[Fr, 28.6.2024 – Nordkapreise Ende, und die letzten Tage]

Sobald wir in Berlin ankamen, waren wir beide kaputt. Da wir um 5 Uhr morgens starteten, kamen wir bereits um halb sieben Uhr abends an. Meine Frau hatte uns Pasta e Ceci gemacht. Nach dem ersten Teller setzte das postprandiale Koma ein und wir fielen ins Bett.

Berlin empfing uns mit 32 Grad. Wie sehr ich das hasste. Bereits in Schweden stieg die Temperatur stark an. In Östersund zeigte die Wetter-App 27 Grad an. Meine Schwester, die sich gerade in Sardinien am Strand befindet, berichtete, sie hätten dort nur 26 Grad.

Mein Vater wollte einen Tag Pause einlegen und in Berlin bleiben. Deswegen dachten wir, am Folgetag ein bisschen durch die Stadt zu spazieren, Museumsinsel besuchen, Reichstag etc., aber schon am Vormittag entschuldigte er sich und zog es vor, noch einmal zurück ins Bett zu gehen. Auch am Nachmittag zwei Mal. Ich nahm das dankend an, ich war zu kaputt für touristisches Programm, aber ich hätte es ihm zuliebe natürlich durchgezogen. Zwar konnte ich nicht schlafen, aber zumindest konnte ich auf dem Sofa rumdösen. Zehn Tage Autofahrt. Ich wusste nicht, wie anstrengend das ist. Auch wenn die Reise gut war und sehr speziell, will ich nie wieder so viel Zeit in einem Auto verbringen. Sollte ich in Zukunft einmal eine ähnliche Strecke zurücklegen, dann nur mit drei Wochen Urlaub und langen Aufenthalten an mehreren Orten.

Ich hätte gerne ein paar Tage mehr in Alta und Umgebung verbracht, sowie in Umeå und Luleå. Auch Östersund. Aber Östersund ist immerhin erreichbarer. Und natürlich fehlt mir jetzt Hammerfest, aber damals war ich einfach schon mental mit der Reise durch.

Über den letzten Reisetag gibt es nicht viel zu berichten. Es war vor allem ein dreizehnstündiger Marathon. Auf diesem letzten Abschnitt erzählte er mir viel über die Vergangenheit. Ich wollte ganz spezifische Dinge wissen, vor allem über meine Zeit als Kind und über seinen beruflichen Werdegang. Da kamen erstaunliche Dinge zum Vorschein, wovon ich einige sicherlich in den nächsten Wochen aufschreiben werde.

Unserer Beziehung hat die Reise möglicherweise gutgetan, auch wenn sich im Alltag oder im direkten Umgang miteinander vermutlich nichts ändern wird. Aber wir haben jetzt dieses gemeinsame Erlebnis, an das wir noch lange denken werden. Ich glaube, wir haben in diesen zehn Tagen mehr Zeit miteinander verbracht als in den 49 Jahren davor.
Mein Vater wirkt oft wie eine groteske Version von mir. Alle meine schlechten Eigenschaften kommen in ihm vor, aber in einer verstärkten Form. Auch einige meiner guten Eigenschaften, diesen machen ihn wiederum sehr sympathisch.

Meine Frau wirft mir manchmal mangelndes Problembewusstsein vor. Das, was sie damit meint, nenne ich hingegen Optimismus. In den letzten zehn Tagen mit meinem Vater dachte ich oft: Dieser Mann hat ein krasses mangelndes Problembewusstsein. Wenn ich ihn in den Situationen darauf ansprach, sagt er, ich solle nicht immer so pessimistisch sein, er sei Optimist.

Was ich an der Reise mochte, ist, wie er mit der Hündin umging. Wir kommen aus einer tierfremden Familie. Wir hatten keine Haustiere, erst recht keine Hunde. Aber er liebte meine Hündin, tat ständig etwas mit ihr. Er wurde allerdings nicht müde zu sagen, dass er nie einen Hund haben möchte.

Was noch mehr: Skandinavien ist EM-freie Zone. Das war mir vorher gar nicht bewusst. Die einzige Berührung mit der EM war in Jokkmokk. Als wir die Unterkunft betraten, sass ein älteres Ehepaar im Aufenthaltsraum. Ich blieb kurz stehen, um Paarung und Spielstand zu checken. Es spielten Dänemark gegen England und es stand 1:1. Ich wechselte ein paar Sätze mit dem Paar. Die beiden waren Schweden und hielten zu Dänemark.

Mein Vater ist mittlerweile wieder zurück in Südtirol. Er fotografierte den Kilometerstand, das Display zeigte 7691 Kilometer. Wenn man die Strecke nach Berlin rausrechnet, dann bleiben für mich 6000 Kilometer übrig.
Wir telefonierten kurz. Es war 19Uhr. Mein Vater wollte wissen, ob die Hündin schon gegessen hatte. Im Ernst. Er wollte wissen, ob sie schon gegessen hatte. Immerhin war es 19Uhr. Er weiss, wann sie zu essen bekommt. Das rührte mich sehr.

Ich bin immer noch müde.

[Di, 25.6.2024 – Nordkapreise Tag 9. Östersund, Dalarna, Mariestad]

Die Nacht in Östersund war natürlich immer noch keine echte Nacht, sondern eine helle Dämmerung.

Heute fuhren wir wieder gegen 10 Uhr los. Das Tagesziel fanden wir im Laufe der Fahrt. Wir hatten jetzt ja eine Stunde gewonnen, dann konnten wir ja gleich auch das nächste Ziel um eine Stunde näher an Berlin verlegen. Nach langem Suchen fand ich endlich eine Stuga, also ein schwedisches Holzhäuschen mit zwei Schlafzimmern und einer Dusche für 80 Euro die Nacht in der Nähe von Mariestad. Von dort aus sind es noch einmal 12 Stunden nach Berlin, die wir diesmal durchfahren wollen. Das ist weniger schlimm, wie es sich anhört, da wir ja die Strecke auch zwei Fähren enthält.

Die Zeit der Rentiere war auf der heutigen Strecke vorbei. Südlich von Östersund verändert sich die Landschaft merklich. Es wird kontinentaleuropäischer. Die Wälder wieder dichter, die Siedlungen wieder grösser. In den letzten Tagen sind wir durch Gegenden gefahren, wo manchmal eine Stunde lang kein einziges Haus stand. Oft waren wir die einzigen auf der Strasse. Das begann sich ab Jokkmokk abwärts irgendwann zu ändern. In Östersund war die Zivilisation wieder in vollem Umfang da.

Weiter südlich begann Dalarna, diese hügelige Gegend, aus der die roten Holzpferde kommen. Die Rückfahrt hatte ich aber eher als Durchfahrtstrecke geplant, wir würden acht Stunden fahren, da gab es nicht viel Gelegenheit für einen Ausflug oder einer längeren Pause. Heute redeten mein Vater und ich sehr viel. Darüber, wie das damals vor vierzig Jahren alles so ging. Wie es dazu kam, dass unsere Familie ins Gadertal zog, warum er als Pommesverkäufer plötzlich eine Rettungsstation aufbauen musste. Undsoweiter.

Ausserdem rief uns wieder Onkel Konrad an, der uns mitteilte, dass Onkel Seppl in der Nacht verstorben sei. Tante Zita hatte neben ihm gelegen und es lange nicht bemerkt. Daraufhin telefonierten wir mit der ganzen Verwandtschaft. Das ging sicherlich zwei Stunden. Die Gespräche gingen über die Freisprechanlage. Die Nachricht des Todes kam aber nicht überraschend. Onkel Seppl wurde 91 Jahre alt und war in den letzten Monaten nicht mehr wirklich fit. Vor etwa zwei Wochen hatte er aufgehört zu essen.

Onkel Seppl war Kirchenmessner. Also der, der sich um alles kümmerte. Der, der das Weihwasser nachfüllte, derjenige, der die Gerätschaften wartete, und auch derjenige, der die Glocken läutete. Nun ergab es sich, dass der Glockenstuhl gerade saniert wird und alle sieben Kirchenglocken heruntergenommen wurden. Es sei ein seltsames Gefühl, dass die Glocken nicht mehr alle Viertelstunde läuteten. Es gibt die Glocke, die die Viertel angibt, dann die etwas wärmere Glocke, die die Stunden schlägt. Dann gibt es noch andere Glocken, von denen ich nicht weiss, was sie genau machen, ich was nur, dass sie eine Viertelstunde vor der Sonntagsmesse alle zusammen läuten. Das nennt man das Zusammenläuten. Spätestens dann muss man sich schnell in Richtung Kirche hasten. Ich habe jede einzelne dieser Glocken gehasst. Wir wohnten in der Nähe der Kirche.

Es gab allerdings noch eine Glocke, deren Existenz ich kenne. Und die ist vielleicht die Ausnahme. Das ist die Totenglocke. Die Totenglocke ist die kleinste der sieben Glocken. Und die läutet, wenn jemand stirbt. Nun ergab es sich, dass gerade beim Tod des Messners der Glockenstuhl saniert wird und die kleine Totenglocke nicht geläutet wird. Das sagte fast jeder am Telefon: Gerade wenn der Seppl stirbt, kann die Totenglocke nicht läuten.

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Zu mehr Inhalt reicht der heutige Eintrag nicht. Morgen gehen wir die lange Rückfahrt nach Berlin an. Ich habe den Wecker auf 4:30 gestellt. Es wird Zeit, ins Bett zu gehen.

Ich habe übrigens zu allen Einträgen der Reise die Strecke als Screenshot nachträglich hinzugefügt. Fürs Protokoll.

[Mo, 24.6.2024 – Nordkapreise Tag 8. Gällivare, Süden, Östersund]

Ich muss meine negative Meinung zu Gällivare revidieren. Auf Wunsch der Rezeptionistin unserer kleinen Pension, in der wir diese Nacht schliefen. Sie war eine gut gelaunte, schwer tätowierte, kleine, etwas dicke Frau. Wir kamen schnell ins Gespräch und unterhielten uns über dies und das auf Englisch. Da ihr Akzent aber nicht skandinavisch klang, fragte ich sie, ob sie von hier sei, was sie verneinte, sie käme aus Italien und weil ich aus Südtirol kam, wechselten wir zu italienisch.

Ihre Geschichte: sie ist nahe Bari in Puglia geboren, ihr Vater ist Italiener und die Mutter Argentinierin. Als sie sechs Jahre alt war, zog die Familie nach Argentinien. Dort lebte sie 12 Jahre. Danach zog die Familie zurück nach Puglia. In Bari und Umgebung schlug sie sich jahrelang mit Hoteljobs herum, bei denen sie 12 Stunden pro Tag arbeiten musste und sich nie Geld beiseitelegen konnte. Vor zwei Jahren lernte sie über Instagram einen Mann aus Nordschweden kennen, ein Jahr später zog sie zu ihm und macht jetzt den gleichen Job nur ohne Überstunden und dafür mehr Geld. Sie kann jetzt sogar sparen.

Ich wollte wissen, wie sie mit dem Wetter klarkäme. Das sei nicht schlimm, sagte sie. Sie möge das. Und im Sommer ginge sie drei Wochen nach Puglia, um richtig Sonne zu tanken. Ich sagte, dass ich Gällivare seltsam fände. Eine zombiehafte Stimmung hinge hier in der Stadt. Das löste viel Emotionalität in ihr aus. Das stimme ja gar nicht. Heute sei ja nur Sonntag. Der Ort ist sehr lebendig, es gäbe eine bekannte Musikszene und zwei richtig gute Kneipen. Sie sagte, ich müsse meine negative Meinung revidieren.

Ich beschloss, es zu tun.

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Mein Schwiegervater erzählt manchmal diese Anekdote, wie er als junger Mann einmal ein Projekt in Lappland zugewiesen bekommen hatte. Dort traf er einen Bauern, mit dem er sich über die Kälte unterhielt. Der Bauer sagte, er fände den Süden jetzt nicht unbedingt wärmer als hier den Norden. Er sei schon mal im Süden gewesen, in Lulea, da war es aber genau so kalt.

Ich kann das mit dem Süden nachvollziehen. Aus der Sicht von Alta ist Gällivare eine ganz andere Welt.

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Von Gällivare aus fuhren wir weiter in Richtung Süden, wieder an Jokkmokk vorbei, auch am Polarkreisdenkmal und somit fuhren wir zurück in die Nacht. Nach drei Tagen Tageslicht war das ein lustiges Gefühl. Natürlich fuhren wir zuerst den ganzen Tag lang durch Tag, erst am Abend in Östersund würde die Sonne um 23:16 untergehen. Aber dennoch. In die Nacht zu fahren fanden wir lustig.

Auf der Rückreise hatte ich wesentlich längere Strecken geplant. Während ich für die Hinfahrt nie die sechs Fahrstunden überschritt, hatte ich bereits eine Vorahnung, dass man auf der Rückreise vielleicht etwas reisemüde ist. Jeden Tag Hunderte Kilometer fahren, jeden Tag eine andere Unterkunft aufsuchen, das ermüdet. Deswegen sollten wir heute eigentlich 7 Stunden bis nach Strömsund fahren. Da wir aber gut unterwegs waren, schlug ich meinem Vater vor, einfach eine Stunde weiter zu fahren. Das Hotel konnten wir kostenlos stornieren und wir würden uns wieder eine Blockhütte auf einem Campingplatz mieten. Das sei mit Hund ja wesentlich entspannter. Er fand das gut und so fuhren wir eine Stunde weiter bis nach Östersund. Dort mieteten wir uns in eine nicht ganz so nette Blockhütte ein, aber es war für die Essenssituation wesentlich einfacher und die Hündin konnte die ganze Zeit dabei sein.

Ich glaube, sie hat den Reiseblues. Gestern Abend im Hotel war sie sehr liebesbedürftig, suchte ständig Körperkontakt zu mir und wich kaum von meiner Seite. Hunde sind Gewohnheitstiere, sie lieben Routine. Hier weiss sie seit Tagen nie, was passiert.

Mein Vater ist aber weiterhin gut gelaunt. Und das macht mir viel Freude. Er möchte sogar eine Autoreise mit mir durch Afrika unternehmen. Ich liess das einfach mal stehen.

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Gestern und heute sahen wir viele Rentiere. Sie liefen einfach auf der Strasse. Es ist langweilig, sie zu filmen oder fotografieren. In echt sind das aber wirklich sehr schöne Tiere. Und sie haben ein pelziges Geweih.

[Sa/So 21./22.6.2024 – Nordkapreise Tag 6&7, Nordkap, Birken, Finnmark, Gällivare]

Wir gingen den Morgen gemütlich an, weil und die Hütte so gut gefiel und wir es ja auch nicht eilig hatten. Zum Nordkap würde es noch mal 3,5 Stunden dauern, das ist nicht so weit. Danach würden wir einen Umweg nach Hammerfest nehmen und dort nächtigen.

Ab Alta fährt man auf ein Hochplateau hinauf, geradewegs auf den Norden zu und auf die Ostseite der Halbinsel, die zur Nordkapinsel führt. Der Nordkap ist nämlich gar kein Festland mehr, sondern eine Insel, die etwa 6 Kilometer von Festland entfernt liegt und mit einem langen Tunnel verbunden ist. Nordkap ist technisch gesehen auch nicht der nördlichste Punkt Europas. Zum einen wäre das geografisch ohnehin Spitzbergen oder Franz-Josef-Land in der Hocharktis, aber es gibt unweit westlich vom Nordkap eine Landzunge, die sich einige Hundert Kilometer nördlicher befindet. Der sogenannte Nordkap ist mit seiner 300m hohen Klippe aber ein wesentlich dramatischerer Endpunkt des Kontinents. Vermutlich ist er deswegen der Ort geworden, der er heute ist.

Es wurde ein richtig schöner Tag. Die Sonne strahlte und der Himmel war blau. Und es war angenehm mild. Je nördlicher wir kamen, desto niedriger wurden die Bäume. Es wuchsen fast nur noch Birken. In Alta waren sie noch so gross, wie man Birken kennt. Eine Stunde nördlich von Alta waren die Birken nur noch 30cm hohe Sträucher. Es waren wirklich Birken. Ich stieg aus dem Auto aus und fotografierte sie.

Wir sahen Rentiere. Einmal eine ganze Herde, die von einem Hirten auf einem Quadmobil und einem Bordercollie von einer Weide über die Strasse auf eine andere Weidefläche getrieben wurde. Wir erstarrten natürlich bei so viel Touristenglück und filmten die Szenerie. Aber auf Videos sieht das nie wirklich gut aus. Später sahen wir kleinere Herden und manchmal begegneten wir einzelnen Tieren auf der Strasse. Wie man auf den Fotos unter sehen kann.

Ab etwa einer Stunde vor dem Kap wurde die Landschaft arktisch. Sehr rau. Sogar Birken konnte ich nicht mehr erkennen. Nur Steine, Felsen und Geröll. Dazwischen Tundraboden, bräunlichgrünes Gras, Moose, Flechten. Die Landschaft sah aus wie auf dem Mars. Manchmal ging die Landschaft in Strände über, vor allem in den zahlreichen Buchten. In einer Bucht sahen wir zwei Männer bis zur Brust im Wasser. Sie schienen Spass zu haben. Das ist aber nicht mein Ding. Mein Vater staunte. Hin und wieder kam eine kleine Siedlung aus Holzhäusern. Manche am Wasser, manche auch einfach neben der Strasse. Es gab kleine Hütten, die verschiedene Sachen verkauften. Kaffee und Sämische Parafernalia. Ein Häuschen verkaufte Silber. Warum auch immer.

Um auf die Insel zu kommen, fuhren wir durch den 7km langen Tunnel. Ich wusste davon und hatte auch darüber gelesen. Dass er per Fahrrad durchfahrbar sei und dass er gegen Schneeverwehungen im Winter Tore hat, die sich automatisch schliessen und öffnen. Ich wusste auch, dass er am tiefsten Punkt 216 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Nur hatte ich den Tunnel in dem Moment vergessen. Es kam einfach ein Tunnel, wie so oft in Norwegen, aber dieser Tunnel ging ziemlich steil abwärts. Immer abwärts und weiter abwärts, fast 4 Kilometer lang. Ein komisches Gefühl kam in mir auf, mich in den Bauch der Erde hinabzubegeben. Als wäre das nicht genug, ging mitten im Tunnel auch die Warnlampe des Benzintanks mit einem lauten „Pling“ an.

Zwanzig Kilometer vor dem Kap kam noch die letzte Stadt, Honningsvag, mit 2500 Einwohnern. Die Stadt liegt in einer schönen, geschützten Bucht. Die bunten Holzhäuser stapeln sich an den Hängen des Hafens übereinander. In der Bucht selber lagen drei grosse Kreuzfahrtschiffe. Wir erschraken zuerst und dachten, es stünden riesige Bürohochhäuser im Hafen. Dann erkannten wir, dass es Kreuzfahrtschiffe waren. Wir blieben aber trotzdem erschrocken. Gerade deswegen. Eines der Schiffe hatte zwölf Stockwerke, es hiess Princess of irgendwas. Es lag da wie ein Ufo.

Offenbar werden von dort aus Touristen per Bus ans Nordkap gekarrt. Wir fuhren weiter. Wir hatten in der letzten Stunde kaum noch miteinander gesprochen. Die Landschaft liess uns ziemlich verstummen. Anfangs sagten wir noch schau hier und schau da. Irgendwann zeigten wir nur noch hier und da. Aber am Ende waren wir verstummt und fuhren ziemlich schweigend und verzaubert über den Mond.

Zwei Kilometer vor dem Ziel zog dann ein dichter Nebel auf. Ein richtig dichter Nebel. Man konnte zuerst etwa 20 Meter weit sehen, am Ende vielleicht noch 10. Ich musste vom Gaspedal. Dennoch fanden wir den Parkplatz und mithilfe von Googlemaps fanden wir sogar den Fussweg zum Kap. Ohne Maps hätten wir schlichtweg nicht wissen können, wo hin. Weil wir kaum Menschen erkennen konnten und erst recht nicht das Gebäude und die Monumente am Kap.

Dort war es sehr windig. Und sehr viele Menschen. Es wehte ein eisiger Wind bei zwei Plusgraden und wir beide trugen kurze Hosen. In Alta war es noch 18 Grad warm. Die Barentssee konnte man nicht sehen, auch nicht, wie hoch man sich befand. Man sah nur, wie das Land endete und dann dicker Nebel. Das fanden wir nicht unlustig. Kommt man einen so weiten Weg, um sich Nebel anzusehen. Dass Europa in einem düsteren, dichten Nebel endet, hat auch etwas Metaphorisches, mindestens aber etwas Dramatisches. Oder schönes. Oder schön Dramatisches. Wir fanden es nicht schlimm. Weil wir die einzigen mit kurzen Hosen waren, wurde uns auch bald etwas ungemütlich. Wir hätten in die Nordkaphalle gehen können, jedoch wurde ich gewarnt, dass das eine Touristenfalle sei. Bei 300 Kronen, also 30 Euro Eintritt, empfanden wir auch wenig Verlangen, das Gebäude zu betreten. Also kehrten wir zum Auto zurück und traten den Weg nach Hammerfest an.

Ich muss zugeben, dass ich ab dem Moment sehr müde wurde. Müde von der Reise. Das Ziel war erreicht, jetzt nennt sich das Ziel wieder Berlin. Und wenn ich an die lange Reise zurück denke, an die 3200km Asphalt, dann würde ich gerne einschlafen.

Wir wollten in Hammerfest schlafen. Das war ein zweistündiger Umweg. Ich wollte immer schon einmal in Hammerfest sein. Nie so dringend wie Longyearbyen oder am Polarkreis, aber der Name Hammerfest wirkte schon als Kind in mir und ich verbrachte als Kind sehr viel Zeit über Landkarten gebeugt. Hammerfest. Alles stimmt an diesem Namen.

Aber plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf diesen Umweg. Ich wollte den Heimweg antreten. Ich schlug meinem Vater vor, zurück nach Alta zu fahren und uns für eine weitere Nacht in diese Blockhütte einzumieten, die wir so gerne mochten. Wir könnten uns wieder einen Lachs braten und Tiefkühlgemüse dazu kochen. Mein Vater sagt immer „Wie du willst“ und nach einigem Hin und Her fragte ich telefonisch nach der Blockhütte Nummer 14, ob diese noch frei sei. Die Frau am Telefon sagte, es sei die einzige, die noch frei sei und so buchte ich sie, während ich das Hotel in Hammerfest kostenfrei stornieren konnte. Es war perfekt.

Dann verfuhren wir uns noch. Ich hatte auf mein Handy geschaut und wir hatten eine Kreuzung verpasst, damit kamen wir eine Stunde später als geplant in Alta an, aber das war nicht so schlimm. Schlimmer war, dass die Hütte Nummer 14 nicht die Hütte war, die ich gemeint hatte. Die schöne Hütte war Hütte 20. Ich war mit den Nummern durcheinandergekommen. Hütte 14 war zwar wesentlich günstiger, aber sie hatte auch nur ein Schlafzimmer sowie kein Badezimmer und auch kein Wasser. Das deprimierte mich ungemein, da ich mich wirklich auf diese gemütliche Hütte gefreut hatte.

Mit vielen Umständen gelang es uns dennoch, mit Pfannen und Geschirr aus der Campingküche ein Mahl zuzubereiten. Danach musste alles abgewaschen werden und da wir sehr weit von der Campingküche entfernt standen, lief ich an dem Abend sicherlich 100 Kilometer zu Fuss hin und her.

Aber der Himmel war blau und eine sehr angenehme Sonne schien über uns und Alta. Als mein Vater ins Bett ging, holte ich den Tagebucheintrag von vorgestern nach. Eigentlich wollte ich über beide Tage schreiben, ich sass lange am Tisch und schrieb. Sie Sonne schien zu mir herein. Irgendwann war es ein Uhr und ich musste mich zwingen aufzuhören. Ich hatte aber nur über einen Tag schreiben können. Es ist schon ärgerlich, in Verzug zu geraten, ich nehme diesen Reisebericht schliesslich ernst. Aber ich finde es auch ein bisschen lustig.

Bevor ich mich ins Bett legte, lief ich über den schlafenden Campingplatz zu den Badezimmern, um mir die Zähne zu putzen. Am Himmel leuchtete die Sonne, wie in Berlin um sieben Uhr abends, aber alles war ausgestorben, alles schlief. Ich stellte mich an den Eingang der Badeeinrichtung und putze mir die Zähne, während ich mir das Gesicht von der Mitternachtssonne wärmen liess. Seltsam unwirklich.

Tag 6

Da wir in Alta übernachtet hatten, sparten wir uns zwei Stunden Fahrt in Richtung Süden bis nach Gällivare. Aus einer 7,5 Stunden Fahrt wurden damit 5,5 das ist wesentlich erträglicher. Vor allem ist es bis Gällivare exakt die gleiche Strecke. Wir werden sogar bis nach Jokkmokk fahren, allerdings trennen sich dort die Wege der Hinfahrt von der Rückfahrt, da wir die Rückfahrt über das Inland fahren werden.

Das Wetter auf der Fahrt nach Gällivare war sehr sonnig. Sogar auf dem Hochplateau trugen wir nur ein Tshirt. Allerdings gerieten wir wieder in einen unfassbaren Mückenschwarm. Es ist erstaunlich, wie viele Mücken es dort gibt. Aber auch nur dort. Diese 100 Kilometer um der finnisch-norwegischen Grenze herum.

Und Birkenbirkenbirken. Überall Birken. Oben auf den Pässen klein und unten in den Tälern gross. Je näher wir aber Gällivare kamen, desto mehr Fichten mischten sich dazwischen, später auch auch Kiefern.

Gällivare also. Meine Frau warnte mich. Sie ist vor etwa zwanzig Jahren in Gällivare gewesen, das sei eine furchtbar langweilige und hässliche Stadt. Es ist eine Stadt mit mehreren Erzbergwerken und ausserdem ist es ein Eisenbahnknotenpunkt. Das Essensangebot besteht aus drei heruntergekommenen Pizzerie, einem Sushiladen und einem Chinarestaurang. Keines davon hat eine Aussenterrasse, wodurch wir auch nicht mit der Hündin irgendwo sitzen konnten. Also holten wir uns zwei Pizze und verspeisten diese in unserem Hotel.

Erwähnen möchte ich auch noch die Dorfjugend, die auch hier in tiefergelegten Autos und wummernden Bässen und offenen Fenstern mit 20 km/h durch den Ort cruist. Denen sind wir auf unserem kurzen Spaziergang mehrmals begegnet. Aber hey. Das würde ich hier vielleicht auch tun.

Allerdings liegt Gällivare in einer sehr schönen Landschaft, die offenbar bei Wanderurlaubern beliebt ist. Muss man ja auch erwähnen. Und es hat einen sehr schönen Bahnhof in Blockhausstil. Den sieht man auch auf den Fotos.

[Fr, 21.6.2024 Nordkapreise Tag 5, Finnland, Norwegen, Alta]

Die Wände im Wandererhaus waren sehr dünn. Im Zimmer neben mir schlief ein dänisches Paar, das vorher noch Dänemark gegen England geschaut hatte und danach die halbe Nacht schnarchte. Sie schnarchten beide. Ich hörte zwei unterschiedliche Frequenzen.

Auf meiner morgendlichen Gassirunde durch Jokkmokk lief ich an einer Art Festwiese an der Hauptstrasse entlang. Am Ende der Wiese stand eine überdachte Bühne, wie ich sie auch aus Südtiroler Dörfern kenne. Es fiel mir auf, dass die Bühne mit weissen Kerzen vollgestellt war. An beiden Enden der Bühne hingen Trikots, die nach Eishockey aussahen. Weil das meine Neugier weckte, näherte ich mich der Bühne. Da waren sicherlich 150 weisse Kerzen platziert. Die dicken, selbst stehenden Kerzen. Wie Grabkerzen, nur in weiss. Dahinter standen zahlreiche Bilder eines jungen, lustig wirkenden Mannes. Vor den Kerzen waren Grusskarten aufgestellt, manche lagen. Es waren Dutzende. Auch lagen Schlüsselanhänger und Feuerzeuge. Und dazwischen immer die Fotos von dem jungen, lustig wirkenden Mann. Manchmal alleine, manchmal umarmt mit Kumpels. Manchmal in seinem Trikot und einem Hockeystick in der Hand.

Wir starteten vergleichsweise früh. Heute hatten wir eine längere Reise vor uns. 6,5 Stunden bis ins norwegische Alta, der letzten Etappe vor dem Nordkap. Weil die Reise heute länger dauern würde, planten wir mehrere Pausen ein, damit die Reise erträglicher wird. Die Pausen gelangen uns nicht besonders gut. Als wir losfuhren, begann es nämlich zu regnen.
Ich sitze sehr gerne bei Regen im Auto. Aber Pausen sind da weniger unterhaltsam.

Mit der Fahrt ins norwegische Alta machten wir uns auf den Weg in den Polartag. Alta liegt auf Breitengrad 69, das ist 300 km nördlich vom Polarkreis. Während der Polartag in Jokkmokk am Polarkreis genau 48 Stunden dauert, streckt sich der Polartag in Alta vom 16. Mai bis zum 26. Juli. Am 100km nördlicher gelegenen Nordkap vom 13. Mai bis 31. Juli.

Wir fuhren durch Gegenden, die ich schon oft auf Streetview gefahren bin. Ich erkannte einige Kreuzungen wieder und sogar einen Laden unweit der Grenze zu Finnland. Der Laden heisst „Arctic Livs Eurofood“ und ist eine Mischung aus Selbstbedienungstankstelle, Kiosk und Pizzeria. Die ganze Gegend wirkt auf Streetview eher flach. In Wirklichkeit ist die Landschaft bewegter, hügeliger.

Ab Jokkmokk wird die Besiedlung immer dünner, ab Gällivare sieht man sehr selten Häuser. Ab und zu eine Siedlung, die aber nicht sehr belebt wirkt. Und überall Birken. Birken, Birken, Birken. Je nördlicher man kommt, desto kleiner werden die Birken. Als wir nach Finnland in Norwegen einfahren, überqueren wir ein langes Hochplateau, das sich knapp unter der Baumgrenze bewegt. Wir haben einen Höhenmesser dabei und schätzen, dass die Baumgrenze sich hier bei etwa 400 bis 500m befindet. In den Alpen verläuft die Baumgrenze bei 2000m.
Und hier die Birken. Knapp unter der Baumgrenze sind die Birken nur noch 30cm hoch. Aber es sind immer noch Birken. Selten haben mich Birken so sehr begeistert wie in diesen Tagen. Ich wusste bisher nichts über sie, ausser, dass sie schön und freundlich sind.

Unterwegs ruft uns wieder Onkel Konrad an. Wir unterhalten uns mit ihm über die Freisprechanlage. Er will alles von unserer Reise wissen. Er ist ein bisschen langsam, sagt aber oft „aha“ und „oh“ und „ja“. Ich kenne Onkel Konrad nicht so gut. Er war immer ein alter Mann und der Vater von einem Kusin, den ich nicht sonderlich mochte. Ich finde Konrads träge Neugierde aber total niedlich.
Wir versprechen ihm, ihn morgen vom Nordkap aus anzurufen. Er hat leider kein Smartphone also kann er sich auch nicht die Whatsapp Status (das Socialmedia für die Generation meines Vater) ansehen. Mein Vater verspricht ihm alle Fotos auf dem Tablet zu zeigen.

Einmal machen wir eine Pause in Finnland. Es regnete gerade nicht. Ich wollte ein paar Schritte mit meiner Hündin machen. Aber wir befanden uns offenbar in einer Mückenkolonie. Ich habe noch nie so viele und grosse Mücken auf einem Haufen gesehen. Ich stieg sofort wieder ein. Kurz danach passierten wir die Grenze zu Norwegen. Es wehte ein kalter Wind und es regnete in Strömen. Über eine Webseite hatte ich mich über die Bedingungen eingelesen, wenn man mit Hund in dieses Land einreisen will. Man muss die rote Spur nehmen und den Hund beim Zoll anmelden. Wir warteten eine Weile auf der roten Spur, aber es kam niemand. Da ich mich mit Formalien beim Zoll nicht auskenne, stieg ich aus und lief durch den Regen zum Kontrollhäuschen. Drinnen sassen zwei kleine Frauen. Ich fragte sie, was ich tun müsse, ich hätte einen Hund dabei und hier sei der Hundepass. Ich hätte alle notwendigen Impfungen eintragen, es ginge ja vor allem um die Tollwut, ja? Sie schien verwundert, dass ich sie bei der Arbeit störte, war aber trotzdem freundlich. Sie blätterte täuschend echt überzeugend in dem Pass und kontrollierte die Stempel. Dann sagte sie everything ok und erschlug eine Mücke auf ihrem Schreibtisch.
Ich fand das lustig und fragte, ob die immer hier seien, das hätte ich so nie erlebt. Sie sagte: only one month.
Damit konnte ich irgendwie nicht viel mit anfangen.

Drei Stunden später erreichten wir den ersten Fjord und damit Alta. Dort hatte ich uns zur Abwechslung eine kleine Blockhütte auf einem Campingplatz gemietet. Das war eine sehr gelungene Unterkunft. Wir verliebten uns sofort in die Hütte. Weil es eine kleine Küche gab, fuhren wir in den Supermarkt und kauften uns Lachsfilet und Tiefkühlgemüse.
Auch statteten wir der Nordlichtkatedrale einen Besuch ab. Die soll sehr schön sein, aber wir waren müde und hungrig und der Besuch kostete 80 Kronen, also 8 Euro, dafür hatten wir in dem Moment keine Muße.

In Alta war das Wetter geringfügig besser. Zwar blieb der Himmel bewölkt, wir konnten also nichts von der Mitternachtssonne sehen, aber es blieb hell, wie am Tag, die ganze Nacht lang.

[Do, 20.6.2024 – Nordkapreise Tag 4, Lulea, Gammelstad, Storfors, Polarkreis, Sonnenwende]

Birken, Birken, Birken. Ich hatte gelesen, dass Umeå auch die Stadt der Birken genannt wird. Alle Alleen in Umeå sind von Birken gesäumt, überall stehen vereinzelte Birken herum. Später am Tag werde ich feststellen, dass Birken hier wirklich überall stehen, später auch in Luleå und auch, jetzt wo ich in der Unterkunft am Polarkreis sitze, schaue ich aus dem Fenster und sehe: Birken.

Es sind sehr schöne Bäume. Ich komme aus den Alpen und war immer im Glauben, dass Laubbäume ausschliesslich in wärmeren Gegenden wachsen, wo es hingegen kalt wird, wie bei uns auf den Bergen, wüchsen nur Nadelbäume. Jetzt weiss ich aber, dass Birken bis hinauf ans Ende Europas gedeihen.

Gegen zehn Uhr starteten wir in Umeå und fuhren drei Stunden durch bis nach Luleå. Auch Luleå ist eine dieser Städte, mit der ich viel Zeit auf Streetview verbrachte. Luleå ist die andere nordische Universitätsstadt. Wir befinden uns hier allerdings schon auf Breitengrad 65, das ist nur 100km südlich des Polarkreises. Es weht ein sehr feuchter Wind und der macht die 16 Grad zu einem kühlen Erlebnis.

Luleå wurde im 15. Jahrhundert eigentlich 7 Kilometer nordwestlich gegründet. Dort wurde eine steinerne Kirche hingestellt und drumherum errichtete man Häuser. Vierzig Jahre nach dieser Gründung entschied man jedoch, die Stadt an ihrer heutigen Stelle weiterzubauen. Die Kirche liess man allerdings dort, wo sie bereits stand. Das finde ich übrigens eine elegante Lösung, um eine Kirche loszuwerden. Der Grund war leider schlichtweg pragmatisch. In Skandinavien stehen Kirchen meist etwas abseits der Siedlungen, nicht direkt am Markt, wie in den sonstigen europäischen Städten und Dörfern.

Als Luleå wegzog, wurde das Dorf um die Kirche herum fortan als Kirchenstadt genutzt. Kirchenstädte gab es früher viele in diesen dünn besiedelten Gegenden Nordschwedens. Die meisten wurden aber abgerissen. Wenige sind so gut erhalten geblieben, wie die in Luleå.
Kirchenstädte standen Gläubigen zur Verfügung, die aufgrund der dünnen Besiedlung, weit anreisen mussten, um an einen Gottesdienst teilzunehmen. Diese kleinen, bescheidenen Häuschen entwickelten sich deswegen zu Ferienhäusern ganzer Familien, die oft für mehrere Tage anreisten, um dort zu beten und zu feiern. Es wurde allerdings untersagt, in den Häusern durchgehend zu wohnen. Wenn man will, kann man sagen, dass es sich um Schrebergärten handelt. Aber halt mit Beten und Kirche. Die Häuser werden auch heute noch genau dafür benutzt. Weniger beten, dafür mehr feiern. Gut, das war jetzt etwas albern, aber man weiss, was ich meine.

Der Besuch dieser Gammelstad von Luleå begeisterte mich ungemein. Die Häuser sind winzig, manche haben eine Grundfläche von vielleicht 10 Quadratmeter, einige sind etwas grösser. Die Gassen sehen aus wie schwedische Bauernslums. Vor den Häusern stehen aber oft Blumen und wenn man durch die Fenster hineinschaut, sieht man kleine Küchen und Wohnzimmer.

Im Visitors Center unterhielt ich mich länger mit der Angestellten. Sie kam aus Malmö und wohnt nun schon seit 8 Jahren in Luleå. Sie erklärte mir, dass es zu Midsommar immer regnerisch ist. In ihrem ganzen Leben hat sie noch nie ein sonniges Midsommar erlebt. Die Woche davor ist immer trocken und warm, die Woche danach auch. Aber nie zu Midsommar. Letzte Woche hatten sie in Luleå bereits 26 Grad. Im Juli misst es sonst über dreissig. Sie sagte, ich solle wiederkommen. Irgendwann stimme sicherlich auch die Temperatur.

Dann begann es zu regnen.

Am Abend wollten wir Jokkmokk erreichen. Das ist ein bekanntes kleines Dorf direkt am Polarkreis. Wir fuhren die Täler hoch in Richtung Nordwesten. Unterwegs machten wir einen überraschend schönen Halt bei den Wasserschnellen von Storfors. Ich hatte vorher darüber gelesen, dass da ein grosser Fluss aus dem nördlichen Lappland über ein weites und langes Felsplateau strömt. Wie beeindruckend diese schäumenden Wassermassen aber wirklich sind, erfasst man erst, wenn man direkt dort am Ufer steht. Ich schoss mehrere Fotos und einige Videos. Sie fingen die Eindrücke aber nicht wahrhaftig ein.

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Diese langen, leeren Strassen, die über diese leichten, hügeligen Hochflächen führen. Man darf zwar nur 80 fahren, aber sie sind dermassen gut gebaut, dass ich sie mit 110 befahre.
Manchmal sieht man aus der weiten Ferne ein Auto kommen. Das fühlt sich an wie Stau.

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Kurz vor Jokkmokk steht dann das Polarkreisdenkmal. Daneben befindet sich ein grosser Parkplatz und ein Restaurant, in dem man sich gegen Bezahlung auch ein Zertifikat abholen kann, das nachweisen soll, dass man hier gewesen ist. Das tun wir natürlich nicht, dafür schiessen wir die obligatorischen Selfies und sind gut gelaunt.

Für gutes Essen muss man wirklich nicht hier her kommen. Es gibt hier eigentlich nur schäbige Pizzerie und Burger. Das Dorf hat 3000 Einwohner und es fahren die immer gleichen vier oder fünf tiefergelegten Autos und einige Pickups durch die Hauptstrasse und hören Beats mit einem kräftigem Bass, den sogar meine Hündin zum Knurren bringen. Allerdings wohnen wir in einer niedlichen Unterkunft. Ein kleines Hostel, das sich „Wandererhaus“ nennt. Man muss darin sogar die Schuhe ausziehen.

Ein grosser Nachteil dieses Landes ist allerdings die Ablehnung von Hunden in Restaurants. Oder Restaurangs, wie man in Schweden sagt. Jedenfalls sind Hunde in Restaurangs grundsätzlich verboten. Das ist an einem normalen Juni nicht weiter problematisch, weil man immer auf der Terrasse vor dem Restaurant mit Hunden sitzen kann, aber bei 12 Grad Celsius und kurzen Hosen dachte ich gerne an die wohligen achtzehn Grad von Umeå zurück.

Und dann Sonnenwende. Dieses Jahr fällt die Sonnenwende auf den heutigen Tag, den 20.6. um 22:50 Uhr. Mein Vater und ich spazierten hinunter ins Dorf, stellten uns auf einen Parkplatz und schossen ein Selfie mit der Sonne, die sich hinter einer dunklen Wolke versteckte. Es ist ein seltsames Gefühl, zur Sonnenwende am Polarkreis zu stehen. Es gibt kaum esoterische Vibes in meiner Persönlichkeit. Aber an dem besagten Tag an jenem Ort zu stehen, wo die Sonne einmal für einen vollen Tag nicht untergeht, lediglich den Horizont streift, nur um danach wieder täglich abzutauchen, zuerst kurz nur, dann immer länger. Das ist magic.

Jetzt werden die Tage wieder kürzer. Und dann kommt Weihnachten.

[Mi, 19.6.2024 – Nordkapreise Tag 3, Gävle, Sundsvall, Höga Kust, Umea]

Mein Vater will sein Bargeld loswerden. Wegen seines Rentnerjobs besitzt er viel Cash, den er natürlich auch ausgeben möchte. Aber Schweden ist kein gutes Pflaster für Bargeld. Zuerst scheiterten wir schlichtweg daran, Euros in Kronen umzutauschen. Verschiedene grosse Banken wiesen uns freundlich ab. Bargeld tauschen, das würden sie nicht mehr tun. Man wusste auch nicht, wo man uns mit unserem Anliegen hinschicken könne. Erst heute Vormittag, konnte ich bei einem Western Union Schalter in Gävle 500 Euro in schwedische Kronen wechseln.
Als wir endlich schwedisches Bargeld besassen, standen wir vor dem nächsten Problem, dass kaum irgendwo Bargeld angenommen wird. In einem Restaurant, an dem wir unterwegs einen Kaffee trinken wollten, stellte sich die Kellnerin mit unserer Bargeldzahlung dermassen überfordert an, dass sie eine Kollegin herbeirufen musste, die sie bei der Bedienung der Kasse unterstützte. Oft bekommt man einen verwunderten, aber freundlichen Kommentar, dass man Bargeld erst vor ein paar Jahren abgeschafft habe. Ich fühlte mich, als würde ich mit Hühner bezahlen wollen.

Mein Vater versteht die Welt nicht mehr. In Italien wickelt man alles in Bargeld ab. Er schüttelt ständig den Kopf.

In Finnland und Norwegen werden wir sicherlich vor dem gleichen Problem stehen, daher beschlossen wir, keine norwegischen Kronen zu tauschen, sondern der Kartenzahlung zu vertrauen.

Heute fuhren wir die Strecke von Gävle nach Umeå, das ist eine fünfeinhalbstündige Autofahrt. Die heutige Fahrt hatte ich etwas kürzer geplant, weil sich unterwegs die Höga Kust befindet, von der ich gelesen hatte, dass das eine sehr schöne Landschaft ist, die es sich lohnt, sich etwas Zeit dafür zu nehmen. Der ganze etwa hundert Kilometer lange Abschnitt ist sehr bergig und ähnlich dramatisch wie die norwegische Küste. Nach dieser grossen, bekannten Spannbrücke bei Veda, verliessen wir die Schnellstrasse und folgten den braunen Schildern mit einer Blume, die einen touristischen Umweg über eine Halbinsel, Fischerdörfern und vielen kleinen Seeen markierte. Der Weg dauerte anderthalb Stunden länger. Es ist jetzt überflüssig zu beschreiben, wie schön diese Route war.

Zuvor waren wir übrigens in Sundsvall. Als ich vor zwanzig Jahren in Madrid lebte, hatte ich einen Kollegen, der hiess Pontus. Pontus war ein grosser haariger Mann, mit freundlichen, blauen Augen. Er trug damals schon einen Bart, als es noch nicht in Mode war. Er kam aus Sundsvall. Er sagte, Sundsvall sei ganz weit oben in Schweden, das sei ganz anders als Spanien. Sundsvall stellte ich mir wie das Ende der Welt vor. Damals hatte ich wenig Ahnung von dieser Gegend hier. Sundsvall befindet sich ziemlich genau in der geografischen Mitte Schwedens. In Wikipedia las ich, dass es die schönste Stadt des Landes sei. Zehn Kilometer vor Sundsvall fanden wir, dass man sich die schönste Stadt Schwedens unmöglich entgehen lassen könne, also beschlossen wir einzukehren. Wir schlenderten etwas planlos durch die Altstadt, tranken einen Kaffee und fanden, dass wir jetzt genug von der schönsten Stadt des Landes gesehen hatten und fuhren weiter.

Ich dachte bisher die Ostseeseite sei sehr flach und eine eher gerade Küstenlinie. Deswegen war ich einigermassen überrascht, wie hügelig und teils bergig es hier ist. Und die Küstenlinie ist eben nicht gerade, sondern fjordartig zerfranst. Mit niedrigen fjordartigen Buchten und riesigen Flüssen, die das Schmelzwasser aus Lappland in die Ostsee abführen.

Das Wetter ist heute sehr stürmisch. Zwar ist es meist sonnig, aber es weht ein starker, kühler Wind. Es ist für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl, tagsüber misst es 17 Grad.

Mein Vater kommentiert alles, was er sieht. Er liest jedes Ortsschild laut vor und auch jeden schwedischen Werbespruch, den er am Strassenrand erblickt. Natürlich spricht er es falsch aus, er gibt sich gar nicht die Mühe alle Buchstaben richtig zu erkennen. Er hat einfach irgendwas raus, das klingt wie der Name auf dem Schild. Anfangs half ich ihm und wiederholte die richtige Aussprache der Namen, aber ich hörte schnell damit auf, als ich merkte, dass das jetzt 11 Tage lang so gehen wird. Und er kommentiert ständig die Bäume. Er erwähnte sicherlich hundert Mal, dass die Bäume hier ungewöhnlich niedrig seien. Nein, er sagte das nicht hundert Mal, er sagte das tausend Mal. Anfangs hatte ich meine Zweifel an seiner Aussage, ich entgegnete, dass es vielleicht bloss junge Bäume seien, die vor wenigen Jahren gepflanzt seien. Nach dem siebenundfünfzigsten Mal gab ich ihm aber Recht. Und widerrief diese Meinung seitdem nicht mehr.

Gegen sieben Uhr erreichten wir Umeå. Ich wollte schon seit längerem nach Umeå. Zum einen, weil die Stadt eine sehr lebendige Kulturszene zu haben scheint. Von den etwa 90.000 Einwohnern sind ganze 37.000 Studenten. Ausserdem gibt es hier sehr viele kleine Internetstartups, die um Mitarbeiterinnen werben. Das wollte ich mir schlichtweg einmal ansehen.

Vor zwei Jahren führte ich einmal ein Gespräch mit einem Inder, der sich bei uns auf eine Stelle als Entwickler bewarb. Er hatte Indien bereits verlassen um für ein Unternehmen in Europa zu arbeiten. Das Unternehmen sass in Umeå und der junge Mann wusste natürlich nicht, wo sich diese Stadt genau befand. Europa ist ja nicht so gross. Er erzählte mir, dass er im November von Indien nach Umeå gezogen war. Es ist vermutlich überflüssig, zu sagen, dass er 5 Sonnenstunden pro Tag und die klimatischen Bedingungen nicht besonders lustig fand. Er wirkte sehr verzweifelt, er wollte nur weg.

Andererseits zeigt sich das Städtchen sehr international. Es gibt ungewöhnlich viele mexikanische und indische Restaurants und eine riesige Bar namens Orangeriet, die sich mit Regenbogenflaggen schmückt und von Englisch sprechenden Menschen bevölkert wird. Das ist vermutlich die Auswirkung der Universität.

Ausserdem fand ich heute heraus, dass die brasilianische Starfussballerin Marta hier vier Jahre lang beim Umeå IK Profifussball spielte.

Zum Schluss googelte ich Pontus. Ich kannte noch seinen Nachnamen. Es gibt zahlreiche Fotos von ihm. Er lebt wieder in Sundsvall, jetzt hat er aber keinen Bart mehr. Dafür eine Tochter.
Ich sollte ihm schreiben, dass ich in Sundsvall war.

Bein zeigen in Sundsvall

[Di, 18.6.2024 – Nordkapreise Tag2, nach Gävle]

Heute fuhren wir dann einmal von der schwedischen Westküste hinauf zur Ostküste bis nach Gävle, etwa 100km nördlich von Stockholm. Eine sechseinhalbstündige Autofahrt. Es ist wesentlich weniger ermüdend, wenn man sich beim Fahren abwechseln kann.

Nach zwei Tagen intensivem Kontakt merke ich vor allem, dass wir ganz unterschiedlich empfinden. Wir fühlen komplett anders und richten auch unser Handeln entsprechend aus. Ich kann es noch nicht ganz verschriftlichen, es war heute nur meine vorherrschende Empfindung. Es muss nicht schlecht sein, wir haben beide Tage im Auto fast durchgehend gequatscht, aber wir fühlen eben völlig anders.

Wenn man in Schweden unterwegs ist, sieht man regelmässig braune Schilder mit einem sogenannten Schleifenquadrat. Dieses Schild deutet auf eine Sehenswürdigkeit hin. Während ich das meinem Vater erklärte, sah ich eines dieser Schleifenquadrate am Horizont auftauchen und in dem Moment fiel mir auf, dass ich eine Pause nehmen könnte und so riss ich das Steuer um und folgte dem Strassenschild.

Es handelte sich in diesem Fall um das alte Silberbergwerk bei Sala. Ich hatte noch nie davon gehört. Es ist eine ziemlich grosse Siedlung mit Arbeits- und Verwaltungshäusern samt Stollentürmen. Die Mine war zwischen dem 15. Jahrhundert und 1908 in Betrieb. Eine ziemlich ästhetische Aneinanderreihung von Holzhäusern und Holztürmen. Die ganze Siedlung wurde in ein Freilichtmuseum umgewandelt, man kann auch Führungen durch die Stollen buchen. Es war ein unerwartet schöner Ort für eine Pause. Zuerst liefen wir etwas planlos über das Gelände und schossen Fotos. Danach setzten uns in den Garten des Museumscafés in die Sonne.

Über grossen Teilen des Binnenlands lag eine schwere dunkle Wolke. An den Enden sah man immer die Sonne, aber die Wolke begleitete uns lange. Der Regen stürzte manchmal herab und man musste die Geschwindigkeit drosseln. Manchmal schien dabei die Sonne.

Am späten Nachmittag kamen wir in Gävle an. Mein Hotelzimmer ist für Hundehalterinnen bestimmt. Es stinkt und der Teppichboden ist schmutzig. Das Zimmer ist sehr klein, es hat den Charme einer Abstellkammer. Mein Vater hat hingegen ein schönes, grosses und sauberes Zimmer bekommen. Die Rezeption ist nicht mehr besetzt, ich muss da einfach durch.

Dann gingen wir in die Stadt, wir besuchten die Altstadt, das sind ein dutzend mit kleinen, bunten Holzhäusern bebauten Gassen. Die Hündin freute sich über die vielen neuen Hundegerüche an den Strassenecken. Danach suchten wir uns etwas zu essen und fanden ein Restaurant, in dem wir varmrökt Lax bestellten. Das ist warmgeräucherter Lachs.

Zu Beginn der Reise hatten wir uns vorgenommen, keinen Alkohol zu trinken. Mein Vater nahm sich auch vor, kein Fleisch zu essen. Da ich selber wenig Fleisch esse, wollte ich mir die Fleischvorgabe eher nicht geben, sondern situativ entscheiden. Dass mein Vater allerdings keinen Alkohol mehr trinkt motivierte mich auf eine ungewohnte Weise, es ihm gleich zu tun. So sassen wir da am Tisch und ich wusste nicht so recht, was für ein Getränk ich bestellen sollte und entschliess mich schliesslich für, naja, Wasser.

Weil es erst sieben Uhr abends war, fuhren wir noch einmal die Stadt hinaus zu einem kleinen Strand an der Ostsee. Um die Ankunft an der Küste mit einem Finger im Wasser zu besiegeln. Mein Vater wusste nicht, dass die Ostsee kein Salzgewässer ist. So führten wir beide den Zungentest durch. Ich kann mich erinnern, dass die Ostsee bei Usedom ziemlich salzarm schmeckt, sich aber trotzdem noch wie Meerwasser anfühlte. Ich hatte gelesen, dass die Ostsee immer salzloser wird, je weiter sie sich von Dänemark und der Nordsee entfernt. Hier schmeckte sie wirklich nur noch wie ein leicht gesalzenes Süsswasser. Am Strand den wir besuchten wuchs teilweise auch das Schilf, als wäre es ein brandenburgischer See.

Es wird hier nicht mehr richtig dunkel. Kurz vor Mitternacht gehen zwar die Strassenlanternen an, aber es würde sie nicht brauchen. Leider kann ich kein Foto von den Lichtverhältnissen schiessen. Vor dem Fenster scheinen die Strassenlaternen und ich bin zu müde, um noch auf die Dachterrasse zu steigen. Ich möchte in den nächsten Tagen aber das Licht realitätsgetreu dokumentieren, sofern mir das gelingt.