[Suddd]

Vorhin vor dem Starten, der Gedanke an einen beunruhigenden Flug. Ich habe jetzt vier Flüge hinter mir, sie waren allesamt ruhig, ja traumhaft ruhig, aber irgendwann wird er kommen, irgendwann wird er kommen, dieser erste Katastrophenflug, dieser Flug in der Gewitterwolke, oder der Flug mit der brennenden Turbine, name it, irgendwann werde ich auch diesen Flug haben, von dem ich im Nachhinein anekdotisch erzählen werde, wenn man am Tisch mit Leuten sitzt und man von den schlimmsten Flügen erzählt. Bisher war ich immer ausgeschlossen, ich hörte nur gespannt zu. Die Aussicht, mich einzureihen, stimmt mich trotzdem nicht gut.

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Ich höre ja immer noch sklavisch den Sicherheitsanweisungen zu und studiere brav die Safety-Card.

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Bier.

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Der Anflug nach Innsbruck durch das untere Inntal, links Bauernhöfe, rechts Bauernhöfe, Wiesen, Kühe, es wirkt, als führe man mit einem schnellen Zug über ein Viadukt. Hinter Innsbruck dreht der Flieger in der Talsohle, links aus dem Fenster der Himmel, rechts aus dem Fenster die Autobahn und die LKW’s von oben. Der Magen überall.

Ich betrete den Flughafen Innsbruck und glaube mich in einem Vereinsheim.

Meine Schwester hat im Pfarrsaal des Dorfes zum politischen Film eingeladen. »Leben ohne Geld«. Sie organisiert unbeirrt, hängt Plakate auf, mobilisiert Nachbarn, Verwandschaft. K und ich malen mit Wachstiften Sprüche zu Existenz und wichtigen Lebensfragen auf einen acht Meter langen Papierbogen.
Der Film soll im kleinen Pfarrsaal aufgeführt werden. Man hat sich wenige Gedanken um die Technik gemacht — ich übernehme Laptop und Beamer.
Zur Vorführung kommen ganze dreißig Leute. Unter ihnen sind: die Nachbarin (ehemals Volksschullehrerin), der gottesfürchtige Busschaffeur, der pensionierte Maresciallo, ein unbekanntes Hippie-Ehepaar mit ihren beiden Kleinkindern, der retardierte Sohn der Wirtin vom Dorfplatz (er spricht mich an und ich merke, wie ich außerstande bin, mit ihm zu reden, da ich zu viel über seine geistige Hinterbliebenheit gehört habe, und nun steht er vor mir und wirkt eigentlich, nunja: ganz normal), meine Mutter, mein Vater, zwei ältere Damen, die sich im Hintergrund halten, und meiner Schwester Ex-Freund.
Wir schauen den Film, zur Mitte des Filmes beginnt die DVD zu holpern. Ich, als technischer Leiter putze die DVD und klicke im Programm. Das Publikum bleibt ruhig. Doch die DVD springt nicht mehr richtig an. Nach einer halben Stunde brechen wir ab. Man beschließt, geschlossen zu jemandem nach hause zu gehen, die DVD mit Alkohol zu reinigen und es auf einem richtigen DVD-Spieler zu versuchen. Da funktioniert es.

Ich will aus essen gehen. Es gibt nur eine Pizzeria im Dorf. Das hatte ich vergessen. Überhaupt: aus essen gehen heißt in Italien üblicherweise Pizza essen gehen. Auch das hatte ich vergessen. Ist aber in Ordnung.



Helmut Krausser. Jedesmal wenn ich das Buch zur Hand nehme, habe ich einen Ohrwurm. Das Buch heißt »Einsamkeit und Sex und Mitleid«. Ich nehme das Buch zur Hand und summe die deutsche Nationalhymne. Und werde sie nicht mehr los. Es ist die Pest.

Den Rest der Woche bleiben wir in Meran. Es ist Sommer, wir holen uns Eis bei Sabine. Bei Sabine gibt es das beste Eis der Welt. Meine Schwester entbindet in zwei Wochen, sie trägt einen riesigen Bauch vor sich her, doch sie will gehen, wir schlendern in Schneckentempo durch die Stadt und reden von den Dingen. Auf jeder Holzbank setzen wir uns hin und verschnaufen.

Ich treffe Silvia G. zufällig auf der Straße. Silvia habe ich 5 Jahre nicht mehr gesehen. Und davor zehn Jahre nicht. Silvia habe ich Anfang der Neunziger auf einem Open-Air Konzert in Rovereto kennengelernt. Sie hatte ein Jahr in Holland gelebt, und da ich einmal nach Holland fahren wollte, gab sie mir die Adresse eines besetzten Hauses, in dem ein Freund von ihr wohne. Ein halbes Jahr später fuhr ich dorthin und blieb sieben Jahre. Zu Silvia habe ich keinen Kontakt mehr. Als ich sie aber auf der Straße sehe, realisiere ich, wie wichtig jene kurze Begegnung in Rovereto gewesen ist. Ohne sie wäre ich nicht nach Holland gefahren, dann hätte ich auch nicht Albert getroffen, der mich für die Thematik erwärmte, mit der ich heute meine Brötchen verdiene, dann hätte ich auch meine damalige Freundin nicht kennengelernt und wäre deshalb nie nach Madrid und nachher nach Hamburg gezogen. Vermutlich würde ich jetzt ziemlich brotlos irgendwas mit Schreiben machen und in Bologna wohnen. Und würde auch nicht K lieben. Andererseits: an Berlin hing ich immer schon. Vielleicht wäre ich jetzt trotzdem da, nur über einen anderen Weg hingelangt. Vielleicht hat es sich auch deshalb so sehr nach Heimkommen angefühlt, als ich vor vier Jahren in Berlin wieder meinen Koffer auspackte. Als wäre die Biegung im Lauf der Dinge geradegebogen worden, korrigiert.

Ich spreche Silvia an. Sie freut sich. Wir unterhalten uns locker, breiten unser Leben in wenigen Sätzen aus. Das mit meinem an sie geknüpften Schicksal erwähne ich nicht, ohne besonderen Grund, ich weiß es noch nicht ganz auszuformulieren.
Sie hat drei Kinder lebt mit einem Mann zusammen, den sie »Kumpane« nennt. Bald verabschieden wir uns wieder, alles ist gesagt, aber ist alles gut, mehr ist nicht nötig.

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Eis bei Sabine.





Das erste mal ohne Laptop weggefahren. Die Mails auf dem Handy, die Notizen ins Buch.

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Eis bei Sabine.

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Nachmittags sitzen wir im Garten, trinken Wasser und Kaffee, schauen den Jungs beim Spielen zu, erzählen uns von den Dingen.
Mit den Schwestern aufs Foto, wir blödeln, keines der Fotos mag wirklich gelingen. Wir mögen sie alle.






Wir holen Eis bei Sabine.

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[nbn]

Ich mag das: in der Nebensaison in diesem Ferienort Restaurants betreten und hänschenkleinmäßig zu sagen: ich bin alleine, wo darf ich mich setzen.
Oft kriege ich einen schönen Tisch. In den altmodischen holzlastigen, deutschen Gaststätten darf ich mich in diese Nischen am Tresen setzen. Auf diese lederbezogenen Bänke. Die stämmige Kellnerin fragt mich von der Seite ob es schmeckt. Ich sage mit vollem Mund: wunderbar!
Sie grinst, ich grinse.

# In der UBB von Ahlbeck nach Zinnowitz setze ich mich zu drei achtzigjährigen Mädls. Sie tragen graue Dauerwelle, sind gutgelaunt und sitzen in den Sesseln wie drei glückliche Kartoffeln. Sie kommentieren alles was sie sehen, jede Person die vorbeigeht, jedes Haus, das draußen vorbeizieht. Und sie lachen. Dauernd. Eine junge Frau mit Musik im Ohr läuft vorbei. Sie trägt schwarze Leggings, darüber weiße Shorts. Die Frau rechts neben mir grinst: »Sie trägt ihren Schlüpper über der Hose«. Alle kichern sie. »Ch…ch…ch«. Sie erwischen mich beim verschämten Mitlachen. Später muss ich daran denken, dass die drei Ladies sicherlich solche Shorts als Unterhosen tragen. Womit ich sie jetzt nicht lächerlich machen will, ich finde den Witz dann nur noch besser, so unvermittelt ernstgemeint: »Sie trägt ihren Schlüpfer über der Hose. Ch…ch…ch.«

# Nein, kein Wasser diesmal.

[zw]

Wenn ich Berlin in nordöstlicher Richtung verlasse, Gesundbrunnen, Karower Kreuz, Bernau, Eberswalde, dahinter fängt ein zauberhaftes Brandenburg an, bei dem man der Erdkante entgegen zu fahren scheint. Die Erdkante ist da, wo die Erde sich korrigiert, und wieder zur Scheibe wird, wo dahinter alles nach unten fällt. Nach Norden oder nach Westen zu fahren ist anders. Im Norden liegt Rostock, im Osten Frankfurt/O, aber zum Nordosten hin tut sich eine Landschaft auf, die noch in der Morgensonne blinzelt. Immer. Wenn ich nach Nordosten fahre, habe ich das Gefühl, Berlin wirklich hinter mir zu lassen. Nach Nordosten hin kommt die Uckermark, eine Landschaft, die ich dauernd in Retrofarben fotografieren will, weil ich sie sonst nicht zu erfassen vermag, dann Vorpommern, Usedom, Ostsee. Und dann ist die Welt zu Ende.

Kiefernwälder, hach, Birkenwälder, hach, Kiefernwälder.

Die junge Frau mit den Fingernägeln.

Ich bin der einzige, der ein Onlineticket vorzeigt. Die anderen sind Abohälter, oder halten kleine Automatentickets in der Hand.

Mein Headhunter ruft mich an. Ich überlege lange, ob ich abnehmen soll. Das ist eine andere Welt. Ich nehme ab und begrüße ihn mit seinem persischen Namen, der hier klingt, als wäre es ein Namen von einem anderen Planeten. Ich sehe seinen perfekten Anzug vor mir, seine perfekt umrissenen Koteletten, seine gezupften Augenbrauen. Ich sage solche Sachen ins Telefon wie: Zalando, ja bin ich interessiert” oder “liegt das Angebot von Groupon noch vor?”. Ich sage zum ihm, ich nähme mir ein paar Tage Auszeit, müsse mich für ein paar Tage an die Ostsee zurückziehen.

[…]

Bei all den automatisch sich umstellenden oder nicht-umstellenden Uhren auf Handy und Wecker und Computer, und meiner damit zusammenhängenden Verwirrung heute früh, war nur Verlass auf die Analoge Uhr in der Küche: ich wusste, sie geht eine Stunde falsch.

# Ende März. Bin im Resturlaub.

[knt]

Vorhin auf dem Flohmarkt im Mauerpark. Die Betreiberin des Fellstandes fragte mich, warum ich ihre Felle fotografiere, ich sagte: das ist Knut. Sie sagte, nein Knut hängt da drüben, und zeigte auf einen zwei mal zwei Meter messenden Flokati. Ich sagte, das fände ich zu pervers für mein um Ausgleich bemühtes Blögchen. Aber vielleicht wusste sie noch nicht, das Knut gestern gestorben ist. Kurz gezuckt und ins Wasser gefallen. Und nicht mehr aufgetaucht. Nicht jeder liest Zeitungen und bekommt sowas mit. Mich hat das dann doch ziemlich getroffen. Ich saß mit K und zwei Freunden im Cafe der Berlinischen Galerie, und las auf meinem Handy: Knut ist tot. Eilmeldungmäßig. Ich kriegte mich nicht mehr ein. Musste es gleich allen sagen.
Ich habe ihn letzten Januar mit den kleinen Jungs meiner Schwester gesehen. Die fanden ihn toll. Und all die Menschen vor seinem Gehege, die auf ihn zeigten, und die alten Frauen, die ihm vertrauensvoll Schnuckeligkeiten zuriefen, diese Hoffnungen, die man ihm zutrug, kuschelig warme Projektionsfläche, ein ganzes Volk in Liebe. Das fand ich schon sehr witzig.

# “Aber er war noch so jung!”

# “Eisbären müssen nie weinen”

[bkprn]

Ganz merkwürdig: beim Lesen von Peter Stamm dauernd das Bedürfnis, diesen Mann knutschen zu müssen. Er öffnet Projektionsflächen für Verliebtheiten. Das ist total merkwürdig. Ich bin mir noch nicht sicher, was ich künstlerisch von seinen Texten halten soll, ich bin bin erst auf Seite hundertirgendwas von »Sieben Jahre«, mir gefällt der Klang, er lullt mich ein, ich komme mir vor wie in einem Videoclip, es hat den ähnlichen Effekt, als würde man mit Kopfhörern durch einen Supermarkt latschen. Und das meine ich positiv. Zudem gefallen mir die Frauen in dem Text, sie sind so da, und die Gefühle für sie haben immer etwas Verbotenes. Viel weiß ich also noch nicht darüber zu sagen, aber ich habe schon ein Urteil über seine männlichen Leser, ganz schlimm, aber es drängt sich so auf: Männer, die knutschen wollen, oder Männer, die geknutscht werden wollen.

# Book Porn. (via Aléa Torik).

[rnm]

Dieses Gefühl, morgens nach dem Aufstehen, nachdem ich den Rechner anschalte, inzwischen den Kaffee aufsetze, und dann zurückkomme, dieses Gefühl, kurz bevor ich die Seiten der großen Nachrichtenmagazine aufrufe, was wohl nachts in Japan passiert sein möge, mein Wissen über den Zustand der Welt ist ja schon sieben Stunden alt, an jenem Moment an dem ich die Seite öffnen werde, könnte die Nachricht ganz oben stehen, mit einem dramatischen Bild versehen und darüber in blinkenden Buchstaben, oder gelb unterlegt: EILMELDUNG; ich meine, ich wache morgens auf und denke mir, dass in Japan mittlerweile alles schief gelaufen sein könnte. Dieses Gefühl, kurz bevor man die Seiten aufruft, dass die Welt gleich ziemlich anders aussehen könnte, das ist schon ein, öhm, Gefühl.