[Montag, 4.10.2021 – Lesebrille, indische Nachbarn]

In der Eile vergass ich heute früh meine Lesebrille. Normalerweise habe ich eine oder zwei Brillen in der Firma, aber da ich ein ziemlicher Lesebrillenvernichter bin, habe ich derzeit genau eine Lesebrille, die täglich mit mir von Zuhause ins Büro reist und wieder zurück.
Heute vergass ich sie dann.
Im Büro schaltete ich den Laptop ein und konnte die Flecken auf dem Bildschirm nicht entziffern. Ich konnte faktisch nicht arbeiten. Das ist eine neue Erkenntnis. Mittlerweile sind meine Augen zu schwach zum Lesen geworden. Früher war es nur anstrengender, jetzt geht es aber nicht mehr ohne.

Also stand ich wieder auf und musste erst mal zum Drogeriemarkt.

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Unsere Nachbarn kommen aus Indien und sind ein junges, frisch vermähltes Paar. Ich hoffe ja immer, dass sie uns eines Tages zum Abendessen zu sich einladen. Bei einem richtigen indischen Ehepaar zuhause, richtiges Indisch essen, ganz normales, authentisches Abendessen unter Nachbarn, keine Speisen von geübten Köchen mit standardisierten Gerichten für europäische Gaumen. Das stelle ich mir traumhaft vor.

Leider habe ich so viel Anstand, dass ich mich nicht selber einlade und bisher ist es mir auch nicht gelungen über Umwege Hints zu streuen, dass ich mich sehr über eine Einladung freuen würde.
Vermutlich denken sie, man könne Europäer nicht einfach so zu sich zum Essen einladen. Euopäer mögen das vielleicht nicht. Europäer leben ja eher in kleineren sozialen Einheiten, sind etwas reservierter. Ich könnte das schon verstehen.
Wir stehen uns natürlich nicht nahe. Aber mit dem Mann plauderte ich schon öfter, eine halbe Stunde lang oder länger im Treppenhaus. Wir sind auch schon einmal zu viert zu Edeka spaziert, weil wir uns zufällig im Treppenhaus trafen. Außerdem sind wir auch Linkedin befreundet. Die Basis für eine nachbarschaftliche Einladung läge durchaus vor.

Eine Möglichkeit wäre es, sie einfach mal zum Essen einzuladen, zu Knödel, oder zu Spätzle und darauf hoffen, dass sie mit sozialem Anstand erpressbar sind und mit einer Gegeneinladung reagieren.
Ich könnte ja sagen: wir laden immer unsere neuen Nachbarinnen ein. Aber ich weiss aus Erfahrung, dass man Menschen aus Asien und vom indischen Subkontinent nicht mit europäischen Essen locken kann. Europäisches Essen (auch italienisches und französisches) wird durchgehend als langweilig und eintönig angesehen.

Heute traf ich die Ehefrau im Treppenhaus und sie sagte „oh by the way“, ob ich denn gerne kochen würde. Ich nickte, sagte aber, dass ich nicht sehr talentiert sei, allerdings sehr gerne äße. Das war wieder so ein leerlaufender Hint von mir, um ihr zu verstehen zu geben, dass ich mich über eine Essenseinladung von einem indischen Ehepaar freuen würde.
Heute erzählte sie mir, dass sie bei einem Berliner Food Startup arbeite und sie derzeit Gutscheine für Freunde zu verschenken habe. Ob ich denn einen haben wolle.

Ich sagte gleich zu. Ich verstand nämlich sofort, was das bedeutete. Jetzt hatte ich einen handfesten Grund, die beiden einzuladen. Ich werde aus der Food Bestellung etwas zubereiten und die beiden zu uns zum Abendessen einladen. Als eine Art Dankeschön. Dann ist es egal, dass es langweiliges und eintöniges europäisches Essen ist.

Das können sie dann nur mit einer Gegeneinladung retournieren, alles andere wäre nachbarschaftlich unanständig. So ist das.

[Sonntag, 3.10.2021 – Frau auf dem Bürgersteig, Saskatchewan, deutscher Vereinstag]

Heute schauten wir wiedermal wie ein altes Ehepaar aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite hatte jemand eine Art Küchenbank auf der Strasse entsorgt. Auf der Bank saß eine Person mit gelb gefärbten Haaren. Die Person wirkte weiblich, sie hatte eine Jeansjacke und eine größere Tasche umgehangen. Sie schien zu schlafen. Auf dem ersten Blick ignorierte ich das, sieht man ja öfter. Menschen, die auf Bänken schlafen. Auch meine Frau bemerkte die Frau. Sie schien aber etwas besorgter. Man konnte sie nicht gut erkennen, ihr Kopf lag auf der Brust und wie sie da saß, das musste ja total unbequem sein.
Wir überlegten, ob man etwas tun müsse. Auf der einen Seite überwiegte das „Ach Quatsch, ist nur Sonntagfrüh, es war eine harte Party“ auf der anderen Seite tönte die Tagesschau, dass man in Berlin eine sterbende Frau stundelang habe verenden lassen und sich niemand um sie gekümmert habe. Diese Stadt der sozialen Verwahrlosung.

Wir wogen ab, hin und her. Zoomten mit dem Handy ein. Es könnte auch eine Puppe sein. Menschen liefen daran vorbei, auf einem Meter Abstand, der Bürgersteig lag hinter ihr. Sie wurde ziemlich ignoriert. Vermutlich sah man aus der Nähe, dass es entweder kein Mensch war, oder man sah, dass die Person lebte. Wir beschlossen, nichts zu tun, am Ende wurden wir noch geohrfeigt, wenn wir sie weckten.

Aber wir stellten den Wecker. Zwanzig Minuten. In zwanzig Minuten wollten wir noch einmal aus dem Fenster schauen und wenn sie sich nicht bewegt hat, dann gehen wir runter. In der Zwischenzeit googelten wir. Wie man mit vermeintlich toten oder sterbenden Menschen auf der Strasse zu reagieren hat. Es gab hunderte Anweisungen. U.a. auch wiederbeleben. Gott, ich weiss nicht mehr wie das geht. Wir gingen wieder zum Fenster. Sie hatte sich nicht bewegt, sie saß da sehr unbequem. Eigentlich wie tote Menschen sitzen, gekrümmt, seitlich, die Arme ausgestreckt, den Kopf auf der Brust.

Wir beschlossen nach unten zu gehen. Wir gingen in einem etwas größeren Bogen und langsam über die Strasse, um uns der Person langsam zu nähern und vielleicht aus der Entfernung schon die eine oder andere Einschätzung machen zu können. Es war eine Frau. Sie sah nicht gut aus. Ihr Mund war geöffnet, Sabber trat hervor. Ich stellte mich neben sie und sagte „Hey“. Es kam keine Reaktion. Meine Frau bemerkte, dass sich ihr Brustkorb hob und senkte. Immerhin atmete sie.
Ich sagte noch einmal „Hey“. Diesmal lauter. Aber sie reagierte wieder nicht. Dann rüttelte ich an ihrer Schulter. Daraufhin wachte sie auf.
Ich fragte sie ob alles OK sei, ob sie Hilfe brauche. Sie schaute uns an, schüttelte aber den Kopf, setzte sich etwas gerade hin, ich sagte, ihre Tasche, die solle sie besser zu sich ziehen. Sie tat das. Dann entfernten wir uns langsam. Sie schien sich zu berappeln. Wir spazierten einmal um den Block. Als wir zurückkamen, war sie nicht mehr da.

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Heute kam eine Freundin meiner Frau vorbei. Wir saßen in der Küche und tranken Kaffee. Sie kommt aus Kanada. Irgendwo aus einer Kleinstadt in Saskatchewan. Sie zeigte uns Videos von ihrem Bruder, der wiedermal Bären in seinem Garten hatte. Diesmal nur Schwarzbären. Die sind nicht so gefährlich. Klauen aber gerne Obst und Gemüse. Und sie können auf Bäume klettern wie Katzen.

Nachdem sie ging, setzte ich mich an Googlemaps und scrollte eine Stunde lang mit Streetview durch zentralkanadische Kleinstädte und Dörfer.

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Huch. Heute ist deutscher Vereinstag. Gar nicht mitbekommen.

[Samstag, 2.10.2021 – durchsäuert]

Ich habe einen seltsamen Kater vom gestrigen, wilden Durcheinandertrinken. Es fühlt sich an, wie eine Durchsäurung. Dabei war ich gar nicht so stark betrunken, aber ich bin es nicht gewohnt, Cocktails zu trinken. Am Ende des Abends bat ich den Kollegen von der Rezeption (der an diesem Abend die Drinks mixte) um einen Vodka Lemon. Als ich davon trank, schmeckte ich keinen Alkohol, ich bat ihn daher, noch ein wenig Vodka nachzugießen. Er füllte ein Schnapsglas mit Vodka und schüttete es ins Glas. Noch immer schmeckte es nicht nach Alkohol. Also kippte er ein weiteres Schnapsglas nach.
Es schmeckte immer noch nicht nach Alkohol. Aber jetzt wo ich von den vielen Schnapsgläsern wusste, hatte ich sehr viel Respekt vor diesem Drink und nippte nur daran.
Heute also ein seltsames Gefühl der Durchsäuerung. Ich kriege nichts gebacken.

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Hertha verliert wieder. Diesmal nur 1:2. Ich gehe noch nicht ins Stadion. Vor allem wegen Corona. Bei 20000 Leuten ist es mir statistisch doch noch etwas zu heikel. Es spielt aber auch mit, dass ich vom Auftreten der Mannschaft total enttäuscht bin und auf irgendeiner kindischen Art will ein Teil von mir, das mit Fernbleiben bestrafen. Sogar vor dem Fernseher schaue ich die Spiele nur mit einem Auge. Allerdings mit dem ganzen Hirn. Bringt natürlich nix.

Meine Fanclubfreundinnen gehen nach dem Stadionbesuch feiern und schicken mir Fotos. Eigentlich ist das klüger.

[Freitag, 1.10.2021 – Escaperoom wieder, Firmengeburtstag]

Heute ist Firmengeburtstag. Zwanzig Jahre. Am Nachmittag war der Besuch eines Escape Rooms geplant. Wir gingen zum „House of Tales“ in der Zimmerstraße. Das House of Tales hat 5 Räume und diese werden im Netz ziemlich gut bewertet. Ich war dort schon einmal vor etwa drei Jahren, es gab damals einen Raum, der die Illuminaten und den Vatikan als Thema behandelten. Jenen Raum gibt es aber nicht mehr. Wir gingen dafür in einen Raum namens „One Night in Hong Kong“. Es behandelt den Untergrund Hong Kongs in den Achtzigerjahren. Organisiertes Verbrechen, Drogen- und Menschenhandel.
Der Raum ist abgedunkelt, es ist Nacht, man klettert zuerst eine Wendeltreppe an einem Baugerüst hinauf, oben gibt es eine Fensterluke durch die man in eine Stripbar gelangt. Es gibt eine Videokabine, Dildos und Analstöpsel liegen auf den Sofas und den Möbeln herum. In den Mülleimern Kondome und Papierfetzen, Toys. In der Videokabine läuft ein pornographisches Manga.

Im Spiel geht es darum, eine Frau namens Wen Dee und das Geld mit dem sie sich versteckt, zu finden. Wir irren zu sechst eine ganze Weile in der Stripbar herum und brauchen lange, die ersten Hinweise zu verstehen. Danach flutscht es aber ganz gut. Die Rätsel sind schön gemacht und teils auch lustig. Wir werden Wen Dee finden. Sie sieht nicht mehr gut aus.

Fürs Protokoll muss ich noch aufschreiben, dass wir alle Masken trugen. Das war ja der ursprüngliche Zweck dieses mittlerweile lang anhaltenden Coronalogs, nämlich aufschreiben, wie der Alltag in der Pandemie aussieht. Um in 20 Jahren darauf zurückzuschauen, um mich daran zu erinnern.
Wir trugen jedenfalls alle Masken, auch in den Räumen, als nur wir sechs Geimpfte unter uns waren. Die Veranstalterinnen durften keine Ausnahmen machen. Sie hatten für 3G geöffnet, also galt uneingeschränkt 3G.
3G. Auch so etwas. Weiss in zwanzig Jahren sicherlich niemand mehr, was das ist. Ich lasse es mal ohne Erklärung stehen, damit ich mich in zwanzig Jahren ärgere.

Vor zwei Wochen im Escaperoom in Meran trugen wir in den Spielräumen übrigens keine Maske. Nur im Vorraum mit dem Spielleiter. Auch dies fürs Protokoll.

Nach dem Spiel kehre ich mit meiner Gruppe zurück in die Firma. Die andere Gruppe war genau eine Minute früher fertig. Sie spielten genau den gleichen Raum. Der Raum mit dem Hong Kong Thema ist dermaßen beliebt, dass sie zwei Räume identisch gebaut haben. Wir spielten also parallel.

Zurück in der Firma wird es feierlich. Das Buffet ist zubereitet, die Sektflaschen auch. In der großen Firmenküche steht ein Fernseher mit Webcam, auf dem uns das Büro in Amsterdam zugeschaltet ist. Auch sie haben einen Fernseher mit Webcam in der Küche stehen. Die Leute sind festlich gekleidet, wir prosten einander zu. Der Gründer hält eine Rede.
Wir sind happy, trinken, essen quatschen.

[Donnerstag, 30.9.2021 – ZPS, Giliana]

Abends, auf dem Nachhauseweg, wollte ich eigentlich zum „Tag der offenen Tür bei Flyerservice Hahn“ vorbeifahren. Was für eine Aktion. Damit meine ich die vorausgehenende Aktion, in der das „Zentrum für Politische Schönheit“ der AfD eine Falle gelegt hat, indem sie einen fiktiven Flyerservice ins Leben rief, um dann 3 Millionen Flyer nicht zu verteilen.
Solche Aktionen rufen bei mir ähnliche Reaktionen hervor, wie ein schönes Gemälde. Ehrfurcht auf verschiedenen Ebenen. Ich verstehe das mit der politischen Schönheit schon.

Die Michaelisbrücke liegt auf meinem Arbeitsweg. Ich war offenbar aber etwas in Gedanken verloren und fuhr einfach geradewegs nach Hause.

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Den Abend mit Steuerunterlagen verbracht. Es ist wieder September.

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Eine Freundin schickt mir den Link zu „The Sunlit Night„. Ein Film mit Gilian Anderson (mit roten Haaren!) nördlich des Polarkreises. Ich frage mich gerade, warum ich noch so ruhig bin.

Der Film hatte vor einer Woche Prämiere und läuft seit gestern in einem kleinen, sogenannten Lichtspielhaus, in Wilmersdorf. Weiss jetzt auch nicht, was das soll. Ist der Film so schlecht, oder so klein. Aber mit Giliana? Klar ist nur: ich muss den Film sehen. Aber mit dem Blick auf schnuckelige und enge Programmkinos vor der aufkeimenden vierten Welle, warte ich vermutlich, bis der Film zu mir ins Wohnzimmer kommt.

[Mittwoch, 29.9.2021 – Regen]

Etwa 200 Meter vor dem Büro fing es an zu tröpfeln. Ich war mit dem Rad unterwegs, die paar Tropfen tun ja nichts, aber dann kamen gleich ein paar Tropfen mehr. Und mehr und mehr. 100 Meter vor dem Büro war es ein voll ausgewachsener Regen. Als ich ankam, war ich bereits durchnässt. Als ich mich an den Schreibtisch setzte, verfinsterte sich der Himmel.

Und sonst so. Ach, sonst gibt es derzeit nicht viel zu erzählen.

[Dienstag, 28.9.2021 – Tacos]

Es ist gerade wieder sehr viel los im Büro.

Abends gehen wir in diese neue Art Markthalle am Anfang der Schönhauser Allee. Unter dem Pfefferberg Gebäude wurden ein weitverzweigtes, kellerartiges Räumesystem ausgebaut. Ich weiss nicht mehr, was vorher da war. Die Eröffnung fand bereits im Juni statt, es gibt dort Läden und Essensstände, auch der Salami Social Club, mit ihrer besten Pizza der Welt aus F’hain haben dort einen Ofen stehen.

Ich bestelle mir Tacos aus der Taqueria, ganz hinten am Ende des Kellersystems. Elf Euro sind ein happiger Preis für drei kleine Tacos. Bevor ich den ersten Biss nahm, dachte ich, nagut, sone Hipstertacos halt, aber dann blenden sich für einen Moment alle Gedanken aus. Alles um mich herum verschwindet. Nur ich und dieser Happen in meinem Mund sind noch da.
Ich setze eine Weile mit dem Reden aus.

Später zuhause lese ich viele schwärmende Berichte über die Taqueria el Oso. Es sind offenbar die ersten genießbaren Tacos auf europäischen Boden. Da werde ich öfter mal hin.

[Montag, 27.9.2021 – Kusine und Besuch]

Der erste Tag zurück im Büro. Ich meiner Abwesenheit wurden die Lücken in meinem Kalender gefüllt. Sieht sonst so ungepflegt aus.

Dennoch: bin gerne wieder zurück. Ich erzähle allen von meinem Bergaufstieg vor Tagesanbruch. Alle verstehen meine Euphorie.

Am Abend bin ich mit meiner Kusine verabredet. Sie ist zum Marathon nach Berlin gekommen und hat den Lauf in unter vier Stunden geschafft. Unsere Verabredung steht schon seit Monaten, es stand auch bereits fest, dass ich ihr ein wenig die Stadt zeige.
Sie ist mit drei Männern in Berlin. Sie sagte im Voraus, dass sie mit mir angegeben habe, ich stünde aber natürlich nicht unter Leistungsdruck. Natürlich nicht.

Sie wollte die Insiderdinger kennenlernen. Das sogenannte echte Berlin. Dass ich mit ihr nicht nach Marzahn gehen würde, war klar, dass es Berlinklischees zu erfüllen hatte, auch. Wir treffen uns am Holzmarkt25. Neben der Klischeehaftigkeit des H25 muss ich aber gestehen, dass ich die Lage an der Spree zwischen den angemalten Buden und Sand und Hipstern wirklich sehr schön finde. Auch weiss ich, dass unbedarfte Berlintouristinnen das mögen. Wer Berlin ernst nimmt, geht da natürlich nicht hin. Ich verabscheue Leute, die die Dinge zu ernst nehmen. Ausser es geht um die richtige Aussprache von holländischen Fussballspielernamen, da hört der Spass auf.

Danach spazieren wir die Eastside Gallery hinunter. Bis zur Oberbaumbrücke. Ich erkläre die Mauer, ich erkläre die Grenze, ich erkläre die Veränderungen, Mediaspree, Zalando-city, F’Hain, ich beantworte Fragen.
Das Ding ist: ich weiss alles über Berlin. Wirklich alles. Jeden historischen Furz seit der Märzrevolution und jeden zweiten historischen Furz über die Zeit davor. Ich weiss, wo früher die Strassen verliefen, wie sich die Gegenden entwickelten, warum die Strassen so heissen, wie sie heissen, welche Architektin welches Gebäude gebaut hat, wer die Mitkonkurrentinnen bei der Ausschreibung waren. Undsoweiter.
Sollte ich einmal keine Freunde mehr haben, dann verwandle ich mich einfach in einen Dokumentarfilm.

Die Instagrammibilität der Oberbaumbrücke, wenn die gelben Bahnen darüber knattern. Danach Warschauer Strasse hinauf zum RAW Gelände. Meine Besucherinnen fragen sich, ob eine Fetischparty stattfände. Sie hätten davon im Fernsehen gehört. Alles sähe hier nach Fetischparty aus. Ganz Berlin sieht irgendwie nach Fetischparty aus.

Nach einem Rundgang durch den Friedrichshainer Südkiez, setzen wir uns in ein levantinisches Restaurant am Boxhagenerplatz. Dort essen wir und trinken.
Sie kommen alle aus dem Dorf meines Vaters, aber ich kenne nur einen von ihnen flüchtig. Er ist vom Jahrgang meiner Schwester. Ich habe nur drei Jahre in jenem Dorf gewohnt und fand nie wirklich Anschluss. Ich war in einem anderen Dorf aufgewachsen und da mit langen, fettigen Haaren und Heavy Metal Tshirts hingezogen. Zugegebenermaßen war ich damals stolz darauf, keinen Anschluss zu finden.

Dennoch haben wir einen unterhaltsamen Abend. Uns ist allen bewusst, wie anders jenes Dorf vor 30 Jahren war, wie krass die Carabinieri drauf waren und wie viel Einfluss die Kirchengemeinde und die Bauern hatten. Das ist schon sehr anders.

[Sonntag, 269.2021 – Wahlsonntag]

Sonntag. Es ist ein sehr langsamer Tag. Gestern Abend wackelte mein Gleichgewicht noch lange nach, wegen dieser ewigen Autofahrt. Heute ging es besser.

Es dauerte heute lange in den Tag hinein, bis ich mir etwas halbwegs kleidungsmäßiges anzog. Ich liebe diese langsamen Tage nach dem Urlaub, wir frühstücken sehr spät, schauen Cecilia und Böhmermann auf Youtube. Irgendwann geht es mit dem Wahlprogramm los.
Dafür, dass wir beide nicht in Deutschland wählen dürfen, beschäftigen wir uns doch sehr mit den Wahlen.

Ich habe nur ein Mal in meinem Leben gewählt. Da war ich 18 Jahre alt und wählte Rifondazione Communista. Heute würde ich die absolut nicht mehr wählen. Damals aber eben schon. Im Gemeindeblatt meines Dorfes konnte man sehen, wie viele Stimmen alle Parteien bekommen hatten. Meine beste Freundin setzte ihr Kreuz auch bei Rifondazione Communista. Im Gemeindeblatt sahen wir, dass drei Stimmen für diese Partei abgegeben wurden. Wir dachten wir wären die einzigen gewesen, aber nun hatten wir einen geheimen Verbündeten unter den 2000 Wahlberechtigten. Das war irre.

Ein Jahr später zog ich in die Niederlande und wohnte dann nie mehr in Italien. Und so wählte ich auch nie wieder. Natürlich hätte ich Wahlunterlagen anfordern können, aber zum Einen wollte ich nicht, dass der italienische Staat weiss, wo ich wohne und zum anderen verfolgte ich nicht die italienische Politik. Wenn ich mich dann doch einmal mit der italienischen Politik beschäftigte, verstand ich schlichtweg nicht, was da geschah. So liess ich es sein.

[Samstag, 25.9.2021 -Rückfahrt, Niederlage gg Leipzig]

Wir fahren kurz nach 8 Uhr los, zurück nach Berlin. Diesmal alles am Stück. Es scheint, als wäre ganz Deutschland auf den Autobahnen unterwegs, ab Kufstein gibt es Stau und zähfließenden Verkehr bis fast nach Leipzig. Wir brauchen ziemlich genau 12 Stunden und haben dabei eigentlich keine Pausen gemacht, nur zwei kurze Halts um den Tank zu füllen und die Blase zu leeren. Ohne Stopps, betrüge die Fahrt eher um die 8 Stunden.

Meine Frau hat uns phantastische Brötchen für die Fahrt zubereitet. Außerdem hat sie plötzlich Kaminwurzen aus dem Hut gezaubert. Landschaften vorbeiziehen sehen und dabei auf Kaminwurzen herumzukauen, da fühle ich mich mit dem Universum verbunden.

So etwas ähnliches hatte ich vor vier Jahren schon einmal geschrieben.

Um 15:30 tunen wir mit der Sportschau App auf den Audiostream des Spieles von Hertha gegen Leipzig ein. Das Hinhören funktioniert tatsächlich gut, wie sich im Laufe der Zeit ein Spiel im eigenen Kopf verbildlicht.
Dieses innere Bild wird mit Voranschreiten dieses Spieles allerdings sehr düster. Nach dem ersten Gegentor ertrage ich die Jubelarien noch, nach dem zweiten Tor drehe ich den Lautstärkeregler für zehn Sekunden aus. Nach dem dritten Tor auch. Auch nach dem Vierten. Und nach dem Fünften, sowie dem Sechsten. Fast hätte ich ein siebtes Mal den Regler stummschalten müssen.

Beim Schlusspfiff schalte ich aus.

Gegen acht Uhr kommen wir zuhause an. Es gibt keine freien Parkplätze, aber wir haben Unmengen an Gepäck dabei. Was mir sofort ins Auge fällt: der Unioner hat wieder meine Herthasticker abgenommen. Ich bringe sofort wieder meine Sticker an. So ist das nämlich.

Am Vorabend habe ich meinen Kotflügel teilweise abgerissen. Weil ich ein kleines Mäuerchen gestreift habe. Der Kotflügel hing dadurch. Aber weil mir so etwas auf der Hinterseite schon einmal passiert ist, hatte ich damals starkes Panzertape gekauft, das immer noch im Auto liegt. Vor der Abfahrt half mir meine Mutter, den Kotflügel zurechtzurücken und ihn mit Panzertape zu befestigen.
Ich hasse Probleme mit dem Auto. Mit ziemlich allen Problemen komme ich eher gut zurecht, aber die Lösung von Autoproblemen sorgen bei mir für akuten Hass. Probleme, die ich nicht als meine akzeptieren will. Dementsprechend nachslässig bin ich damit auch.
Ich überlege mir immer wieder das Auto abzuschaffen. Ich brauche das Auto eigentlich nur zwei Mal im Jahr. Einmal, wenn ich im Sommer nach Schweden fahre (ich liebeliebeliebe diese Autoreise alleine) und einmal im Jahr wenn ich nach Südtirol fahre. Jetzt wird das Auto wieder relativ ungenutzt bis in den Sommer herumstehen. Für diese Nutzung kann ich auch ein Auto mieten.
Aber noch mehr als mich um ein Auto zu kümmern, hasse ich es, ein Auto zu verkaufen.