Es war eine lange Nacht. Der Tagebucheintrag folgt morgen.
[Mittwoch, 13.10.2021 – lange Hosen, Player of witches and bitches]
Heute also wieder eine lange Hose angezogen. Das gute an langen Hosen ist, es sieht halt besser aus. Ich fühle mich angezogener, weniger wie ein Tourist in Südeuropa.
Und was war sonst so los? Nichts wirklich erwähnenswertes, ausser, dass die Themen auf der Arbeit wieder richtig flutschen. Das ist ein ärgerliches auf und ab. Montag: schlimmer Tag. Dienstag: ein richtig guter Tag. Heute war der Tag wieder richtig gut. Morgen kann wieder alles am Boden liegen. Das kostet so viel Kraft. Es macht aber auch Spass, muss ich zugeben.
Am Abend wollte ich endlich die zweite Staffel von Ted Lasso beginnen. Haben wir dann gemacht. Hannah Waddingham. Woah. Ich bin ja wieder totaler Fan. Muss mal schauen, ob die auf Insta oder Twitter ist (Ja, ist sie. Geadded). Sie nennt sich „Player of Septas, Witches, bitches & loving it“.
[Dienstag, 12.10.2021 – das letzte Mal kurze Hosen, das Dramolett namens Herthabsc]
Okay, heute habe ich im Büro das erste mal ein bisschen gefroren. Fürs Protokoll. Tagsüber. Nicht morgens beim Radfahren, sondern, wenn ich den ganzen Tag etwas untätig herumsitze. Die Vorderseiten meiner Unterschenkel wurden kühl. So kühl, dass ich dachte, eine Omadecke wäre jetzt angenehm.
Morgen ziehe ich also wieder lange Hosen an. Das war die Saison der kurzen Hosen. Sie endet mitte Oktober. Jetzt bin ich gespannt, wann sie im nächsten Jahr wieder beginnt.
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Die neue Staffel des Dramoletts namens Herthabsc erreicht ständig neue deprimierende Wendungen. Zuerst beschwert sich der Investor seit Tagen öffentlich in den Medien und schafft eine unmögliche Unruhe in diesen sportlich schlechten Zeiten und heute wurde die Vertragsauflösung des vorsitzenden Geschäftsführers Carsten Schmidt bekanntgegeben. Immerhin aus privaten Gründen und nicht, weil er die Hoffnung bei Hertha aufgegeben hat. Carsten Schmidt war für mich einer der großen Hoffnungsträger im Verein. Auch wenn er wenig direkten Einfluss auf den sportlichen Erfolg hat, so war er doch derjenige, der nach Innen eine ganz andere Tonalität gesetzt hat und Schwerpunkte auf Themen legte, die bisher eher vernachlässigt wurden. Wie bespielsweise der Schulterschluss mit den Fans und Vereinsmitgliedern, die Würdigung der vielen sozialen Aktionen der Fans, etc.
In den letzten Jahren hatten sich Fans und Mitglieder ihren Verein wieder ein Stück weit zurückgeholt, durch Carsten Schmidt bekam das noch einmal eine neue Dynamik. Das tröstete auch einigermaßen über die sportlichen Misserfolge hinweg. Jetzt streiten sich Milliardäre und Millionäre. Das ist so überhaupt nicht Hertha.
[Montag, 11.10.2021 – sieben Grad, unscharfe Welt]
Jetzt kommen wir langsam in den Bereich der Temperaturen, bei denen ich Protokoll führen muss. Ich frage mich, wie lange ich noch mit kurzen Hosen in die Arbeit fahren werde. Ich dachte immer, zehn Grad wäre so etwas wie eine magische Grenze für die Beinfreiheit. Heute früh mass es sieben Grad und es gab ein bisschen Nieselregen, deswegen dachte ich, heute wird der Tag, an dem ich beschliessen werde, dass sieben Grad definitiv zu wenig sind. Es gibt in den Übergangsaisons ja immer diese Tage an denen man zu kühl oder zu warm angezogen ist, wo man sich vornimmt, am nächsten Tag mehr oder weniger anzuziehen.
Aber heute stellte sich heraus: sieben Grad ist immer noch angenehm. Obenrum trage ich bereits eine gefütterte Steppjacke, untenrum eine kurze Hose, die sogar meinen halben Oberschenkel freihält. Ich frage mich langsam, ob ich da unten vielleicht keine Nerven habe.
Sieben Grad also. Fürs Protokoll.
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Mittlerweile laufe ich oft mit Lesebrille durchs Büro, weil ich zu faul bin, mir ständig die Brille abzunehmen. Interessanterweise braucht man Augen für das nähere Sehen wesentlich öfter als für das entfernte Sehen. Man kann sich relativ sicher durch eine unscharfe Welt laufen, aber in der Nähe werden unscharfe Gegenstände ziemlich sinnlos. Das funktioniert natürlich nur in Innenräumen, mit denen man einigermaßen vertraut ist, aber es ist dennoch eine interessante Erkenntnis. Jaja, kurzsichtige Menschen kennen das alles sicherlich. Für mich ist das aber neu.
Man kann gut durch eine unscharfe Welt laufen. Ein Satz wie eine Metapher.
[Sonntag, 10.10.2021 – Goliath]
Immer wenn ich „Goliath“ schaue, bin ich nachher ein bisschen in Billy Bob Thornton verliebt. So richtig wahrgenommen habe ich ihn erst seit Fargo, wo er in der ersten Staffel den Auftragsmörder spielt. Das war 2016. Bald danach kam Goliath. Beide gehören zu den besten Erzählungen, die ich je auf einem Fernseher gesehen habe.
Die ganze vierte Staffel geschaut. Es ist vermutlich die Letzte. Ich werde mir jetzt ein paar ältere Sachen von ihm ansehen. Er ist aber auch wirklich cool gealtert. Als junger Kerl wirkt er wie ein, nunja, junger Kerl. Als älterer, etwas gebrechlicher, magerer Mann hingegen, geht eine unfassbar einnehmende Ruhe von ihm aus. Besser hätte man diesen Anwalt, der sich mit einem übermächtigen Gegner anlegt, nicht darstellen können.
[Samstag, 9.10.2021 – Speck vergessen, REAKTION, Dune]
Ich habe doch tatsächlich vergessen, dem Carepaket das Fleisch hinzuzufügen. Den Speck und die Kaminwurzen legte ich vor zwei Wochen vorsorglich in den Kühlschrank. Obwohl eine Kühlung nicht unbedingt vorgeschrieben ist, weiss man bei Fleisch ja nie. In der Hektik der Übergabe vergass ich nun das Fleisch.
Ich schrieb Irene an, ich schrieb das Mädchen an. Aber jetzt war das nun mal so. Ich sollte das ganze Fleisch behalten.
Ehrlicherweise kann ich mit Speck und Kaminwurzen durchaus etwas anfangen. Wir werden demnächst einfach Freunde einladen.
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Heute kam ein Buch namens REAKTION. Das Buch vom Zentrum für Politische Schönheit. Eine Zusammenfassung der letzten 12 Jahre. Es ist dick und schwarz und ist mit wenigen Grossbuchstaben bedruckt. Ein monumentales Buch und so schwer wie ein mittelgroßer Holzblock.
Meine Frau ist seit Jahren Supporterin des ZPS. Sie knallte es mir auf den Schreibtisch. Schau her.
Ich will ja alle unsere Bücher abschaffen, wir haben schlichtweg zu viele Bücher, ich kann Bücherschränke nicht mehr ausstehen, aber so ein Buch, für so ein Buch ließe ich schon einen Bücherschrank stehen. So ein Buch ist aber auch eher ein Möbelstück und weniger ein Buch.
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Apropos dicke Bücher. Ich suchte heute in den Bücherregalen nach „Dune“. Mir kam vor, ich hätte vor einigen Jahren eine gebrauchte Kopie von Dune gekauft. Die Geschichte über den Wüstenplaneten intrigierte mich immer schon, ausserdem finde ich es spannend, wenn Bücher als unverfilmbar gelten. Da ich ein Erzähler bin, will ich verstehen, welche Ebene einer Erzählung, die Verfilmbarkeit wegnimmt. Aus diesem Grund kaufte ich vor einigen Jahren Dune. Dass Dune gerade in den Kinos läuft und die Verfilmung als ziemlich gelungen empfuden wird, ist natürlich sehr interessant. Mein Plan war daher, Dune zuerst zu lesen, dann die misslungene Lynch-Verfilmung zu schauen, dann die gefloppte Serie und vielleicht auch jene Doku über eine der bekannten Nicht-Verfilmungen von Dune. Ausserdem soll Dune demnächst als Serie produziert werden.
Aber. Ich finde das Buch nicht. Wie gesagt. Wir haben zu viele Bücher. Und die meisten Regalreihen sind Doppelreihig. Hinter den Büchern legen wir immer die hässlichen Bücher. Oder die peinlichen Bücher. Es kann gut sein, dass Dune irgendwo dahinterliegt. So findet man natürlich nie wieder etwas.
[Freitag, 8.10.2021 – Carepaket aus Südtirol]
Ich habe ja dieses Carepaket aus Südtirol mitbekommen. Für eine Freundin von Irenes Tochter.
Das Carepaket enthält einen Geschenkkorb mit tollen Marmeladen, Streichcremen fürs Brot, Schokolade etc alles mit Südtirolbezug, dann eine Kiste mit zwei Apflesaftblasen. Ich nenne sie Apfelsaftblasen, die heissen aber bestimmt anders. Es sind so durchsichtige Plastiksäcke mit einem Ventil unten dran. Damit kann man sich Apflesaft einschenken. Ausserdem eine riesige Kiste mit selbstgepflückten Äpfeln.
Mit der Freundin bzw deren Mutter versuche ich schon seit zwei Wochen einen Termin zu finden, aber die Freundin wohnt in Lichterfelde, es ist nicht so einfach sich zu treffen, bei Hin- und Rückfahrt ist es eine zweistündige Autofahrt.
Die Kiste selbstgepflückte Äpfel ist mittlerweile nicht mehr vorzeigbar. Weil ich die Äpfel nicht unentwegt kühl aufbewahren konnte, hatten sie angefangen zu vergilben. Da sich das Treffen sich zu verzögern schien, begannen wir bereits, Äpfel aus dieser Kiste zu stibitzen. Erst nur einzelne. Wenn man die anderen Äpfel entsprechend umschichtete, dann fiel es anfangs nicht so auf, dass welche fehlten. Aber man staunt, wie viel man in zwei Wochen so wegstibitzen kann. Und wie wenig man es vertuschen kann.
Weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, schrieb ich Irene an: Duuuuh, ich muss gestehen, dass…
Sie fand es eher lustig und hatte Verständnis dafür. Besser als die Äpfel vergilben zu lassen, ist es, sie aufzuessen. Und eine fast leere Kiste verschenken ist auch nicht sehr stilvoll.
Heute klappte also die Übergabe. Sicherheitshalber erwähnte ich die Sache mit den vergilbten Äpfel, dass ich sie vorsorglich aufgegessen hatte. Ich weiss nicht, warum es mir wichtig war, es zu erwähnen. Vielleicht, weil das Mitbringsel ohne diese große Äpfelkiste optisch nicht ganz so beeindruckend aussah. Obwohl, der Geschenkekorb und die beiden Apflesaftblasen sind vom Volumen her ja auch schon so groß, dass man sie nicht mal eben mit der Post verschicken kann, sich die Fahrt aus Lichterfelde also schon auszahlte.
[Donnerstag, 7.10.2021 – Treffen für Textarbeit]
Am Abend traf ich mich mit Fanclubfreundinnen. Ursprünglich wollten wir uns im Gleisdreieckpark treffen. Weil wir über Textarbeit reden würden, empfahl es sich einen Tisch zu haben, um auch Dinge aufzuschreiben. Wir änderten den Treffpunkt kurzerhand und gingen zu mir ins Büro. Wir haben da viel Platz und große Räume. Einer war uns von zuhause aus zugeschaltet. Jetzt wo ich es aufschreibe, klingt das so falsch. Zugeschaltet. Zugeschaltet waren ja immer die Reporter in den Achtzigerjahren oder wenn bei Wettendass die Wetten im Freien stattfanden. Da war auch immer jemand zugeschaltet.
Bei googlemeet nennt man das bestimmt anders. Einer der Teilnehmer saß jedenfalls zuhause, und wir stellten den Laptop über den er dazugedingst war, auf einen Stuhl, so hatten wir einen netten Gesprächskreis und konnten uns unterhalten.
Ich mag Hybridmeetings ja nicht so. Entweder ganz online oder ganz offline. Hybrid finde ich immer etwas hakelig, weil der Gesprächsfluss nicht so gut flutscht. Oder fliesst. Ein Fluss flutscht ja nicht.
Es ging dann aber ganz okay. Besser als gar nicht. Vor Corona wäre das nie eine Option gewesen. Vor Corona wären wir allerdings auch alle anwesend gewesen.
[Mittwoch, 6.10.2021 – unter früheren Kolleginnen]
Als wir vor zwei Jahren die Firma schliessen und etwa 100 Leute entlassen mussten, entschied ich, nichts darüber schreiben. Man weiss in solchen Fällen nie, was passiert. Das Verfahren lief noch, das Verhältnis zum Investor und Eigentümer war schwierig.
In der Firma waren wir allerdings zu einem sehr gut eingespielten Team geworden, wir hatten auch privat und menschlich einen guten Draht zueinander bekommen. Nach der Schließung blieben wir in Kontakt. Eigentlich wollten wir uns bald wieder treffen, dann kam März 2020 und der ganze Rest. Inzwischen hatten wir eine Whatsapp Gruppe, in der wir uns während der Pandemie lose unterhielten.
Heute trafen wir uns wieder. In einer kleineren Gruppe. Es gab viel zu erzählen. Das war sehr schön. Gut zu wissen auch, dass man jederzeit wieder miteinander arbeiten würde.
[Dienstag, 5.10.2021 – VR, Hansaviertel]
Ich bin seit der Firmenparty ja (wiedermal) ein bisschen von VR Brillen angefixt. Einer meiner Mitarbeiter erzählte mir von seiner Oculus Quest, von der Technik dahinter und von der verfügbaren Software bzw verfügbaren Videos. Vor allem Flugvideos, Porn, Unterwasservideos und auch schlichte Dokus, sowie zahlreiche Spiele, wie die VR Variante von „The Room“, in dem man in einem Haus steht und mit einem riesigen Detailreichtum interagiert. Oder auch das Spiel mit dem Laserschwert, alle schwärmen von diesem Spiel mit dem Laserschwert, einer der Anwesenden macht seitdem kein Cardiofitness mehr, weil er das Spiel mit dem Laserschwert spielt. Alle reden von Schweiss und Anstrengung.
Ich besitze seit einigen Jahren ein Cardboard VR-Headset, bei dem man bereits ein gutes Gefühl dafür bekommt, was mit VR mal möglich sein wird. Die Oculus Quest kommt dem laut Beschreibung schon ziemlich nahe. Wirklich interessant wird es aber erst, wenn die soziale Komponente dazukommt, wenn man zu zweit etwas unternehmen kann, mit Sensoren, die die Räumlichkeit darstellen, etc. Und vor allem, wenn die Teile bezahlbar werden.
Die Oculus Quest erfordert ein Facebook Login und kostet wohl deswegen nur 500€. Sie wird vermutlich vom Konzern querfinanziert. Eine VR-Brille, mit der Facebook mich trackt, kommt aber nicht für mich infrage.
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Am Abend treffe ich meinen ehemaligen Nachbarn. Wir haben Papierarbeit aus unseren ehemaligen Wohnungen zu verrichten. Wir sind seit unseren gemeinsamen Jahren im Haus befreundet, mittlerweile sehen wir uns leider selten. Und trotzdem sind wir uns über die Jahre sehr verbunden geblieben. Ein Termin für Papierarbeit kommt daher genau richtig.
Er wohnt jetzt mit seinem Mann und deren Sohn im Hansaviertel. Die Häuser im Hansaviertel wurden in den fünfzigerjahren als Prototypen für Sozialwohnungen gebaut. Von aussen nimmt man sie auch als hässliche Plattenbauten wahr, mit den dazugehörigen tot wirkenden und abweisenden Grünflächen. Auf dem zweiten Blick entfalten die Häuser aber durchaus einen Charme. Ich kannte bisher nur den architekturtheoretischen Aspekt der Häuser im Hansaviertel, heute stand ich aber das erste Mal in so einem Haus und ich verstehe den Reiz durchaus. Die Systematik der Intimität und Privatsphäre in den Treppenhäusern, die getrennten Aufgänge, die Wasch- und Gemeinschaftsräume, die Schlichtheit. Und nicht zu vergessen: die Aussicht.
Natürlich gibt es im Hansaviertel den trügerischen Aspekt, dass es keine Sozialwohnungen, sondern teure Eigentumswohnungen sind und alle Bewohnerinnen einen intellektuellen oder emotionalen Bezug zu diesen Häusern haben.
Die Geschichte von der Frau aus dem Haus. Eine Geliebte des mittlerweile verstorbenen, berühmten Architekten. Als meine Freunde einzogen googelte sie die Namen auf den Klingelschildern und hiess die neuen Mitbewohner willkommen.
Der Architekt ist bereits in den Achtzigerjahren verstorben. Diese Frau, die seit Jahrzehnten das bauliche Erbe ihrer Liebe bewohnt. Ich mag mich täuschen, weil ich die Frau nicht kenne. Aber: diese Hingabe.