wenn es bisher nur eine spontante verliebtheit gewesen ist, eine verliebtheit die dich im Prinzip auf jeder Party ueberfallen kann, so kam es mir doch sehr wichtig vor. Vielleicht nur, weil ich verliebt war, mag sein, da dreht einem der Kopf nur noch um diese eine Person, aber trotzdem sehnte ich mich danach sie schnell wieder zu sehen. Und darin konnte mich niemand aufhalten, Ich lief eine halbe Stunde zum Bahnhof, kehrte unterwegs in einen Supermarkt ein, steckte mir eine Whiskeyflasche in die Innentasche meiner Jacke, und setzte mich im Zug ins Klo.
Mit etwas Verspaetung, weil ich in Verona ohne Fahrkarte erwischt wurde und man mich aus dem Zug schmiss, kam ich am Bahnhof Santa Lucia in Venedig an. Ich lief ziemlich zielsicher (nur zweimal verlaufen) zum campo Santa Maria Formosa, dem Platz wo der carnevALtro vor sich hin tobte. Es tummelten sich da tausende Leute herum, und ich hielt alle Augen und Poren offen. Wir mussten uns irgendwie gerochen haben. Zwei Minuten nach meiner Ankunft, standen Alessandra und ich einander gegenueber. Auch sie hatte mich gesucht.
Die Freude war gross. Sie sprang mir in die Arme, dabei schlug meine versteckte Whikeyflasche ganz ungluecklich gegen meine Rippen. Aber was ist das bisschen Schmerz schon gegen ein unendliches Gluecksgefuehl. Ich war geruehrt. Im Nachhinein finde ich es witzig, mit welcher Selbstverstaendlichkeit wir uns ploetzlich an den Haenden hielten und herumtaenzelten wie zwei kleine Kinder, waehrend wir uns in der vorigen Nacht kaum beruehrt hatten, ja nichtmal zum Abschied einander auf die Lippen gekuesst. Wir tranken den Whiskey, der uns in der eisigen Nacht waermte, liefen zur Buehne und tanzten zur Band. Sie war unbeschwert, sagte eigentlich nicht viel. Sie schien die ganze Zeit bloss gluecklich. Vielleicht wegen mir, vielleicht aber auch bloss in sich drin. Sie zog mich hinter sich her, brachte mich zu ihren Freunden und stellte mich ihnen vor. Ich war voellig ueberfordert mit sovielen Leuten, deren Namen ich mir niemals merken konnte. Nur ihre aeltere Schwester blieb mir im Gedaechtnis verankert, weil die mich ein wenig genervt anguckte und spaeter am Abend, Sachen sagte, wie “Und wegen sowas wie dich hat sie uns alle nach Venedig gebracht”. Irgendwie als Witz ruebergebracht, aber der Ernst des Satzes war mir keineswegs entgangen. Erst spaeter kam ich drauf, dass Alessandra viel zu jung war um die Erlaubnis ihrer Eltern zu bekommen, alleine nach Venedig zu fahren, und deshalb die Schwester mitkommen musste, die wiederum ihren Freund mitnahm, der dann gleich seine ganze Clique hinter sich hergezogen hatte. Die Schwester mochte mich nicht wirklich. Ich war nun auch bestimmt kein Vorzeigeliebhaber. Ungebildet, schmutzig, geldlos, und auch nicht beabsichtigt irgendwer zu werden. Die paar Gespraeche die ich mit der Schwester fuehrte, drehten sich auch nur um diese paar Themen, und wie das so manchmal passiert, gibt man plotzlich ausschliesslich falsche Antworten.
Alessandra kuemmerte das alles nicht. Und mich daher auch nicht. Wir geisterten zugeraucht und zugetrunken durch eine filmreife Kulisse. Durch ausgestorbene Viertel wo niemals ein Tourist hinfinden wuerde, ueber kleine Bruecken und Treppen. In einer dunklen Gasse die im Wasser endete, sassen wir am Bordstein und liessen unsere Fuesse ueber den Kanal baumeln. Ueberall nur leises plaetschern der kleinen Wellen an den Haeuserfassaden. Sterne, die sich ueberraschend klar im dreckigen Lagunenwasser spiegelten und der Mond der sich ab und zu in den engen Gassen blicken liess. Sie erzaehlte von sich, dass sie studieren wollte, die Welt kennenlernen. Frei sein, und all die Dinge von denen man traeumt. Eine Ratte schwamm durch das Wasser und schlug kleine Wellen. Wir froren und deshalb rannten wir weiter. Wir hatten uns verirrt, und das war gut so. Also rannten wir weiter.

Ganz unerwartet fanden wir auch wieder zurueck zu ihren Freunden. Es war schon sehr spaet geworden und dementsprechend genervt war auch ihre Schwester. Sie hatte einen Schlafplatz fuer uns geregelt. Daran hatten wir gar nicht gedacht. Wir fuhren mit einer Faehre zu einer kleineren Insel, die zu entfernt war um mit Bruecken verbunden zu sein. Es war eine kleine Wohnung mit zwei Zimmern. Alessandras Schwester und ihr Freund gingen in das kleine Zimmer und wir beide wurden in ein anderes Zimmer verwiesen, wo ein Mann und eine Frau im Bett lagen, die kurz aufstanden und das Gaestebett auseinander nahmen. Ich war sehr dankbar fuer die Schlafgelegenheit, wir waren bis auf die Zehen durchgefroren, glaube ich. Alessandra hatte sich innerhalb weniger Augenblicke ins Bett verkrochen, waehrend ich wohl fuenf Minuten brauchte, mich aus meinen Kleidern zu schaelen. Wie lange hatte ich wohl nicht mehr meine Socken ausgezogen, wuerde ich heutzutage denken. Komischerweise zaehlte das frueher alles nicht. Ich stieg, ganz pruede, mit Unterhose bekleidet, ins Bett und wurde unmittelbar von ihren Armen umschlungen. Sie hingegen war splitternackt. In meinem Kopf spielte ein wilder Halbtraum. Ich war muede, betrunken, hatte Unmengen Grass geraucht, und war durch und durch in Liebe ertrunken. Mit geschlossenen Augen sah ich sie vor mir, ein Kriegsfilm lief im Hintergrund meines Kopfes ab, wie sie extatisch die Beine um mich klammerte. Ich konnte sie nur noch fuehlen. Es kam mir vor wie eine Unendlichkeit, da auf dem Schlachtfeld, wir beide, im Schutz eines umgefallenen Zeltes. Irgendwann kamen wir beide, inmitten des Kriegsschauplatzes, und starben gemeinsam in einen tiefen, langen Schlaf hinein.
Am naechsten Morgen wurden wir von der Schwester geweckt. Alle anderen hatten schon gefruehstueckt, und ploetzlich herrschte Aufbruchsstimmung. Die Schwester musste nach Padova und Alessandra musste auf alle Faelle mit. Alles ging schnell. Schlaftrunken nahmen wir die Faehre, direkt zum Bahnhof. Ich kam mit. Padova lag auf meinen Weg nach Bozen und meine Zeit in Venedig war jetzt vorueber. Wir redeten nicht viel, sondern sassen uns im Zug gegenueber und waren einfach gluecklich, wie man das halt so ist. Sie sagte, sie wolle mich wiedersehen, und das wollte ich auf jeden Fall auch. Ich hatte bloss keine Adresse die ich ihr geben konnte, deshalb gab sie mir ein Passfoto von sichselbst und schrieb mir auf die Hinterseite ihre Anschrift auf. Padova kam viel zu schnell, und zum Abschied sagte sie noch, dass sie sich auf Briefe freuen wuerde.

Am naechsten Tag sass ich wieder bei der Musterung in Trient. Den ganzen Tag hielt ich ihr Foto in der Hand. Und damit wollte ich mir auch die oeden Stunden in der Kaserne verschoenern. Aber ich fand das Foto ploetzlich nicht wieder.

freitag

Brennende Moscheeen und Kirchen in Holland, abgeriegeltes DenHaag, Arafat nachdem er fuenf Tage tot ist, ist er nun tot, der Tabak ist alle, Chorprobe auf Chorprobe und nun kommt meine Schwester und Joerg und danach wieder Chorprobe und morgen das Konzert, und ich daher keine Zeit die naechsten Tage. Deshalb als Pausenbild einige Fotos von meinem letzten, laengeren Parisbesuch, Sommer 2003. In den Comments.