[Mo, 2.10.2023 – Tag 3, Svalbardkyrka, Brauerei]

Gestern hatte wir aufgrund der ausgefallenen Bootstour den langen Tag in Longyearbyen. Dieser Tag war eigentlich für heute geplant. Jetzt habe ich ein bisschen Angst, dass uns der Ort langweilt. Longyearbyen ist nicht New York oder London, wo man eine ganze Woche lang von Aufregung zu Aufregung hoppst. Longyearbyen hat man in einem halben Tag gesehen.
Dennoch bin ich vor allem wegen diesem Ort hier. Natürlich interessiere ich mich auch für die Natur, für Wanderungen, Expeditionen und Bootsfahrten, aber zum Teil fallen Aktivitäten wie Wanderungen und Expeditionen aufgrund der Jahreszeit schlichtweg aus. Was mich an Longyearbyen anzieht ist diese Zivilisation am Ende der Welt. Natur, jaja, alles schön und so, aber diese Gesellschaft am nördlichsten Ende der Welt, aufzusaugen wie die Menschen in dieser Eiswüste leben und dabei gute Laune zu haben scheinen, das ist der Grund warum ich hier bin. Ich will wissen, wie sie sich versorgen, wie sie sich bei Laune halten, Wie sie den Fluss überqueren, welchen Jobs sie nachgehen, wie die Kinder hier leben. All das und noch viel mehr. Und ich will natürlich auch die eisbedeckten Landschaften sehen.

Wir wollten heute runter zum Wasser und danach durch ein Wohnviertel und dann rüber auf die andere Seite des Flusses zur Kirche. Das Dorf ist in fünf Teilen aufgeteilt.

1) Das Zentrum mit den Hotels und den Bars am rechten Flussufer
2) Die Wohnviertel am Hang des rechten Flussufers, das sich um die Ecke mit Aussicht über Fjord und Adventdal zieht
3) Das ältere Wohnviertel im finsteren Longyeartal
4) Das alte Longyearbyen auf dem linken Flussufer, mit der Kirche und wo sich heute eigentlich nur nich die Verwaltung befindet
5) Der Hafen und das Gewerbegebiet am Wasser

Wir wollten heute den Hafen und das alte Longyearbyen ansehen. Wir nehmen eine Akürzung über den Tundraboden, sonst hätten wir den langen Umweg auf Asphalt nehmen müssen. Wir sind gestern schon den ganzen Tag auf Asphalt gelaufen. Ich laufe alles mit meinen weissen Nike Air, dafür trage ich warme Socken, das reicht vollkommen.
Unten am Wasser laufen wir über etwas Geröll. Es ist graubraunes Gestein. Das Gelände ist aber nicht zu abwegig. Das ist die Gegend, in der der grosse Fluss aus dem Adevntdalen in den Fjord mündet, es ist ein seltsames Gelände aus Eis, Geröll, Felsen, Schnee und Wasser, unfassbar schön. Tausende Töne aus grau, braun, und blau. Durchsetzt mit weiss und schwarz. Es sind die ersten Fotos die einigermassen gelingen.

Danach steigen wir in das Wohnviertel unter dem Sukkertoppen hinauf. Sukkertoppen heisst Zuckerspitze, oder Zuckerhut, es ist dieser kleine, spitze Berg an dessen Fuss sich dieses neue, schönere Wohnviertel räkelt. Wir streifen das Viertel aber nur kurz, weil wir auf die andere Seite des Flusses zur Kirche wollen. Zuerst wärmen wir uns im Lompen Senteret in einem sehr netten Café namens Fruene. Wir essen eine Rentiersuppe mit Butterbrot. Wir besuchen diesmal auch die Shops, die wir aufgrund des gesrtigen Sonntags nicht besuchen konnten. Meine Frau findet einen superschönen, gelben Wollpulover, ich kaufe mir Handschuhe mit abnehmbarer Kappe, damit man in der Eile ein Telefon bedienen kann ohne die Handschuhe auszuziehen. Ich ziehe die Handschuhe natürlich trotzdem jedes Mal aus. Es ist ein Reflex, ich werde das noch lernen müssen.

Übrigens gibt es an den Eingängen zu sämtlichen Geschäften immer Schilder, die das Mitführen von Waffen untersagen. Sollte ich erwähnen. Weil Menschen hier regelmässig Schiessgewehre bei sich tragen, die sie zur Abwehr von Bären bei sich tragen. Es gilt hier die Pflicht, gegen Eisbären ausgerüstet zu sein. Es gibt ein Protokoll, wie man sich bei Begegnungen mit Eisbären zu verhalten hat. Der letzte Schritt, der nur in einem absoluten Notfall getätigt werden darf, ist der Schuss mit dem Gewehr. Andererseits darf man die sogenannte Safetyzone um Longyearbyen gar nicht ohne eine Waffe, oder jemandem, der eine Waffe bei sich trägt, verlassen. Ausser man befindet sich in einem Auto.

Um auf die andere Seite des Dorfes zu kommen, nehmen wir die kürzeste Route über eine Brücke, die uns auf Googlemaps angezeigt wird. Als wir uns der Brücke nähern, sehen wir riesige Felsen, die darauf abgelegt sind. Sie sollen wohl Autos davon abhalten, die Brücke zu überqueren. Als wir auf der Brücke stehen, wissen wir auch warum. Die Brücke gibt es nämlich nicht mehr. Es sieht aus, als wäre sie von einem starken Wasserschwall mitgerissen worden. Der Fluss ist gefroren, mit einigem Geschick, könnte man ihn vielleicht passieren. Wir beschliessen allerdings, die sichere Route zu nehmen und zwar die nächste Brücke, etwa einen Kilometer taleinwärts.

Wir laufen eine ganze Zeit auf diese Brücke zu und sehen den langen Weg durch den Schnee auf der anderen Seite des Tales. Wir haben viel Zeit um über diesen langen Weg nachzudenken.

Es ist nämlich so: in Longyearbyen sperren die Menschen ihres Autos und ihre Wohnungen nicht ab. Das tun sie zum einen, weil es kaum Kriminalität gibt, aber der wichtigste Grund sind Eisbären. Weil diese hungrigen Tiere immer und überall plötzlich auftauchen können. Auch wenn das selten passiert. Im Dorf gab es den letzten Eisbären vor fünf Jahren. Vor drei Jahren wurde allerdings ein junger Mann auf dem nahegelegenen Campingplatz gefressen. Das ist kein guter Tod. Eisbären töten nämlich nicht vorher, sondern sie fressen während man stirbt.
Ich merke, dass ich mich hier mit einer gewissen Nervosität durch die Gegend begebe. Ich scanne die Umgebung eigentlich laufend nach weissen Tieren ab. Dummerweise läuft hier im Dorf ein weisser Golden Retriever herum, der aus der Entfernung immer ein kurzes, nervöses Gefühl auslöst.

Mit diesem Gefühl des Scannens laufen wir also auf diese Brücke zu und sehen auf der anderen Seite des Flusses, auf die wir gleich laufen werden, eine lange, leere Strasse im Schnee, an der keinerlei Autos und keine Häuser stehen. Wir beginnen,über diese lange leere Strasse zu reden. Wir reden uns ein, dass die Statistik eher gegen eine Begegnung mit Eisbären spricht, wir haben aber auch beide eine blühende Phantasie. Von den vielen Horrorfilmen, die wir immer schauen, sollte ich gar nicht beginnen.

Auf der Brücke beschliessen wir umzukehren. Wir können auch hinunter ins Dorf, ganz unten bei der Uni gibt es schliesslich die grosse Brücke, wir könnten auch von dort aus über die Nordseite hinauf zur Kirche. So machen wir das dann. Wir laufen hinunter zur Uni.
Etwa auf halbem Wege dorthin passieren wir diese hohen Holzhäuser, es ist ein Studierendenwohnheim. Dort sehen wir Menschen über einen Weg durch den Schnee auf uns zukommen. Der Weg führt an Rohren entlang, die über den Fluss führen. Dabei muss man wissen, dass ganz Longyearbyen mit offenen Rohren durchzogen ist. Das hat mit der Beschaffenheit des Bodens zu tun. Es ist Permafrostboden, das Wasser in der Rohren würde frieren. Man müsste die Rohre also beheizen, was wiederum den Permafrostboden zum schmelzen bringen würde, was die Infraktuktur destabilisiert. Also laufen alle Rohre überirdisch. Warmwasser, Kaltwasser, Abwasser. Zwei solche dicke Rohre führen auch über diese Stelle des Flusses, von der die Menschen herkommen. Ich ahne, dass es dort einen Überweg für Personen gibt. Als die Leute bei uns ankommen, frage ich, ob an den Rohren entlang ein Fussgängerinnenüberweg führt. Ein Mann bejaht es und sagt: von da aus kommt man dann überallhin. Ich verstehe nicht ganz, was der Mann mit „überallhin“ meint, aber es überallhin klang gut.

Die Überführung ist ein schmales Holzgestell, das für Fussgänger an die Brücke für die Rohre angebaut wurde. Sie ist so schmal, dass man nur hintereinander drüberlaufen kann.
Am Ende der Brücke landet man auf einer Fläche mit Geröll. Es gibt dort keine Wege. Man könnte schlicht überall hingehen. Das meinte der Mann vielleicht damit: man kommt von da aus überallhin. Entweder rechts runter über eine Schotterfläche zum Gewerbegebiet, oder am steinigen Flussufer in das Tal hinauf. Oder auch über eine sehr steile, vereiste Böschung hinauf zur Kirche. Weil wir zur Kirche wollen, versuchen wir die Böschung, aber das Eis ist Teil der Böschung. Wir würden uns die Knochen brechen. Nach einer längeren Diskussion entscheiden wir uns für das Gewerbegebiet. Wir könnten diesen vielleicht zwanzigminütigen Umweg nehmen, aber es reicht uns und wir gehen zurück in das Hotel.

Dort entspannen wir uns. Es gäbe im Hotel einen Whirpool und eine Sauna. Für den Whirlpool bräuchte man aber Badesachen. Die haben wir natürlich nicht mitgenommen, für unseren arktischen Strandurlaub.

Die Haut wird hier sehr strapaziert. Unsere Fingerkuppen trocknen schnell aus. Warum auch immer gerade die Fingerkuppen. Es ist ratsam
sich mit Creme einzudecken.

Um halb sechs gehen wir los zur Svalbard Bryggeri. Ich habe uns eine Brauereiführung gebucht. Es ist die nördlichste Brauerei der Welt. Sie befindet sich etwas ausserhalb, an der Strasse zum Flughafen, zwar noch innerhalb der Safety Zone, aber man läuft etwa 20 Minuten lang an Container vorbei, eingepfercht zwischen Wasser und einem Bergrücken. Immerhin stehen dort mehrere Autos, in die man flüchten könnte. Ausserdem sehen wir mehrere kleine Menschengruppen, die sich möglicherweise auch auf dem Weg zur Brauerei befinden.

Ich mag diese Gewerbegebiete. Es ist ein bisschen schäbig. Es erinnert mich an diese schäbigen Orte in Krimis über Alaska.

Die Brauerei befindet sich in einem schlichten Gewerbebau in diesem Gebiet am Hafen. Sie stellen ein sehr gutes Pils und ein phantastisches Pale Ale her. Das Weissbier ist auch OK, aber Weissbier ist generell nicht so mein Fall. Die anderen Biere sind auch gut, ich bin aber nicht so der Fan von Rotbieren oder von Stouts. Guiness ist das einzige Stout, das ich mag, weil es sich so trocken anfühlt, normale Stouts sind mir immer zu schokoladig, das passt für mich nicht so.

Ich weiss natürlich alles schon über diese Brauerei. Wie es eigentlich verboten war, auf Spitzbergen Alkohol herzistellen, wie der Gründer, ein Mann, der 12 Jahre lang in einer Kohlemine im Adventdalen arbeitete, 5 Jahre lang die Behörden in Oslo nervte, damit sie das Gesetzt ändern würden. Und wie es dann in 2015 die Behörden und der Innenminister Norwegens zur Eröffnungsfeier in die Arktis kam.

Bei der Verkostung sitzen wir neben drei Menschen aus Freiburg. Es ist eine Familie, die 15 Jahre in der Nähe von Stockholm lebte. Der Vater ist ein älterer Mensch, der immer mit einer etwaa professorialen Haltung über die Dinge redet. Die Mutter und der Sohn sind aber eher sympathisch.
Die drei sind unglaublich aktiv, sie waren in zwei Tagen bereits auf zwei langen Bergwanderungen im Schnee. Wir beschliessen, kein Wort über unsere nicht getätigten Wanderungen zu verlieren. Morgen werden wir sie auf der Bootstour treffen, wenn sie denn stattfindet.

Auf dem Weg zurück ins Dorf haben wir einen im Tee und haben natürlich keine Angst vor Eisbären mehr. Wir spazieren hinauf bis ins Restaurant Kroa, dort esse ich ein Rentierfilet, auch diesmal wieder mit einem phantastischen Karottenpuree. Wahrscheinlich gibt es hier einen Karottenpureekoch, der Karottenpuree für das ganze Dorf herstellt.

[1.10.2023- Tag zwei: Longyearbyen, abgesagte Tour]

Morgens öffne ich die Gardinen und sehe zum ersten Mal das vereiste Adventdalen mit dem Adventfjord. Gestern Nacht konnte ich das nicht mehr gut erkennen. Ich schiesse Fotos und habe dasselbe Problem wie am gestrigen Tag, dass man auf den Fotos nichts von der Räumlichkeit, nichts von der Weite und Magie dieses vereisten Tales erfassen kann. Man sieht nur den Zaun vor dem Hotel und die Bergspitzen dahinter. Der Raum verflacht.
Ich stehe eine ganze Zeit lang am Fenster. Irgendwann wecke ich meine Frau und ich bereite uns einen Nespresso aus der bereitgestellten Kapselmaschine zu. Als sie sich ans Fenster stellt, ist ihre gleiche Reaktion, das vereiste Adventdalen zu fotografieren. Mit derselben Enttäuschung.

Heute wird es etwas kälter sein als gestern. Der Wetterbericht zeigt minus 5 Grad an.

Ich bin jetzt übrigens bei Bluesky. Offenbar eine offene Alternative zu Twitter. @mpfeifer.bsky.social. Ich weiss aber noch nicht, wie ich dort Menschen finde.

Wir gehen ins Hotelrestaurant zum Frühstück. Im Hotelrestaurant wird abends gehobene Küche aufgetischt. Überhaupt gibt es auf dieser Insel auffallend viele Restaurants, die sich als Fine Dining klassifizieren. Ich nehme an, dass es das Publikum dafür gibt. Eine Reise nach Spitzbergen ist vom Budget her schliesslich nicht vergleichbar mit einem Billigurlaub am Ballermann.
Der Raum des Restaurants gibt wirklich etwas her. Er hat eine riesige Fensterfront, die einen Panoramablick über das Adventdalen, den Adventfjord bis hinaus zum weiten Eisfjord gewährt. Als wir ankommen, sind alle Fensterplätze bereits besetzt, aber wir finden einen Tisch weiter hinten, von dem aus wir die gesamte Fensterfront vor uns haben. Das Frühstück schmeckt gleich doppelt so gut.

Für den Nachmittag hatten wir eine Bootstour durch den Eisfjord gebucht. Eine Fahrt mit einem grösstenteils elektrisch betriebenen Katamaran. Wir würden zu den Gletschern fahren und zu des Kapitäns Lieblingsstellen, die Tour heisst dann auch “Captains Favourites” und hat kein festes Ziel, sondern führt uns dahin, wo der Kapitän es am liebsten mag, sofern die Wetterbedingungen es zulassen. Dahin wo der Kapitän es am liebsten mag. Da klingt so, als würde man von da nicht mehr wegwollen.

In der Zwischenzeit spazieren wir einmal durch den Ortskern von Longyearbyen. Der Ortskern ist auf einer Seite ein Fussgängerweg, auf dessen Seite sich alle Läden, Bars und Restaurants hin öffnen und auf der anderen Seite die Hauptstrasse, auf der man durch das ganze Dorf fahren kann. Longyearbyen hat zwar nur etwa 3000 Einwohner, es ist aber sehr langgestreckt, es zieht sich am Bach entlang fast drei Kilometer hinauf bis zum Ortsteil Nybyen.

Es ist Sonntag, die Läden haben alle geschlossen. Nur der Supermarkt wird um drei Uhr öffnen, aber um drei Uhr werden wir auf dem Boot sein. Die kleine Mall namens Lompen Senteret hat geöffnet, man kann hindurchlaufen, aber alle Läden haben heruntergelassene Rollos, lediglich das kleine Café Fruene hat Betrieb, aber wir haben gerade gefrühstückt, uns ist noch nicht nach Kaffee.
Es ist heute sehr kalt. Das Thermometer zeigt zwar nur minus 5 an, aber durch den Windchill Effekt fühlt man minus 15 Grad. Wir haben eine dicke Jacke und eine gute Mütze auf, uns passiert nichts. Wir laufen einmal den ganzen Fussgängerweg hinauf, um uns ein Bild zu machen. Der Fussgängerweg ist lustigerweise genau einer jener wenigen Wege, die ich noch nicht kannte, weil er auf Streetview nicht erfasst ist. Aber ich kenne ihn bereits von verschiedenen Fotos und Videos auf Social Media.
Der Ortskern ist nichts Besonderes, es ist ein typisches Zentrum einer skandinavischen Kleinstadt, also ein paar lose bunte Holzbauten und etwas Sechzigerjahre Ästhetik. Nicht zu vergleichen mit den romantischen Städtchen in Südeuropa.

An einem Sonntag ist natürlich nichts los. Wir biegen oben beim Touristinfo also ab und spazieren die Autostrasse hinunter an der Uni entlang bis zum Museum der Nordpol Expeditionen. Meine Frau wollte sich das ansehen. In dem Museum muss man, wie an vielen Orten in Longyearbyen die Schuhe ausziehen. Das ist ein Brauch, der noch aus Zeiten des Kohleabbaus stammt. Der schwarze Kohleruss sollte nicht in die Gebäude eindringen. In einem Vorraum des Museums gibt es einen grossen Schuhschrank mit Pantoffeln. Auf einem Schild wird freundlich gebeten, die Schuhe auszuziehen. Es gibt allerdings keine Pantoffeln in Grösse 45. Die Ticketverkäuferin schlägt vor, dass ich auf meinen Socken laufe. Ja, warum nicht. Der Boden des Museums ist tatsächlich sehr sauber, weil er nicht mit Schuhen begangen wird.

Die Ausstellung thematisiert natürlich Fritjof Nansen und die Fram, sowie auch Roald Amundsen. Als Jugendlicher war mir Amundsen sehr zuwider, weil er in 1912 Robert Falcon Scott die Entdeckung des Südpoles wegnahm. Ich las als Elfjähriger die Tagebücher jener tragischen Antarktisexpedition und litt in jedem Schneesturm ausgesprochen mit, und als Scott und seine Mannschaft ausgehungert und müde am Südpol ankamen und die norwegische Flagge sahen, da hasste ich diesen Amundsen so sehr vie Scott das tat. Wobei Scott eher enttäuscht war, ich hingegen richtete meinen Ärger vollständig auf Amundsen.
Heute weiss ich hingegen, dass Amundsen eigentlich ziemlich cool war.

Meine Frau fasziniert sich für eine Rettungsaktion in der Arktis, in der 1928 ein italienisches Luftschiff verunglückte.

Danach gehen wir ins Huskies Cafe an der Hauptstrasse und trinken einen Kaffee. Im Huskies Cafe leben zwei weisse Huskies. Die hängen dort rum und lassen sich streicheln.
Dann wird es Zeit für die Bootsfahrt. Die Organisatorinnen holen uns Teilnehmer von ihren Hotels ab. Es gibt mehrere Menschen, die gemeinsam mit uns vor dem Hotel Radisson warten. Mit ziemlicher Verspätung kommt dann ein Mitarbeiter von Hurtigruten, der uns mitteilt, dass die heutige Tour aufgrund der ungünstigen Wetterbedingungen abgesagt ist. Das ist natürlich sehr schade. Das Ticket gilt jedoch drei Wochen, und wenn die Tour nicht zustande kommt oder wenn wir stornieren wollen, dann ist dies kostenlos möglich. Wir beschliessen erst mal keine Entscheidung zu treffen, wollen uns aber auch nicht die Laune vermiesen lassen, deswegen gehen wir zurück ins Dorf, in den Supermarkt. Das macht man eben so. Supermärkte in fremden Gegenden besichtigen. Das macht wirklich Spass. Wir besuchen immer Supermärkte.

Die Sonne steht Anfang Oktober nicht mehr so hoch am Himmel. Zwar ging sie heute um 7:31 auf und um 17:59 unter, aber sie hangelt sich den ganzen Tag nur an den Bergkuppen entlang. Der ganze Tag fühlt sich eher an wie ein permanenter, früher Abend, das Licht ist etwas bläulich, fast schüchtern, blass, als würden hier Vampire leben.

Es ist plötzlich 17 Uhr und wir beschliessen, einen frühen Abend zu machen, wir laufen hoch zu „Kroa“, einem beliebten Restaurant am oberen Ende der Fussgängerzone. Dort trinken wir ein Bier und schiessen Fotos von uns. Meine Frau hat keine Lust auf Pizza und Burger, also gehen wir ein Stück hinunter in das Restaurant namens „Stationen“, aber vor Ort erfasst uns beiden die Lust, zuerst noch in der Bar nebenan ein Bier zu trinken. In der Bar bestellen wir ein Bier von der Svalbard Bryggeri, also der Spitzbergen Brauerei, die wir morgen besichtigen werden. Es gibt hier überall Bier von der Svalbard Bryggeri. Die Leute scheinen stolz zu sein, die nördlichste Brauerei der Welt im Dorf zu haben, aber vermutlich ist es auch schlichtweg aus logistischen Gründen einfacher, das Bier aus dem Dorf zu beziehen.

Bei Stationen bestelle ich ein gebratenes Dorschfilet mit einem unfassbar guten Karottenpüree. Meine Frau ordert Fish and Chips.
Vorher hatten wir einen Wal-Carpaccio bestellt. Wir haben beide noch nie Wal gegessen und eigentlich hatten wir nie das Bedürfnis, Wal zu essen, aber plötzlich war es passiert: Wir hatten Wal bestellt.

Ich konnte es dann nicht essen. Weiss nicht. Es schmeckte okay, aber ich musste bei jedem Bissen an dieses Tier denken. Mit Kühen oder Schweinen fällt mir das nicht schwer, ich könnte sicherlich ein Schwein schlachten und es essen, aber beim Gedanken an diesen friedlichen Riesen aus dem Meer bekam ich keinen Bissen runter.

Ich war etwas überrascht über diese meine Reaktion. Seit ich die Hündin habe, bin ich Tieren gegenüber neuerdings wesentlich sensibler geworden. Seit ich so eng mit einem Tier zusammenlebe und ihre verschiedenen Wesenszüge kennengelernt habe, hat sich eine neue Empathie gegenüber Tieren in mir entwickelt. Ich habe schon vorher Tiere respektiert und geschätzt. Das war aber immer eher theoretischer Natur. Mittlerweile habe ich Gefühle. Das ist total doof. Total hinderlich.

[Sa, 30.9.2023 – Oslo, Ankunft Longyearbyen]

Wir fuhren also zum Frühstücken in die Stadt, nach Oslo. Oslo spricht man Uslu aus. Dies fürs Protokoll. Bis wir startbereit waren, verging aber viel Zeit. Zuerst hatten wir beide richtig gut und tief geschlafen. Das ist mir lange nicht mehr passiert. Vielleicht liegt es an der weichen Matratze, ich schlafe üblicherweise auf härteren Unterlagen, das war immer schon so, ich dachte, ich sei jemand, der gerne auf harten Matratzen schläft, aber ob das wirklich der Fall ist, weiss ich nicht, ich dachte, das gehört zu meinem Persönlichkeitsprofil, warum auch immer. Ich schlief neulich in Amsterdam auch so gut, und auch da war die Matratze weich. Es könnte aber einfach am Umstand liegen, dass ich in Hotelbetten gut schlafe. Ich ahne, dass sich das psychologisieren lässt.

Jedenfalls nahmen wir eine Bahn um 11 Uhr vom Hotel am Flughafen in die Stadt. Das dauert mit einem ausserordentlich schnellen Zug ganze 40 Minuten. Der Flughafen befindet sich besonders weit vom Stadtzentrum entfernt. In der Innenstadt irrten wir zuerst etwas planlos herum, fanden dann ein sehr nettes, tüdeliges Kaffee, in dem wir frühstückten. Danach gingen wir zur neuen Oper am Hafen. Wir hatten nicht viel Zeit, wir sollten um 14 Uhr wieder am Flughafen sein, deswegen verzichteten wir auf einen Stadtbummel und besuchten dafür dieses Operngelände.
Ein beeindruckender Stadtraum, der aus begehbaren, vielfachen und weitverzweigten Schrägen besteht. In dieser Landschaft von Schrägen ragt ein rechteckiger Betonkörper hervor, in dem sich der Opernsaal versenkt befindet.

Wir schiessen viele Fotos davon, aber die Wirkung des Raumes kommt daraus nicht hervor.

Es misst in Oslo 15 Grad. Leider habe ich meinen Pullover nicht im Handgepäck dabei und laufe daher mit dem T-Shirt und kurzen Hosen herum. Ich friere allerdings nicht. Etwas Angst habe ich nur vor der Ankunft auf Spitzbergen. Am Flughafen in Longyearbyen steigt man nämlich aus dem Flieger aus und läuft etwa 100 Meter durch offenes Gelände bis zum Flughafengebäude. Es soll minus vier Grad messen. Der arktische Windchill am Eisfjord senkt die Temperatur allerdings noch um einiges. Meine Frau und ich überlegen lange, ob es sich auszahlt, eine zusätzliche Jacke zu kaufen. Ich finde eine gesteppte Jacke, die ich üblicherweise bei Temperaturen zwischen 0 und 10 Grad verwenden würde. Für den täglichen Gebrauch in der Arktis ist sie wahrscheinlich zu dünn, in Berlin würde ich sie aber gut als Übergangsjacke einsetzen können. Sie ist preislich reduziert, ausserdem gibt es auf die Jacke einen Steuerrefund, also kaufe ich eine Jacke, die eigentlich 160€ kostete, für nur 85€. Das hat sich doch sicherlich ausgezahlt.

Dann boarden wir für Longyearbyen. Wir laufen bis ans Ende dieses langen Ganges. Die Menschen und Läden werden immer weniger. Da Spitzbergen eine Sonderzone ist, müssen wir nochmals durch eine spezielle Passkontrolle, danach sitzen wir in einem Gate mit einigen anderen Reisenden, zu denen ich mich auf eine seltsame Art in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden fühle.
Das interpretiere ich natürlich über, aber wir fliegen mit dieser Gruppe Menschen ans Ende der Welt. Alle fliegen dort freiwillig hin oder besser gesagt: Vermutlich machen es alle aus Überzeugung.
Ich glaube sofort die Bewohnerinnen zu erkennen. Einmal eine junge Frau in ledernen Minirock und eine andere Frau, Typ Outdoorpunk, sie ist riesig gross und blond, sie liest gelangweilt ein Buch. Irgendwo dazwischen sitze ich. Ganz offensichtlich bin ich kein Bewohner, weil ich so aufgeregt bin wie ein Käsebrötchen.

Mit etwas Verspätung fliegen wir los. Der Flug dauert drei Stunden.

Norwegen ist ewig lang. Manchmal fliegen wir sogar über Schweden. Ich nutze Osmand+, eine Karten-App mit offline Karten von Openstreetmaps.org, mit GPS kann man dann sogar im Flugzeug sehen, wo man sich gerade befindet.
Irgendwann verlassen wir das Festland und fliegen über das Wasser. Im Nordosten taucht der Mond aus dem arktischen Ozean auf. Es ist ein magischer Moment. Auch das kann man nicht gut auf den Fotos einfangen. Ich schiesse dutzende Bilder, um den Moment einzufangen, aber es bleibt einfach nur ein heller Himmelskörper am verschwimmenden Horizont.

Um zwanzig nach sieben landen wir in Longyearbyen. Ich habe diese Landung bereits tausend Mal auf Youtube gesehen. Wie man über den verschneiten Bergplateaus und den Eisadern hereinschwebt und sich im Fjord absenkt.

Die Sonne ist bereits vor anderthalb Stunden untergegangen, der Himmel leuchtet aber Aquamarinblau, hell genug, dass man noch lesen könnte. Die Menschen, die aussteigen, schiessen sofort Fotos von der Umgebung. Die vereisten Berge, das Blau, der weite Eisfjord, die entfernten Lichter von Longyearbyen mit dem markanten Schornstein des ehemaligen Kohlekraftwerks.

Es ist nicht kalt. Es hat -2 Grad. Ich trage die neue Jacke geöffnet, darunter nur das T-Shirt.

Der Flughafen hat die Ästhetik eines Vereinsheimes mit einem Gepäckband. Er muss nur zwei Flüge am Tag abwickeln. Einen Flieger, der gegen Mittag wegfliegt und einen Flieger, der am Abend kommt.
Wir nehmen gleich den Shuttlebus ins Dorf. Der Bus fährt alle Hotels ab. Wir haben uns im Radisson Blue Polar niedergelassen. Ich finde das gut. Ich muss nicht in Blockhütten mit Gemeinschaftsbädern wohnen.

Die Strasse vom Flughafen bis ins Dorf und durch das Dorf hinauf bin ich schon hunderte Male auf Streetview gefahren. Ich kenne das alles seit Jahren. Ich kenne diesen Ort so gut, es fühlt sich total unwirklich an, jetzt hier zu sein, ich kann das jetzt alles nur durch einige Abstraktionsfilter spüren, ich glaube, die Eindrücke sind so intensiv, dass ich sie nicht richtig filtern kann. Dieser Ort bestand vier Jahre lang als eine sehr intensive Fantasie.

Longyearbyen also. 78 Grad Nord. Die nördlichste Siedlung der Welt. Der Nordpol ist etwa 1100 km entfernt.

Dann checken wir ins Hotel ein, legen das Gepäck ab und gehen in den hauseigenen Pub, wo wir Spitsbergenbier und Pizza essen.

Eigentlich wollte ich mindestens noch eine kleine Runde ins Dorfzentrum drehen, aber meine Frau fühlt sich noch etwas von der Reise erschlagen, ausserdem weiss sie noch nicht genau, wie das mit den Entfernungen und den Eisbären einzuschätzen ist, wir beschliessen, den Tag zu Ende zu bringen. Nach dem Essen und dem Bier sind wir auch schlagartig müde und fallen ins Bett.
Ausser ich, der noch diese Zeilen aufschreibt.

[Fr, 29.9.2023 – Hündin abgeben, Oslo]

Am tag der Reise bricht auf Arbeit natürlich immer der stress aus. Alles muss in letzter Minute noch gelöst werden.
Zudem bin ich im Homeoffice, von da aus ist es anstrengender, die Dinge schnell zu lösen. Meine Frau und ich hatten beschlossen, um 16uhr die Arbeit niederzulegen und in den Reisemodus zu schalten. Reisemodus bedeutete: Wohnung putzen. Man will ja auch in einer saubere Wohnung zurückkommen.

Gegen 5 fuhren die Hündin und ich zu Frau Casino, wo sie für eine Woche wohnen wird. Sie benahm sich bereits den ganzen Tag misstrauisch, sie merkte, dass heute etwas passieren wird, sie mag das gar nicht, deswegen verfolgte sie uns auf schritt und tritt. Wir packten ihre grosse Hundetasche, diesmal kamen aber auch ihre Lieblingsdecke (die Schmutzdecke) und ihr Bettchen mit rein.

Als wir aus der Tram steigen, kennt sich die Hündin sofort aus und weiss, wo wir hingehen. Sie steht an den Strassenecken immer vor mir, zeigt mit fragendem Blick in die Richtung in die sie denkt, dass es geht. Sie liegt immer richtig und rennt dann weiter. Auch im Haus kennt sie sich aus nur versteht sie das Konzept von Etagen nicht. Sie rennt voraus, bleibt immer bei der richtigen Tür stehen, aber sie tut das eben in jeder Etage, bis es dann irgendwann auch die richtige Etage ist. Ich finde das immer sehr lustig. Das macht sie auch zuhause so. Obwohl sie ihre eigene Tür eigentlich riechen können müsste.

Der Abschied ist seltsam schwer. Meine Frau ist deswegen gleich zuhause geblieben. Aber wir wissen, dass die Hündin bei Frau Casino gut aufgehoben ist. In dem Moment stelle ich mir vor, wie ich sie in einer grossen Hundepension abgeben müsste. Das würde ich nur schwer ertragen. Ich bin vermutlich ein Helikopterhundepapa.

Danach Schönefeld. Unser Flug ist der drittletzte, der an dem Tag den Berliner Boden verlassen würde. Als ich mich in einem Bekleidungsgeschäft am Flughafen im Spiegel sehe, merke ich, dass ich überhaupt nicht aussehe, als würde ich ins ewige Winterland reisen. Ich bin mit kurzer Hose und Tshirt unterwegs, im Handgepäck habe ich einen Pullover. Die warme Kleidung bleibt im Koffer, ich würde mir im Flughafen in Longyearbyen die schwere Jacke auspacken und überwerfen. Aber wir haben einen 17 stündigen Aufenthalt in Oslo. Ich hoffe doch sehr, dass unser Koffer nicht unterwegs verlorengeht. Ich stünde in der Arktis ziemlich underdressed da.

Dann fliegen wir los.
Wir landen kurz vor Mitternacht in Oslo und gehen gleich ins Hotel. Wir haben uns ein Zimmer direkt am Flughafen ausgesucht. Morgenfrüh werden wir in die Stadt begeben, bisschen rumspazieren, frühstücken und am frühen Nachmittag wieder zurück zum Flughafen fahren, wo der nächste Flieger uns nach Spitsbergen bringt.

[Do, 28.9.2023 – Tag vor der Reise]

Gut. Noch einmal schlafen. Mehr habe ich eigentlich nicht zu sagen.

Ab morgen werde ich ausführlichst von der Reise in die Arktis berichten. Auf allen Kanälen, Insta, Facebook und auch ein bisschen auf Mastodon und vielleicht Twitter. Und natürlich vor allem hier im Blog. Wobei, vermutlich lasse ich Twitter weg, ich nutze die Platform dieses homophoben Rassisten nicht mehr wirklich.

Übrigens bekam ich heute überraschende Mail von Misterspex. Meine Brille läge abholbereit in der Filiale. Das freute mich sehr. Ich werde die Arktis richtig scharf sehen können. Diese nachlassende Sehkraft hatte meine Vorfreude auf diese Reise wirklich etwas getrübt.

Am Abend wollte ich früh zuhause sein, um fertigzupacken und den Freitagabend zu planen. Wir öffneten uns aber nur ein Bier und setzten uns auf den Balkon wo wir ein bisschen über die Reise redeten.
Am morgigen Freitag werden wir gegen sechs Uhr die Hündin zu Frau Casino bringen, danach müssen wir schon los in Richtung Flughafen, in Schönefeld muss man ja immer noch zwei Stunden vor dem Abflug da sein. Der Flug startet um 22Uhr, dann werden wir um 23:30 in Oslo landen und gleich ins Flughafenhotel einchecken. Am nächsten Tag fahren wir nach Oslo in die Stadt, schauen uns Dinge an und kehren zu 14Uhr zum Flughafen zurück. Um 16 Uhr geht es weiter zum Endziel nach Longyearbyen, wo wir um 19Uhr landen. Möglicherweise gibt es einen Zwischenstop in Tromsö. Das scheint üblich zu sein, ich weiss aber nicht, ob das immer so ist und es steht nichts davon im Flugplan.
Um 19Uhr wird in Longyearbyen schon die Sonne untergegangen sein. Ob es dann allerdings schon dunkel ist, weiss ich nicht, die Sonne taucht ja sehr flach hinter dem Horizont ab. Auf alle Fälle werden wir das von der Luft aus beobachten können. Ich habe einen Fensterplatz. Und ich hoffe, dass das Flugzeug leer ist, dann kann ich ständig von links nach rechts hin und her springen um das alles zu sehen.

[Mi, 27.9.2023 – Prepacking, Pasta e Ceci]

Heute packten wir für die Reise. Ein Prepacking. Es ist nicht ganz so einfach, die richtige Kleidung zu wählen. Wir starten am Freitag bei 20 Grad, verbringen einen Tag in Oslo bei 17 Grad und landen dann an dem Abend in Longyearbyen bei -5. In Oslo herrscht immer noch Kurzehosenwetter, aber am Abend landen wir in tiefem Winter. Meine Frau hat sich gestern mit mehreren Head-Tech Textilien von Uniqlo eingedeckt. Vor allem lange Unterhosen und Unterhemden, aber auch praktische Handschuhe für uns beide und je einen Snoodle für den Hals. Ich besitze mehrere Wärmestufen solcher Unterbekleidung, die ich mir hauptsächlich für die winterlichen Stadionbesuche zugelegt habe.
In Oslo brauche ich noch keine Jacke, aber für Longyearbyen nehme ich die winterfeste Winterjacke mit. Wir dürfen kostenlos einen Koffer mit 23kg beladen und je einen kleinen Rucksack mit in die Kabine nehmen. Wir versuchen damit auszukommen. Es müsste reichen. Wir werden schliesslich keine richtigen bzw langen Outdoor-Aktivitäten durchführen, daher müssten es locker reichen, wenn wir Thermounterwäsche tragen. Aber ich glaube, sogar das wird überflüssig sein, wir stehen ja nicht stundenlang bei minus zwanzig im Schneesturm. Wenn wir abends in die Bar gehen, müssen wir uns nur eine dicke Jacke überwerfen und einmal durchs Dorf laufen.

Es macht allerdings Spass, die Kleidung zu planen. Wir haben uns ein Bier geöffnet und nebenher läuft Musik. Nur die Hündin wird misstrauisch, sie merkt, dass wir etwas im Schilde führen. Sie merkt das immer.

Danach machten wir uns Pasta ai Ceci. Ceci sind Kichererbsen auf italienisch. Das macht meine Frau immer, wenn es schnell gehen muss. Und ich bin ein grosser Freund der italienischen Armenküche bzw der simplen italienischen Küche, also die Cucina Casalinga, der Hausfrauenkost. Zum einen weil ich damit aufgewachsen bin und zweitens, weil das die eigentliche, ursprüngliche italienische Küche ist, bevor man in den achtzigern/neunzigern angefangen hat, die französische Küche nachzuahmen und Raffinesse reinzudichten.

Für Pasta ai Ceci nimmt man eine Dose Kichererbsen, gibt sie in eine tiefe Pfanne und erhitzt sie in ihrem eigenen Saft oder ein paar Kochlöffeln stärkerhaltigem Wasser (zB Pastawasser). Dann gibt man gewürfelte Tomaten dazu und kocht diese mit auf. Wenn es schnell gehen muss, nehmen wir immer Tomatenkonzentrat. Pfeffern und salzen nicht vergessen. Und währenddessen Nudeln kochen. Wir nehmen meist Ditalini, weil sie eine ähnliche Grösse haben wie Kichererbsen. Das macht Spass zu essen, man könnte es sogar löffeln, wenn niemand zusieht.
Wenn die Nudeln fertig sind, Wasser abgiessen und zu den Kichererbsen in die Pfanne geben. Fertig.

Ich liebe das.

[Di, 26.9.2023 – Stuhl, Herthafrauen Podcast, Kaffeemaschine]

Fürs Protokoll: ich vergass zu erwähnen, dass gestern bereits mein neuer Bürostuhl geliefert wurde. Leider ist er nicht so bequem wie erwartet. Aber immerhin bequemer als der alte, harte Stuhl. Zumindest glaube ich das, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Mein Körper ist ja ein Ofen. Wenn ich abends in so einem gepolsterten Stuhl sitze, wird die ganze Sitzfläche warm. Der harte Holzstuhl konnte die Wärme irgendwie besser ableiten. Keine Ahnung wohin, aber er ist halt kühler. Diese warme Polsterfläche fällt mir jetzt schon unangenehm auf, dabei sind wir schon im Herbst, ich fürchte, ich ertrage den Stuhl im Sommer nicht. Jetzt weiss ich auch nicht weiter.

Erstmal aussitzen.

Am Abend fuhr ich zu Hertha auf die Geschäftststelle. Wir führten ein Interview mit zwei Spielerinnen der ersten Frauenmannschaft für den Westend-Girls Podcast. Es wurde eine ausserordentlich gute Folge. Diese jungen Frauen haben für ihre 20 Jahre schon ordentlich was in ihrem Kasten.
Wir bekamen heute den Medienraum zugewiesen. Die letzten beiden Male sassen wir in Meetingräumen, da hörte man auf der Aufnahme viel Lärm von draussen. Bei Hertha bemüht man sich sehr, das ist angenehm.

Gegen acht Uhr fuhr ich nach Hause. Leider dauert die Fahrt vom Olympiagelände bis nach Friedrichshain immer ewig. Zuhause war ich dann hungrig und machte mich über ziemlich alles her, was es im Kühlschrank gab. Leider gab es da nicht viel, aber es reichte für Erbsen mit Möhren aus der Dose, ein Stück Feta und ich brut mir ein paar Spiegeleier. Ich liebe mediterrane Küche.
Ausserdem wurde am Abend meine neue Kaffeemaschine geliefert. Noch während ich die Spiegeleier zubereitete, baute ich die Maschine auf. Morgen würde es also wieder ordentlichen Kaffee geben. Allerdings waren meine Spiegeleier danach etwas angebrannt.

Nachher schnitt ich noch die Podcastfolge zusammen und stellte sie online, dann legte ich mich ins Bett.

[Mo, 25.9.2023 – Weiter mit den Scamern]

Die letzten Tage vor dem Urlaub sind wieder anstrengend. Ich muss vieles vorher beenden, ausserdem fahre ich mitte Oktober wieder nach Amsterdam, bis dahin gibt es noch Unmengen vorzubereiten, eigentlich kommt die Reise in die Arktis denkbar schlecht. Aber Reisen kommen immer denkbar schlecht, das ist dann eh wurscht, Reisen sind immer wichtig.

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Nebenher habe ich immer noch Chats auf Telegram mit irgendwelchen Scamern offen. Die Anne Brennekam nervt mich mittlerweile. Ich schrieb, dass ich nicht in Cryptopwährung investieren will, ich möchte nur befreundet sein. Dann lässt sie sich darauf ein und fragt, wie es auf Arbeit geht. Dabei macht sie aber ihren Job nicht gut, sie vergisst ständig mein Alter und schickt mir wieder ein neues Foto ihres Autos, wieder mit Berliner Kennzeichen, obwohl sie laut eigener Aussage aus Boston kommt und nie in Europa war. Mit solchen unprofessionellen Scamern macht es keinen Spass.
Weil ich genervt bin, schreibe ich, dass sie mir Nacktbilder schicken soll, aber das will sie nicht, sie kann ja auch keine Nacktbilder haben, da sie die Fotos von einem fremden Instagram Account geklaut hat.

Ich schreibe immer „sie“. Ich habe aber immer einen Mann vor Augen, wenn ich mit den Leuten schreibe.

Gestern schrieb mich eine leicht bekleidete, junge Frau an, die mit mir Sex haben wollte. Gegen Taschengeld. Sie wohne in Berlin, in der Dunckerstrabe. Strabe, genau, mit b. Schlecht übersetzt. Ich antwortete begeistert und fragte, ob es noch heute möglich sei, sie sagte: ja. Sie wollte aber eine Vorauszahlung in Bitcoin. Mindestens die Hälfte ihres Honorars, also 100€.
Die hundert Euro würde ich natürlich nie wiedersehen, dieses Businessmodell verstehe ich immerhin. Und ich denke, es ist auch effizient.

Aber diejenigen, die ewig lange, über Wochen hinweg chatten und immer wieder in Nebensätzen von Crypto Investments reden, das kann doch nicht wirklich zielführend sein. Heute schrieb mich wieder eine gutaussehende Frau mitte dreissig an. Vom Beruf Fashiondesignerin. Sie ist vor einigen Jahren nach Berlin gezogen, sie sucht nach Freunden. Wir schreiben auf englisch, wir chatten ein wenig hier und her, der Tonfall ist leicht flirtig, es geht mit grösseren Pausen, über den ganzen Tag hinweg. Sie will wissen, ob ich verheiratet bin, irgendwann frage ich sie, wo sie geboren ist, dann sagt sie: in Berlin. Dann schlage ich vor, dass wir auf deutsch chatten, was sie bejaht, aber als wir auf deutsch chatten siezt sie mich plötzlich. Sie übersetzt natürlich mit einer Übersetzungsmaschine. Das ist unfassbar schlechtes Handwerk. Ich fühle mich so billig gescamt.

Am Nachmittag schreibt mich wieder eine junge Frau an. Hihowareyou. Ich frage sie gleich nach Nacktbildern.

Der Erkenntnisgewinn ist sehr gering, ich glaube, ich werde mein Profil wieder auf privat setzen.

[So, 24.9.2023 – Kaffeemaschine, alte Textilien]

Heute früh beendete meine Kaffeemaschine ihr Arbeitsleben. Sie produzierte noch etwa 20 ml Kaffee und geriet dann in eine endlose Schleife des Pumpens und des Abdampfens. Ein schneller Blick ins Netz verriet mir, dass dieses Verhalten nicht gut ist, und im Wesentlichen wohl das Ableben der Maschine bedeutet. Ich fühlte mich etwas hilflos. Zwar besitze ich noch irgendwo zwei Espressokocher, aber es gibt in meinem Haushalt eigentlich nur noch ganze Bohnen, die Mühle funktioniert nicht mehr und Espressokocher brauchen ja vorgemahlene Bohnen. Auf der Suche nach einer Lösung irrte ich durch die Wohnung und wusste nicht so recht, was ich jetzt machen sollte, ich würde das Problem ja nicht nur heute haben, sondern auch morgen und übermorgen undsoweiter. Dabei glaube ich nicht, dass ich süchtig bin, es ist eher so, dass meine Routine kaputt gegangen war und ich habe schon nicht viele Routinen, ich habe eigentlich nur eine einzige Routine und diese Routine ist es, morgens aufzustehen, die Hündin zu begrüssen, ihr den Bauch zu kraulen und zur Kaffeemaschine gehen. Danach setze ich mich an den Schreibtisch und öffne sämtliche Nachrichtenseiten, dann korrigiere ich den Tagebuchtext, spreche ihn ein, bringe ihn online, dann ist der Kaffee fertig und gehe mit der Hündin raus.
Das kann ich alles nur leisten, weil ich meinen Kaffee habe. Das ist die samtene Begleiterin, durch diese morgendliche, magische Zeit.

Ich wusste heute also nicht, was tun und ging etwas irrend mit meiner Hündin in den Park. Ich erzählte allen Menschen die ich traf, dass meine Kaffeemaschine kaputtgegangen sei. Dabei wurde viel Mitleid an mich herangetragen. Alle schienen meine Gefühle nachempfinden zu können.

Auf dem Rückweg ging ich in der Bäckerei vorbei und holte zwei Kaffees. Meine Frau würde schliesslich vor der gleichen kaputten Maschine stehen. Die Bäckerin fragte mich, ob ich Hafermilch wolle, ich sagte erfreut: ja gerne!
Zwei Sekunden später fand ich die Frage ziemlich amüsant. Ich fragte in die Runde: Sehe ich aus, als würde ich Hafermilch trinken? Die Chefbäckerin sagte nichts, die Gehilfin wagte nicht zu grinsen, sie bekam aber rote Wangen.

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Heute trafen wir die ersten Vorbereitungen für die Reise. In Longyearbyen ist schon Winter, ich musste also an die Wintersachen ran und plötzlich war im ganzen Zimmer ein Textilchaos herangewachsen. Das nahm ich als Anlass, alte Kleider zu entsorgen. Vor allem die alten Tshirts, die ich nicht mehr trage, aber auch einen Hoodie und Hosen.

Die Kleider brachte ich zum Forckenbeckplatz, dort gibt es an der südwestlichen Ecke des Platzes ja diesen Zaun an dem man alte Kleider spenden kann. Dort hing ich alle Sachen auf. Vor allem die Tshirts sind gut. Sie sind alle mit von mir ausgesuchten Motiven bedruckt, die ich dann bei Shirtinator produzieren liess. Eines mit Knoblauch, eines mit einem Teller scotish Breakfast, eines mit Regen, eines mit zwei Chilis, eines mit Suhsi usw. Sie sind kaum getragen, mir gefiel der Schnitt der Tshirts von Shirtinator einfach nicht, ich sah sehr unförmig darin aus.

Dabei hing ich auch zwei Tshirts mit dem Logo meiner Firma auf. Lustigerweise machte sich eine Romafamilie sofort über diese beiden Tshirts her. Es wird vielleicht lange dauern, bis sie verstehen werden, dass sie mit dem Logo einer sehr bekannten schwulen Datingapp herumlaufen.

[Sa, 23.9.2023 – Kajak auf dem Landwehrkanal, Rentierjagd]

Die Nachbarin und ich gingen heute spontan mit unserem Kajak aufs Wasser. Zuerst überlegten wir in der Rummelsburger Bucht zu paddeln, aber wir entschieden uns für den Landwehrkanal, da dort das Wasser etwas ruhiger ist. Also fuhren wir mit dem Auto zum Urbanhafen. Dort vor dem Krankenhaus kann man prima mit den Booten ins Wasser. Die Nachbarin hat ein aufblasbares Kajak, meines ist zum Falten. In zehn Minuten waren wir fertig und paddelten los.

Wir paddelten runter bis Neukölln, bis zur Kreuzung am Weichselplatz. Auf dem Hinweg beschäftigte ich mich noch viel mit der Steuerung, aber auf dem Rückweg waren wir im Flow, wir schwebten zenartig übers Wasser und unterhielten uns die ganze Tour lang, als würden wir spazieren.

Die Fahrt dauerte ewig. Als wir aber zurück am Urbanhafen waren, sahen wir, dass wir gerade Mal anderthalb Stunden gepaddelt hatten. Und in der Summe waren es gerade mal 5 Kilometer. Es fühlte sich wie 100 an.
Da das Boot der Nachbarin noch etwas trocknen musste, legten wir die Kajaks auf der Wiese vor dem Krankenhaus in die Sonne und ich holte uns zwei Kaffees, die wir dort im Gras tranken.

Es ist wirklich erstaunlich, dass in Berlin kaum jemand aufs Wasser geht. Dabei ist die ganze Stadt mit Wasserstrassen durchzogen. Wir begegneten auf dieser ganzen Strecke nur zwei weiteren Kajaks und einem kleinen Motorboot. Neben zwei Ausflugsdampfern. Mir fallen jetzt nur Amsterdam und Utrecht als Vergleich ein, aber dort sind die Menschen ständig auf dem Wasser, kommt mir vor.

Beachtlich sind auch die vielen Zelte und Obdachlosenbehausungen am Neuköllner Ufer des Kanals. Ich kenne die Gegend von der Strasse aus, da nimmt man diese aber nicht wahr. Vom Wasser aus sieht man die Zelte und die Bretterkontruktionen. Und man sieht auch die Ratten. Eine Konstruktion besteht aus verschraubten Paletten, die in einem Brückenkopf einer Versorgungsbrücke eingebaut ist.

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Am Abend kam meine Frau aus Helsinki zurück. Ich holte sie mit dem Auto am Ostkreuz ab. Sie hatte finnische Spezialitäten mitgebracht, unter anderem eine Rentierpastete. Auf Spitsbergen ist übrigens gerade Jagdsaison. Man darf Rentiere erlegen. Das finde ich seltsam. Rentiere verhalten sich dort wie Haustiere, bzw wie Kühe, sie spazieren durchs Dorf und grasen vom spärlichen arktischen Tundraboden. Alle fotografieren sie und alle lieben sie. In der Jagdsaison erschiesst man sie. Wie gesagt: finde ich komisch.