[tagebuchbloggend 9.1.]

Und dann Soul Kitchen gesehen. Wir haben viel gelacht, und erst als ich später im Bett lag, und mich die gewaltige Ästhetik des Filmes innerlich nicht in Ruhe ließ, fiel mir auf, einen unendlich traurigen Film gesehen zu haben, der nur mit liebevollem Witz und wegen der grotsek gezeichneten Figuren, den Anschein gibt, eine Komödie zu sein. Ich bin auch heute noch eigenartig mitgenommen. Danach sind wir durch den Schnee, die Rosenthaler Straße hoch gelaufen, meine Schwester und ich, bis zum Rosenthaler Platz, haben uns verabschiedet, sie ist in die Ubahn gestiegen und ich bin die Brunnenstraße hoch gelaufen. Die verschneite Partynacht, alles gedämpft von einer Watteschicht, nur vereinzelte Idioten haben sich ins Auto gesetzt und fahren herum. Zuhause arbeitete K noch. K arbeitet zur Zeit Tag und Nacht. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb bis ungefähr vier Uhr. Danach legte ich mich ins Bett und konnte nicht einschlafen. Und da fiel mir auf, dass ich einen unendlich traurigen Film gesehen hatte.

[…]

Über diese Vernetzung und Omnipräsenz der webzweinull-Communities bin ich wieder mit ganz alten Freunden und Bekannten aus meiner Kindheit in Kontakt gekommen. Ich habe es in den Anfangszeiten dieses Blogs einmal erwähnt, dass ich in einem kleinen Dolomitendorf aufgewachsen bin, in dem man Rätoromanisch spricht. Das ist ein übriggebliebener lateinischer Dialekt, den man damals, zur Römerzeit, und auch später noch, im gesamten Alpenraum sprach, bis das Latein aus politischen Gründen ausstarb und durch Französisch, Deutsch, Italienisch und Slawisch ersetzt wurde. Bis auf die paar gallischen Dörfer. Die paar Täler in den Dolomiten und der Schweiz, die geographisch dermaßen isoliert waren, dass sich die Sprache über die Jahrhunderte hinweg konserviert hat. Das Rätoromanische in den Dolomiten nennt sich Ladin. Ich bin ladinisch aufgewachsen, das heisst, dreisprachig natürlich, weil die amtliche Sprache italienisch ist, meine Eltern Südtirolerisch sprechen, aber mein sonstiges gesamtes sozialen Umfeld eben ladinisch sprach. Ladinisch war meine Alltagssprache. Ich dachte auf Ladinisch, ich träumte auf Ladinisch, und um es vollends zu verkitschen: ich schrieb sogar meinen ersten Liebesbrief auf Ladinisch.
Als ich vierzehn war, zog meine Familie weg, in Richtung Bozen, berufliche Gründe meines Vaters; ich stand mitten in der Pubertät, ich hasste es, meine ganze Welt wurde mir genommen, und seitdem hatte ich, bis auf wenige Ausnahmen, kaum mehr ein ladinisches Wort gesprochen.

Bis jetzt eben die webzweinull-Communities kamen. Und ich der Gruppe „Ladins“ beitrat. Neulich schrieb mich eine junge Frau an: Hey, auch ich bin Ladinerin und wohne in Berlin. Lust auf einen Drink?
Ich hatte Lust auf einen Drink.
Vorgestern trafen wir uns also in der Weinerei in der Griebenowstraße, nahmen einen Drink, und ich stockte und hakte. Es war sehr fremd und ungewohnt, und schwierig vor allem, nach mehr als zwanzig Jahren Ladinisch zu reden, Konversation in einer Sprache, die einmal meine Alltagssprache gewesen ist. Die einfachsten Wörter fielen mir nicht ein, dauernd bat ich mitten im Satz, auf Deutsch, nach Hilfe: »Woche?« »Edema« »Naturalmënt, Edema! […]« und sofort tauten die einzelnen, erfragten Wörter aus den hintersten tiefgekühlten Weiten meines Gedächtnissen wieder auf, die so gut konserviert gewesen sind, dass regelrecht die Gerüche zu den Wörtern mit auftauten, sie sagte in einem Satz »Lüsa« und eine Erinnerung fing an aufzutauen, ich fragte »Lüsa?«, ich wiederholte: »Lüsa? Schlitten?«, sie nickte und ich sah mich als kleinen Jungen den Schlitten über die kleine Holzbrücke des Baches ziehen, während mir der Duft der Fichten auf der anderen Seite des Baches entgegenwehte. Blöder Psychoscheiß, das, aber schon Okee.

[tagebuchbloggend 7.1.]

Die letzten Tage mich vor der Kälte gedrückt. Diese berliner kontinentalsibirischen Minusgrade gehen mir in die Knochen, das bin ich so nicht gewohnt, das geht mir sehr auf das Gemüt. Dabei sollte ich die Kälte kennen. Da wo ich herkomme ist ungefähr sechs Monate im Jahr Winter, ein Monat ist Sommer und fünf Monate Herbst. Frühling gibt es da nicht. Der Frühling ist der Matsch im auslaufenden Winter. Später in meinen langen Jahren an der Nordsee hatte ich nie richtigen Winter; die Sache mit dem Golfstrom, wir wissen bescheid. Ich sitze also drin. Oder bewege mich über U-Bahn. Und was will ich damit eigentlich sagen. Während ich die Zeit also Großteils drinnen verbracht habe, fand ich diesen Ton. Beim Aufschreiben von Liebesgeschichten aus meiner Jugend, wie das damals mit den Gefühlen war, das ist eigenartig, diese Leichtigkeit mit der man sie plötzlich betrachtet kann, umschreiben auch, die Zusammenhänge sind plötzlich so klar. Obwohl. Mal sehen ob später etwas davon ins Blog passt, ist dann ja auch wiedermal etwas autobiologisches, das kann hierher, die fitkiven Sachen machen mir sonst das Blog immer so fremd.

[…]

Die Idee ist natürlich uralt, die Umsetzung eigentlich auch, aber dennoch, es geht sicherlich noch besser, deshalb: ein paar gewöhnliche Leser schreiben ganz gewöhnlich, höchst subjektiv über Bücher die sie so gelesen haben. Wir präsentieren proudly: The common reader.

[tagebuchbloggend 3.1.]

Was ich vergessen hatte zu erwähnen, ist die Aufgeregtheit am Potsdamer Platz. Die Menschenströme von Außerhalb, die sich Berlin geben wollen und dann vor der Kulisse des Potsdamer Platzes landen, am plattgetretenen Dreieck: Reichstag, Brandenburger Tor, Potsdamer Platz. Ich gehöre ja zur Generation der Berliner, die den neuen Potsdamer Platz schon als integrierten Stadtraum wahrnehmen, und ihn auch entsprechend nutzen, wegen dieser gespielten Mondanität, der wir uns manchmal hingeben, Filme nur im Originalton zu sehen zu können, weil man bei synchronisierten Filmen, nach einer kurzen Entwöhnungsphase im Ausland, diese hermetische TOTALAKUSTIK der Syncronschaltung nicht mehr ausstehen kann. K und ich saßen in einem dieser Touristencafes an der Erhardt-irgendwas-Straße und tranken einen Kaffee, wir waren ziemlich ausgekühlt von der Kälte draußen, K las das Kinoprogramm und ich tat das, was ich früher beim Rauchen auch oft tat: in den Raum schauen. Nur hat man ohne Zigarette das Gefühl man sei ein Tagträumer, während die Zigarette immer die Bedeutungsschwere mitlieferte. Eine alte Erkenntnis. Mir kam jedenfalls in den Sinn, dass die Anwesenden vermutlich dem Trug erlegen wären, sich unter Berlinern zu befinden, das glaube ich, weil ich allen ernstes auch immer glaube, in Paris im 1mere Arrondissement zu sitzen und mich unter Parisern zu befinden, und genauso geht es den Berliner Touristen, sie setzen sich in die Bars am Potsdamer Platz und wähnen sich unter Berlinern, das ist vielleicht das Eigenartige dieses industriellen Massentourismusses – gegen den ich übrigens nichts habe – dass wir uns in, öhm, Sicherheit wähnen. Meine Schwester zieht übrigens wieder um. Der Entschluß alleine zu wohnen. (Diese KAPITALNEBENSÄTZE, ich komme in diesen Tagen nicht drumherum.). Ich begleitete sie zu einer Wohnungsbesichtigung im vorderen Samariterkiez, unweit der besetzten Häuser in der Rigaer-/Liebigstraße. Eine eindrucksvolle urbane Kulisse, die Sprache der bemalten Fassaden, die so explizit daherkommt, in der Ästhetik mit der wir früher die Flyer gestaltet haben. Ein Dutzend Häuser, sie wirken wie eine Territoriumsmarkierung, es ist wie Popart, recycled auf Gründerzeitpappe, TOTALÄSTHETIK. Erst beim Schreiben diese Zeilen fallen mir die Parallelen zum vorgestern erwähnten Quartier Jägerstraße auf, möglicherweise ist Aldo Rossi in seinen letzten Tagen der TOTALPOPART verfallen, der KAPITALTOTALÄSTHETIK, ein gewisser Brutalismus, der angewandt werden will, wenn man mit der Neuen Sachlichkeit brechen muss. Weshalb ich ja auch das Alexa so toll finde. Aber ich schweife ab. Wir haben uns dann diese Einzimmerwohnung im Erdgeschoß in einem Hinterhof angeguckt, die jetzt von den drei Typisierungen her ganz entsetzlich klingt. Das war aber gar nicht so. Die Wohnung war ziemlich geräumig, ziemlich billig, und ziemlich hell. Ich ging mit, weil ich ein fürchterlich neugieriger Mensch bin. Sehen wie Menschen wohnen, die Details, Gegenstände die Identitäten stiften, zu Personen assoziieren, Möbelstücke, und deren Ausrichtung, wie die Inseln geschaffen werden, wie Intimitäten geschaffen werden, überhaupt, wie der Lebensraum von Intimitäten lebt, wie der Stadtraum von Intimitäten lebt. Ich könnte immer nur Wohnungen ansehen. Mein bester Job war vielleicht Ende der Neunziger in den Niederlanden, als ich fast drei Jahre lang Möbel geschleppt habe, etwa 15 Wohnungen pro Tag, 4 Tage die Woche, 12 Monate im Jahr, ich habe damals NUR Wohnungen gesehen, und ich bin morgens mit wunderbarer Laune in die Fabrik gefahren. Später habe ich dann mit der Büroarbeit angefangen und dann bin ich fett wie eine Mozarella geworden, und schlechtgelaunt dazu. Aber gut, wovon wollte ich erzählen? Ach von den Tagen nur. Am Abend haben wir dann Billy Wilders One, Two, Three geschaut, Film aus ’61 über das Sektorenberlin, eine Komödie in der die Menschen unentwegt brüllen, wie so oft in den Filmen aus dieser Zeit, ich weiss nicht, sogar Willy Brandt hat ja immer gebrüllt, wenn er seine Reden hielt. Ich war am Ende des Filmes jedenfalls ein herbstliches Blätterhäufchen, irgendwas mit Espen oderso, und total erleichtert, als K in normalem und ruhigen Tonfall sagte: toller Film, was? Ich nickte. Der Film wurde übrigens von der Geschichte eingeholt; während der Dreharbeiten wurde die Mauer gebaut, und die ganze Thematik war danach für den Dings. Weshalb der Film anfänglich auch gefloppt ist. Erst später fing man ihn an zu schätzen. Heute kam meine Schwester am Nachmittag vorbei, weil sie sich auf dem Flohmarkt am Mauerpark eine TOTALVEREISUNG zugezogen hat. Ich hatte K kurz vorher eine Nackenmassage versprochen, also bat ich meine Schwester aus »Es« vorzulesen, während K vor mir auf dem Boden saß und sich von mir den Rücken kneten lies. So ging das eine ganze Weile und ich fühlte meine Hände irgendwann gar nicht mehr, wobei Ks Nacken TOTALBREI geworden war, was sie aber ziemlich Okee fand. Stephen King jedenfalls– diese öden Abschweifungen vom Handlungsstrang die er macht, zu viel Ballast, zu viel Nebensächlichkeiten, ich verstehe das nicht, ich meine, ich verstehe den Mainstream, ich weiß genau was funktioniert, aber bei »Es« sehe ich schlichtweg nicht, was den Mainstream an diesen öden Ausschweifungen über öde Figuren reizen soll, doch auf irgendeine Art schafft er es, uns bei der Geschichte zu halten, und während ich das so schreibe, glaube ich, dass er uns einfach eindudelt, es ist vielleicht ein bisschen wie beten oderso, er zieht eine enorme Kulisse hoch, und fängt dann an zu beten, mantraartig irgendwie, auch wenn der Text weiterfließt, vielleicht schauen wir bei King tatsächlich dem Fließen zu, als säßen wir am Fluß, ließen die Füße baumeln und schauen stundenlang hinein. […] ah, der Text verliert an Fahrt, ich will jetzt ins Bett. Morgen fängt das Bürojahr an.

[tagebuchbloggend 1.1.]

Neujahr. Gut reingerutscht irgendwie. Nach Mitternacht, gegen zwei oder drei, wurde, in der soundsovielten Rückblende, die soundsovielte Uhr eingeblendet, wie der Zeiger in den letzten Sekunden auf das neue Jahr zugeht. Um 00:00 geschah dann gar nichts, der Zeiger der Zeit ging einfach weiter, ohne inne zu halten und zu reflektieren, ohne jemanden zu küssen, oder den Sekt aufzumachen, nach der nullten Sekunde des neuen Jahres, kam einfach die erste Sekunde des neuen Jahres, und die Zweite, und weiter in seiner unendlichen Schleife. K und ich sahen das geschehen und waren total gerührt. Heute war das mit dem Aufstehen dann doch wieder schwierig. Warum auch immer. Am Nachmittag wollten wir spazieren gehen, auch mit meiner Schwester, die Silvester alleine in ihrer Wohnung verbracht hatte, verbringen wollte, es muss in der Familie liegen. Aber unsere Aufbruchstimmung war für sie dann ein wenig zu hektisch. K und ich fuhren also mit der u8 bis zur Heinrich-Heine-Straße, weil ich von dort durch die Luisenstadt zur Friedrichstadt in Mitte laufen wollte, das Quartier Schützenstraße von Aldo Rossi, genauer anzusehen. Bisher war ich ja immer nur daran vorbeigefahren, und in jene Ecke von Mitte kommt man sonst nicht so schnell, ist ja eine dieser Ex-Mauer-Gegenden, die so eigenartig unerreicht bleiben, für das Berlin, das man so im Kopf hat wenn man Berlin im Kopf hat, was vielleicht auch nur an mir liegt, und meinem Lebensumfeld, das so geprägt ist von diesem Aufbruchberlin, das das Berlin seit 1968 geworden ist. Wir sind dann um den ganzen Block herumgelaufen, ahh, die Körperlichkeit, und sehr angetan gewesen von dieser Architektur die sich so verliebt in Szene setzt. Wir sind dann noch weiter durch die Friedrichstadt gelaufen, durch das rechtwinklige Straßenraster der Quarrees, wie es Ende Sechzehnhundert angelegt wurde, und haben uns im Zickzack bewegt, ein bisschen als wäre es ein Abenteuerurlaub, wegen der Schluchten und des historischen Kontextes, was zwar nur zur Hälfte Abenteurlich ist, aber unsere Generation ist ja geprägt vom aufgezwungenen pädagogischen Wert unserer Kindheit. Sag ich jetzt mal so.

[tagebuchbloggend. die letzten Tage]

Was ist jetzt eigentlich alles passiert? Ich weiss es auch nicht mehr genau. In der Nacht zum neunungzwanzigsten hatte ich mich mit einer Falsche Wein am Rechner amüsiert und ein paar Seiten Text geschrieben die jetzt ein bisschen lala sind, komische Euphorie manchmal. Der nächste Tag war ein Handwerkstag, ich habe den großen Spiegel im Flur und eine Ablage für die Kräuter in der Küche montiert. Danach haben K und ich das Bett im Schlafzimmer umgestellt und das Zimmer war dann plötzlich doppelt so groß geworden. Was ziemlich gut war.
Am Abend dann zu Modeste auf ihre jährliche Feuerzangenbowlenparty gegangen. Und dann ziemlich spät und ziemlich trunken und seelig über einen weiten Umweg nachhause spaziert.

Am nächsten Tag mit meiner Schwester und ihrem Besuch aus den Niederlanden ins jüdische Museum gegangen. Wieder ein bisschen neerlands gesprochen, nach wenigen Minuten ächzendem Knarzen, ging das wieder wie geölt, einer verrosteten Maschine gleich, ich meine: man kann die Sprachmaschine direkt hören, wie sie sich hochfährt und die Gelenke entrostet, oder eben ölt. Selftest-selftest.
Danach waren K und ich mit F und R beim Buchstabenballet– nein Scherz, wir waren bei „The Bird“, dem berühmten Burgerrestaurant am Falkplatz, verabredet. Da haben wir Burger mit Pommes gegessen und Bier getrunken und versucht uns zu unterhalten, über AC/DC hinweg, die über uns aus den Lautsprecherboxen schepperten. Draußen schneite es. wie aus Schneemaschinen. Nachher haben wir die beiden, die ja noch bis nach Charlottenburg fahren mussten, fast zur Ringbahn begleitet und sind vorher noch in der Kopenhagenerstrasse, auf einen Absacker in eine Bar gegangen. Wir haben dort komische Sachen getrunken wie: Ricard, Sex On The Beach, Jack Daniels und Absinth.
Auf dem Heimweg sind K und ich lange durch den verlassenen, nächtlichen Gleimkiez, über den Mauerpark und Bernauer Straße, nachhause spaziert. Der Schnee kam von oben und alles war ausgeglichen und eine Art Seelenfrieden hing über der ganzen Stadt und uns beiden und dem ganzen Rest.

Silvester. Um Punkt zwölf Uhr mittags fiel mir die Deadline zu jenem Literaturpreis, für den ich etwas einsenden wollte, ein. K bearbeitete mir noch schnell den Text und dann sind wir zur Friedrichsstrasse spaziert, damit der Brief noch den Poststempel für 2009 bekommt. Und dann war es 15Uhr, uns fiel gleichzeitig der Appetit ein, also sind wir in das „12 Apostel“ in den S-Bahnbögen, Pizza essen gegangen. K aß eine Lukas und ich eine Thaddeus. Ich wollte erst eine Judas essen, aber die hatte Anchovis und das mag ich nicht immer, jedenfalls nicht um 15Uhr, was aber egal war, weil mir Judas ziemlich wurscht ist und ich jetzt weiß, dass es einen Apostel namens Thaddeus gibt.
Um 17Uhr waren wir wieder zuhause. Dort habe ich über jenen Literaturpreis nachgelesen, und gesehen, dass auch Maxim Biller ihn schon gewonnen hat, und jetzt weiss ich auch, wieviel ich von dem Preis gewinnen werde. Hätte ich vorher lesen sollen.

Silvester. Wir wollten in Rewe|Netto|Kaisers|Plus im Bahnhof Friedrichsstraße einkaufen, alles andere hatten ja schon (wieder) geschlossen. Wir sahen dann aber die Schlange vor dem Supermarkt, uns wurde anders zumute, und so kauften wir beim Spätkauf eine Packung Nudeln und kochten am Abend eine Pasta mit Tomatensauce.

Silvester. Wir hatten zwei lose Einladungen für den Abend abgesagt. Silvester immer wieder. Ich bin damit überfordert. Der Zwang. Er verdirbt mir auf eigenartige Weise die Laune, überall diese hibbeligen Menschen, meist in Partyhopping-Laune, man kann nichtmal ganz normal Freunde einladen, weil die dann sowieso nur hibbelig herumsitzen und warten bis alles losgeht und meistens warten sie hibbelend die Zeit ab bis sie noch bei einer anderen Party vorbeischauen. Mehrmehrmehr.

Silvester. Wir aßen also zu zweit Pasta mit Tomatensauce und schauten The fifth Element. Als das fertig war, schauten wir auf RBB „die 50 besten Partyhits“ und zappten ab und zu zum ARD und dem ZDF um die feiernden Menschen am Brandenburger Tor zu sehen und froh zu sein, nicht da zu sein.
Um zwölf Uhr dann Gonggong, Küsse und wir tranken statt des ekligen lieblichen Sekts, den ich fälschlicherweise gekauft hatte, ein großes Glas 18 jährigen Auchentoshan, schließlich zogen wir uns warm an und gingen hinunter auf die Brunnenstraße und schauten den Raketen und Feuerwerken nach. Der Nachbar von ganz oben stand draußen, mit Freunden und seiner Tochter auf den Schultern und zündete Knallfrösche. Er gab K und mir zwei Solidaritätsknallfrösche.
Drei Häuser weiter fiel beim Abfackeln eine Rakete um, sie ging los, knallte gegen eine gegenüberliegende Hausfassade und explodierte dort am Fenster. Zwei Jungens die aus dem Wedding herübergekommen waren, hatten eine Pistole und schüchterten Menschentrauben ein, die mit Wunderkerzen beieinanderstanden, indem sie auf sie schossen, Platzpatronen nur, aber sie machte helle Funken.

Silvester. Wir gingen wieder hoch ins Haus und schauten die Fortsetzung von „die 50 besten Partyhits“. DJ Ötzi war auch dabei.

[tagebuchbloggend: 28.12.]

Den achtundzwanzigsten vor allem nerdend am Computer verbracht. Den Drucker wieder zum Laufen gebracht, aber damit nicht genug, den PC als Druckerserver für alle Computer im Hause eingerichtet, und eine fünfhundertgigabyte USB-Platte als Haushaltsdaten-Share eingerichtet und natürlich für alle Computer in der Wohnung (6, bei zwei Personen) übers Netz zur Verfügung gestellt, und Skripte geschrieben um täglich die aktualisierten Dateien mit dem Server im Netz zu Syncen, und. Nach dem Aufstehen sind K und ich allerdings erst aus dem Haus gegangen, weil der gestrige Tag schon so ein Tag des künstlichen Lichts war, ich hatte nämlich gar nicht erwähnt, dass wir Avatar am Nachmittag geschaut hatten, also während der paar hellen Stunden dieser kurzen Dezembertage, haben wir diese paar hellen Stunden in einem verdunkelten Keller im SonyCenter am Potsdamer Platz verbracht, und sowieso, wenn ich morgens nicht aus dem Bett muss, dann verschiebt sich mein Biorythmus ganz schnell nach hinten, momentan bin ich bei 4:50Uhr Schlafenszeit angekommen, und irgendwann nach Mittag komme ich aus dem Bett, und tja, der Tag fängt dann schon an zu dämmern, und mich ärgert das, also sind wir heute gegen halb zwei aus dem Haus gegangen, die Brunnenstraße hinunterspaziert, sind in zweidrei Schuhläden reingegangen, haben dann in der Rosenthaler Straße einen Burrito gefrühstückt, und sind dann über den Hackeschen Markt, auf die andere Seite der S-Bahntrasse gegangen, um dieses neue, noch im Rohbau befindliche, sogenannte Hackesche Quartier auszuchecken, Quartierquartier, diese Vermarktungssprache, die Angst vor dem Unschicken, jedenfalls befürchte ich ja, dass die da wieder unsägliche Langeweile hinbauen, oder mindestens diese geleckte Ästhetik, der sich in Avantgarde befindend glaubenden Architektonischen Riege, die, wie so oft, Zurückhaltung predigt, Klarheit, Form follows Function — von der Function erwarte ich, dass sie praktisch ist, die Fernbedienung soll (verdammtnochmal) übersichtlich sein, aber von der Form erwarte ich, dass ich (verdammtnochmal) nicht durch eine Stadt von Fernbedienungen laufen muss. Dabei rede ich nicht einmal ausschließlich von Ästhetik. Aber möglicherweise bin ich ein bisschen ungerecht, ich habe mich über die neuen Häuser hinter der SBahn sehr gefreut, die Intensität des Stadtkörpers, die dort wieder hergestellt wird, aah – und ich klinge wie ein Esoteriker wenn ich vom Städtebau rede.

[tagebuchbloggen 27.12.]

Hm, K sagt, ich wäre schon zu betrunken für diesen Tagebuchblogscheiß um diese Uhrzeit. Ich hingegen bin mir noch nicht ganz sicher. Dabei liebe ich es ja gerade so sehr, diese Zwischenzeit, ha und jetzt erwähne ich es wieder, ich weiss nicht genau warum mir dieser Term in diesen Tagen so oft in die Quere kommt, die Zwischenzeit gibt es ja jedes Jahr, mehr oder weniger jedenfalls, vielleicht weil ich mich darauf eingestellt habe. Und dabei weiss ich nicht was das jetzt wiedermal zu bedeuten hat. Vielleicht wäre wiedermal Kulturkritik angebracht, heute sind wir nämlich in Avatar gewesen, der Film, der die Kinogeschichte umschreiben soll, […] Ploink. Doch nur der 3D-Technik erlegen, eigentlich. Obwohl man immer nur fokussieren kann, man tut sich so schwer das gesamte Bild zu erfassen, man muss immer Details scharfstellen. Wenn man den Überblick behalten will, sich zurückziehen aus dem Geschehen und auch die Ecken erfassen, dann wird alles unscharf, die Augen folgen dem Geschehen nicht mehr. Aber die 3D-Brillen haben ich natürlich behalten. Und das zerstreuende an diesen platten, emotionalen Geschichten ist immer, dass man weiß, wie sehr die Bösen am Ende auf den Deckel kriegen werden. Opium für das Volk, ich meine, man lehrt eine Art von Moral vielleicht, vielleicht; vielleicht ist das auch OK so. Möglicherweise bin ich aber tatsächlich gerade zu betrunken.

[tagebuchbloggen 26.11.]

Wir machen ja oft Spaziergänge Unter den Linden.

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Am Abend endlich wieder an diesem langen Text gearbeitet, ich habe ihn seit etwa drei Monaten nicht mehr angefasst und überhaupt war ja diese freie Weihnachtswoche dafür da, aufzustehen und ein bisschen dazwischen zu hängen, zwischen den Tagen, zwischen den unterschiedlichen Wahrnehmungen, zwischen den Zeiten auch, wenn man so will, aufstehen und mich an den Text zu setzen, in dieser undefinierte Leere, nicht nur des entvölkerten Berlins, weil Berlin ja gar nicht so entvölkert ist, wie ich immer glaubte, es spielt sich nur alles in den Häusern ab, das Introvertierte an der Weihnacht, daran musste ich an diesem Heiligabend denken, als wir im Treppenhaus einer chinesischen Familie begegnet sind, sie waren auf dem Weg nach oben in die Ferienwohnung, das vermultich einzig gute daran, eine Ferienwohnung im Haus zu haben, dass man chinesische Familien im Treppenhaus trifft und sich wundert; es waren offensichtlich Touristen, zu Besuch im weihnachtlichen Europa, die Geburtsstätte dieses eigenartig bilderstarken Volksfestes, einer Ästhetik die wirklich so etwas wie Sehnsüchte zu erwecken vermag, ich meine, die Weihnacht strotzt ja nur so von Sehnsuchtsbildern, wenn auch nicht meine: der Schnee, die Glocken, die sanften Lichter, der nächtliche Himmel, die roten Wangen, die roten Gewänder, die roten Tischdecken, die bunten Geschenke, der Schnee, der Schnee, der Schnee, das sind ja die Bilder die hinaus in die Welt gebracht werden, und dann frage ich mich wie man als chinesische Familie die Weihnacht in Europa überhaupt erlebt, erleben kann, ich meine: wir Europäer gehen nach Japan um die Sache mit den Kirschblüten zu feiern und alles ist irgendwie Kirschblüte, dann gehen wir nach Rio um den Fasching zu feiern und alles ist irgendwie Fasching, aber dann kommt eine chinesische Familie nach Europa um Weihnachten zu feiern und findet am Tag an dem alles geschehen soll, an dem Abend an dem diese ganze aufgestaute Adventsspannung, alle Weihnachtsmärkte, alle Glühweinstände, alle Kerzen, alle rotweiß kostumierten Bartträger, und alles, alles irgendwie in tausende Lichter zerplatzen müsste, an diesem Abend findet die chinesische Familie eine tote Stadt vor.
Dieses Introvertierte der Weihnacht. Ich finde das ja ganz gut, eigentlich.