Gestern las ich in Vorbereitung zur Lesung einen Teil der Novelle meiner Mutter vor. Ich bat sie, sich mir als Publikum zur Verfügung zu stellen, und wies sie ein, dass sie mich unterbrechen möge, wenn ich zu schnell oder zu unverständlich lese. Sie hatte letzten Sommer versucht, das Buch zu lesen. Aufgrund ihrer frühen Demenz scheiterte sie aber daran, weil sie nach zwei Seiten immer vergaß, was auf den Seiten zuvor geschehen war. Zuhören gelang heute jedoch ausgezeichnet. Das ist eine lustige Erkenntnis. Nach zwanzig Minuten war sie verärgert, dass ich aufhörte. Sie wollte wissen, wie es weitergeht. Das war völlig ungewöhnlich, weil sie mittlerweile fast alles vergisst.
Am Nachmittag fand ich dann heraus, dass ich meine saubere Hose in Berlin vergessen hatte. Also ging ich in dieses Geschäft am oberen Ende der Lauben. Dort war ich bereits letzten Winter und ich traf wieder diese alte Frau im Laden. Es fällt mir schwer, ihr Alter zu schätzen. Sie könnte siebzig sein, aber auch achtzig. Sie hat ihre Gesichtshaut auffällig gestrafft und bei den Lippen mit Füllung nachgeholfen. Sie ist immer sehr gut gelaunt und ungemein hilfsbereit. Außerdem schäkert sie ständig, und schäkernde alte Frauen finde ich immer bezaubernd. Nachdem ich mehr als ein Dutzend Hosen anprobiert hatte, entschied ich mich gleich für zwei Paare und war damit für die Lesung am Abend eingekleidet.
Ich wurde von meinem Neffen begleitet, mit dem ich dann weiterzog, weil auch er neue Hosen brauchte. Wir besuchten ein paar Skaterläden mit Baggy-Pants. Auch er wurde fündig.
Die Lesung war dann super. Es waren viele alte Freunde da, sowie meine Familie. Sie fand im neuen Ost-West-Club statt, die jetzt in ein ehemaliges Schießstand-Gebäude aus der KuK-Zeit umgezogen sind. Das Gebäude diente einige Jahrzehnte lang als etwas schäbiges Restaurant, bis es vor zwei Jahren dem Kulturverein „Ost-West“ übergeben wurde, der es jetzt als Kulturzentrum betreibt. Es ist ein beeindruckendes neobarockes Militärgebäude mit einem großen Garten davor.
Nach der Lesung tranken wir Bier.
Ich stellte dann auch fest, dass alle meine Bücher verschwunden waren. Vermutlich hat sie mein Mitleser fälschlicherweise eingepackt, der war aber bereits nach Brixen abgereist. Ich schrieb ihm eine Mail.
Heute schlief ich dann lange. Danach traf ich meine kleine Schwester auf einen Kaffee. Wir hatten ein sehr nettes Gespräch. Unsere Beziehung litt neuerdings etwas. Aber es ist nichts Schlimmes. Danach trafen wir unsere andere Schwester mit ihrem Mann und der Tochter zum Mittagessen in einem Asialaden in der Carduccistraße. Es gab ein All-you-can-eat-Buffet. Früher hätte ich gesagt: I-can-eat-a-lot-Buffet, aber mittlerweile kann ich wirklich nicht mehr so viel essen. Seit ich so viel abgenommen habe, passt schlichtweg nicht mehr so viel hinein. Das finde ich nicht unbedingt schlecht, so ein Buffet fühlt sich allerdings etwas verschwendet für mich an. Aber darum geht es ja nicht.
Später kam noch mein Vater dazu und dann wurde ich müde, also ging ich zu meiner Schwester nach Hause und legte mich auf das Sofa und schlief etwa eine Stunde. Mittlerweile war es schon 5 Uhr geworden und ich traf meinen Freund Haimo auf einen Drink in einer schäbigen, aber charmanten Bar hinterm Bahnhof. Wir hatten viel zu besprechen. Um acht Uhr waren wir mit den anderen beim Slowaken unweit der Passermündung verabredet. Pino, Battl und Peter. Wir tranken noch mehr Bier und aßen Gulasch. Der Slowake ist wirklich nett. Er hat drei Kinder. Eines ist 37 Jahre alt, eines 20 und eines 6. Da kommt man aus der Elternrolle wirklich nie raus.
Ein Laptop hält sich nicht so lange ohne Strom wie ein Telefon oder ein Tablet. Vor allem nicht, wenn der Laptop alt ist wie meiner und sonst eigentlich immer wie ein Desktop am Strom hängt. Der Akku ist wahrscheinlich stracotto, wie man sagt, wenn Nudeln längst nicht mehr al dente sind. Ich hatte vergessen, wie angenehm es sein kann, lange Bahnstrecken zu fahren, vor allem, wenn die Waggons nicht überfüllt sind. Anfangs saß ich neben einer älteren Frau, deren Mann sie bis ins Abteil hinein begleitet hatte und sich am Platz verabschiedete. Als der Mann ausstieg, gerieten wir ins Plaudern. Sie wird sich auf eine vierwöchige Kreuzfahrt begeben. Eigentlich sei das ja nichts für sie, aber ihrer Freundin aus München war die Reisebegleitung abgesprungen und nun hatte sie sich dazu überreden lassen, an deren Stelle die Reise anzutreten. Sie führe zuerst nach München zu der Freundin, dort bliebe sie bis Samstag, dann flögen sie zusammen nach Bremen, wo sie in das Kreuzfahrtschiff steigen und damit nach Portugal, Azoren und runter bis nach Marokko reisen. Es ist nur ein kleines Schiff, kein so großes. Sie sei aber trotzdem skeptisch, das sei ja gar nicht ihr Ding. Ich sagte, dass ich mir eine Kreuzfahrt als Erfahrung durchaus interessant vorstelle, man muss das ja nicht immer machen, aber einmal auf eine Kreuzfahrt zu gehen, kann ja nicht schaden. Meine Mutter hätte das ein paar Mal gemacht, und die fand das ganz wunderbar. Man werde rundum versorgt und unterhalten. Die Frau sagte: Aber wenn man an Land geht, dann wird man in Bussen schnell-schnell durch die Landschaften gekarrt, das sei ja nichts für sie. Ich gab mich verständnisvoll, sagte aber auch, dass der Mann jetzt sicherlich alle seine Kumpels zum Biertrinken einlädt. Den Gedanken daran fand sie lustig. Sie hoffte aber auch, dass sie danach die Wohnung wiedererkennen würde. Ihr Mann sei das Alleinesein ja nicht so gewohnt, zudem sei er auch ein bisschen hilflos.
Den Großteil der Reise schrieb ich. Zuerst neben der Frau, später, als sich ab Erfurt der Waggon etwas leerte, hatte ich einen Vierertisch für mich alleine und konnte mich strecken. Die Bahn ist ein richtig guter Ort für Output. Das hatte ich ganz vergessen. Dieser Vibe in einem halbleeren Zug. Links und rechts zog Deutschland an mir vorbei. Ich schrieb etwa 5 Stunden am Stück. Später noch einmal 3 Stunden zwischen München und Bozen. Irgendwann wurden allerdings meine Handballen wegen der warm gewordenen Handauflage des Laptops etwas taub.
Nach elfeinhalb Stunden kam ich in Bozen an, wo meine Schwester und ihre Tochter auf mich warteten. <3
Wir suchten in Grönland natürlich zuerst nach den typischen grönländischen Sachen. Essen, Trinken, Kleidung, Kneipen, Läden, Buchläden, Cafés usw. Zeitungen konnten wir leider nicht lesen, aber immerhin standen uns alle haptischen und optischen Dinge offen. Natürlich wollten wir auch wandern und die Landschaften erkunden, aber die Menschen vor Ort, die Zivilisation, der Lebensalltag, das sind für mich wesentliche, vielleicht sogar die wichtigsten Dinge, die mich auf einer Reise beschäftigen bzw. mich interessieren. Es stellte sich aber bald eine ziemliche Ernüchterung ein. Sicherlich waren unsere Erwartungen etwas überzogen. Wir kamen gerade aus Island, wo die Isländerinnen vor lauter Islandliebe regelrecht platzen (eruptieren), die haben etwa 50 Brauereien, tausende Islandbücher über Feen, Gletscher, Vulkane und Vikinger, alles, was man isst, konsumiert oder anschaut, hat irgendwie den Zusatz, echt isländisch zu sein. So ist es ja mittlerweile in vielen Ländern, ob Portugal oder Polen, mit einer solchen Erwartungshaltung reisten wir insgeheim sicherlich auch nach Grönland.
Es gibt im Supermarkt Walfleisch, Robbenfleisch, natürlich Rentierprodukte und auch Moschusochsenfleisch. Aber das wurde alles nicht touristenfreundlich in Probier- oder Geschenksets angeboten, sondern abgepackt wie Gehacktes im Kühlregal. Das ist einerseits natürlich sympathisch und total richtig, weil ein kleines Robbensteak halt echte Nahrung ist und nicht nur ein Gimmick für Besucherinnen, andererseits steht das auch sinnbildlich für ein gewisses – wie soll ich es nennen – fehlendes Bewusstsein für die eigene Identität, für die eigene Kultur oder besser gesagt, die daraus folgende Darstellung dessen, also: stolz.
Im Nationalmuseum Nuuk erfuhr ich, dass Grönland bis 1953 nicht ohne Genehmigung betreten werden durfte. Es war eine Kolonie, die dazu diente, Dänemark und Europa mit Tierfett zu versorgen. Die Inuit waren einerseits gute, billige Arbeitskräfte, darüber hinaus aber eher störend. Dass man ab 1700 diese als unterentwickelt wahrgenommenen Wilden erstmal christianisierte, galt als selbstverständlich, und auch, dass man sich da einfach Land nehmen und es besiedeln konnte. Es ist für Inuit sehr löblich, dass sie das alles zuließen, andererseits ist das längst nicht alles freiwillig geschehen, außerdem wussten sie damals wohl auch nicht, wie invasiv die neuen europäischen Besucher sein werden, das Konzept, Land zu besitzen oder einen Staat zu verteidigen, war ihnen auch eher fremd. Irgendwann ist es halt zu spät. Nach 300 Jahren sind sie in deren eigenem Selbstverständnis ein christliches Volk. Irgendwie auch dänisch, aber eben nicht ganz. Weil die Dänen die wohlhabenden Sugardaddys sind, die letztendlich die Wirtschaft steuern. Die Inuit sind gefühlt immer noch die Minderheit, obwohl sie 90 % der Bewohnerinnen stellen.
Es gibt schon seit längerer Zeit Unabhängigkeitsbestrebungen. Dänemark ist auch durchaus bereit, die Unabhängigkeit zu gewähren, allerdings kann sich das Land derzeit nicht selbstständig tragen. Dann kam der Skandal hinzu, dass Dänen noch vor einigen Jahrzehnten Inuit-Frauen gezielt sterilisierten. Der Dialog kommt nur schleppend voran. Dass Trump nun versucht, die Insel zu annektieren, sorgt dem entsprechend nicht unbedingt für Freude. Die beiden jungen Leute von der Bootsfahrt lächelten über Trump hinweg. Das sei ein lächerlicher Clown. Andererseits sprach ich am nächsten Tag mit dem jungen Bergführer, der meinte, dass sich seit den Reden von Trump der Tourismus aus den USA verstärkt hätte. Das sei für seinen Beruf und das Einkommen seiner Familie ja sehr zuträglich. Er hatte ein wesentlich positiveres Bild von Trump, wollte sich jedoch nicht näher äußern. Er sagte, er rede nicht gerne über Politik.
Meine Frau sagte ständig, dass ich auf meine Wortwahl achten soll. Ich verwendete nämlich oft den Begriff „unterentwickelt“. Sie sagte, das sei rassistisch und vielleicht entspräche es auch nicht den Wertevorstellungen der einheimischen Bevölkerung, im europäischen Sinne entwickelt zu sein. Das lasse ich teils schon gelten, ich habe wenig Ahnung von den Wertevorstellungen nomadischer Kulturen oder Völker, die kulturell von der Jagd lebten. Ich beobachte aber Parallelen zur Außenwahrnehmung der Inuit in Alaska und Kanada sowie der Samen in Lapland oder der Pomoren und uralischen Völker im russischen Polarmeer. Alle diese arktischen Völker sind Minderheiten in von Europäerinnen beherrschten Staaten. Diese Völker haben halt aufgehört, ihre eigene Erfolgsgeschichte zu schreiben, es geht ihnen (zum Großteil) gut, man hat ihnen Industrie gebracht und so passt man sich ein und ihre Kulturen lösen sich langsam in der dominanteren cultura franca auf. Wahrscheinlich verkommen sie irgendwann in der Märchenwelt.
Woran ich das vor allem festmache – und das klingt jetzt wie ein Witz, aber: Es gibt in Grönland keine gescheiten Postkarten. Dieses riesige Land ist dermaßen voll von spektakulären Motiven, jedes dritte Foto in der Galerie meines Telefons taugt als Postkartenmotiv, aber in den verschiedenen Läden, sogar in der Tourist-Info von Nuuk, gibt es nur ein paar in naivem Stil gezeichnete (!) Ansichten von Ilulissat, und Nuuk. Sonst Geburtstags- und Glückwunschkarten mit zwei oder drei lieblos fotografierten Trachten. Okay, ein bisschen witzig meinte ich das schon, aber dieser Umstand machte mich fertig. Als echter Europäer dachte ich gleich daran, 5 Fotos aus meiner Galerie bei Rossmann in mittelgroßer Auflage zu drucken und sie in Nuuk an Restaurants, Cafés und Einkaufszentren anzubieten. Aber das ist ja auch wieder Kolonistenverhalten, wenn man es kritisch betrachtet.
Immerhin gibt es Mode. Drei Geschäfte, die modische Kleidung aus Robbenfell und Wolle von Moschusochsen verkaufen und teilweise auch herstellen. Taschen, Jacken, Mützen, Handschuhe. Und eine Handvoll Restaurants, die mit arktischen Zutaten experimentieren. Und es gibt eine Brauerei, die einige wenige Lokale beliefert. Dominant ist allerdings das dänische Carlsberg. Natürlich.
Ich weiß, ich sehe das alles durch meine europäische Brille, aber ich bin mir sicher, dass Grönland ein ganz anderes Land wäre, hätte es die Kolonisation nicht gegeben. Ja, keine neue Erkenntnis. Es beschäftigte mich nur. Direkt aus Island kommend, die sich selbst und ihre Inseln so feiern und dann in Nuuk diese eigenartig schöne Landschaft mit einer Zivilisation, umgeben von dänischen Supermarktketten, die noch nicht genau weiß, wohin ihre Reise geht.
Seit ich zurück bin, kriege ich auf Facebook haufenweise Island-Content empfohlen. Immer noch. Von Grönland: null.
Mein neuer Chor probt bereits seit Mitte September. Aus logistischen Gründen bat mich die Chorleiterin, erst Ende September einzusteigen. Sie würde mir noch das genaue Datum mitteilen, sie müsse das gesondert planen. Die Mitteilung kam erstmal nicht, es gingen zwei Proben vorüber, ich machte mir schon Gedanken, dann stand die Grönlandreise an, also fuhr ich für 8 Tage weg und es vergingen zwei weitere Mittwoche, an denen ich hätte proben können. Vor zwei Tagen erreichte mich dann aber die Nachricht, es hatte wohl ein Missverstädnis gegeben, also sollte ich heute beim langen Probesamstag einsteigen. Die anderen waren mit dem Programm schon etwas fortgeschritten. Wir singen ein anspruchsvolles Requiem von Maurice Duruflé. Ich wurde dabei ein bisschen ins kalte Wasser geworfen, aber das finde ich nicht schlimm, ich kann schon irgendwie schwimmen, solange man weiß, dass ich noch etwas Zeit brauche. In der Pause holte mich die Chorleiterin allerdings zur Seite und hielt einen langen, ausschweifenden Monolog, aus dem ich nach einiger Zeit substrahierte, dass es besser sei, wenn ich in an diesem Projekt nicht teilnähme. Sie meinte es wirklich nett und betonte, dass es keine Kritik an meinem Gesang sei, aber das Stück sei zu komplex, um es in so kurzer Zeit aufzuholen, vor allem für jemanden wie mich, der nun schon seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesungen hat. Ich sei ja der einzige Tenor, sie würde dieses Stück daher lieber ganz ohne Tenor einstudieren anstatt mich jetzt da durchquälen zu lassen und beim Konzert dafür Profis dazuholen, die das in ihrem Repertoire führen. Ich könnte im Dezember anfangen, wenn wir an Bach oder Mendelssohn arbeiten würden, das sei für mich der bessere Einstieg.
Aus rationaler Sicht kann ich damit wirklich gut leben. Zumal ich mir einbilde, dass es lediglich an meinem späten Einstieg lag und ich sonst gut mit den anderen hätte mithalten können. Der Moment aber, in dem es mir dämmerte, dass diese Frau vor mir mich gerade abweist und versucht, mir das in schonenden Worten mitzuteilen. Das traf mich total. Möglicherweise, weil ich im Anschluss angestrengt eine nicht-enttäuschte Miene aufsetzen musste. Offenbar kann ich bei einer persönlichen Absage die Schutzmechanismen nicht richtig hochfahren. Das fiel mir schon einmal vor etwa 10 Jahren auf, als ich mich in einem Bewerbungsprozess befand. In der zweiten oder dritten Runde vereinbarte der Personaler, der meine Bewerbung begleitete, einen Termin mit mir, zu dem ich ins Büro fuhr, um mir dann eine sehr freundliche Absage einzuhandeln. Die Absage war sehr freundlich, sehr wertschätzend, aber eben eine Absage. Damals war ich danach auch sehr down.
Wenn ich Absagen per E-Mail erhalte, treffen sie mich wiederum nie. Das wird bei mir an den Emotionsportalen vorbeigelotst und wandert sofort in den Systemschrank.
Heute traf mich das sehr. Ich kann es mir dann schon runterrationalisieren, es dauert nur ein bisschen, aber nach einer Weile habe ich alles rational eingeordnet und es geht mir wieder gut.
Folgerichtig bat ich meine Frau, mir eine SMS zu schreiben, wenn sie sich von mir trennen will. Das muss sie mir wirklich nicht ins Gesicht sagen. Kann ich ohnehin nichts machen.
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Heute kam auch meine neue Lesebrille. Ich hatte sie in Reykjavík in einem Buchladen gesehen. Sie ist ein bisschen exzentrisch und ich befinde mich jetzt im Alter der exzentrischen alten Damen. Ich finde, ich sollte jetzt auch eine exzentrische Brille tragen. Bevor ich sie kaufte, achtete ich auf das Preisschild und entschied mich sofort dagegen, 70€ für eine Lesebrille auszugeben. Weil ich sah, dass es sich bei der Brillenmarke um eine niederländische Firma handelte, konsultierte ich deren Webseite und fand schließlich heraus, dass diese Brille in Kontinentaleuropa lediglich 29€ kostet. Das sind die isländischen Preise. Deswegen entschied ich mich für die kontinentaleuropäische Variante. Das Brillenglas ist allerdings unfassbar sauber. Deswegen trage ich sie nun nicht gerne. Aus Angst, dass sie so schmutzig wird wie alle meine anderen Lesebrillen. Dabei wurde mir schon oft gesagt, ich solle meine Brillen mal mit richtigem Brillenputzmittel reinigen. Wenn ich nur mein T-Shirt zum Reinigen verwende, verreibe ich eigentlich nur den Schmutz auf den Gläsern. Aber ich weiß nicht. Also, ich kann mit den milchigen Gläsern ja auch gut sehen. Nur im direkten Vergleich mit der neuen Brille weiß ich, was für ein Seh-Erlebnis mir wirklich entgeht.
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Was ist sonst noch passiert? Diane Keaton ist gestorben und der Nobelpreis für Frieden wurde an eine venezolanische Frau vergeben, die den Preis umgehend Trump widmete. Ich habe versucht, Maria Corina Machado einzuordnen, aber es will mir noch nicht recht gelingen. Fürsprecherinnen beschäftigen sich nicht mit ihrer politischen Gesinnung, Kritikerinnen dämonisieren sie jedoch gerade deswegen. Zugegebenermaßen hab ich mich aber auch nicht allzu lange darin vertieft, aber das Phänomen ist interessant.
Beim Buchen der Reise nach Bozen wich ich nun auf die Bahn aus. Seit es die schnelle Strecke zwischen Berlin und München gibt, dauert die Fahrt theoretisch 3 Stunden und 45 Minuten. Damit hat sich die Fahrtzeit um 2 Stunden verkürzt und sie dauert nun weniger lange als der Abschnitt zwischen München und Bozen, den ich früher immer als die letzte Meile empfand. In den mittlerweile dreißig Jahren, in denen ich nicht mehr in Südtirol wohne, nahm ich nämlich meist die Bahn, von den Niederlanden aus oder auch aus Hamburg und die ersten zehn Jahre in Berlin. Üblicherweise nahm ich Nachtzüge. Mit der neuen, schnellen Verbindung kann ich aber auch tagsüber fahren und wenn dann der Brennerbasistunnel in ein paar Jahren fertig ist, dauert auch die letzte Meile nach Bozen nur noch 2,5 Stunden. Dann wird es wirklich eine schnelle Fahrt, die nur noch sieben bis acht Stunden dauert. Dauern könnte. Dass man diese Strecke in Frankreich in vier bis fünf Stunden überwinden würde, ist ein schöner Gedanke, aber ich will mich nicht den Träumereien hingeben.
Triggerwarnung. Wieder ein Schlechtelaunepost.
Denn erstens stellt sich heraus, dass die Fahrt nach München zurzeit 6 Stunden dauert und nicht wie versprochen „weniger als 4“. Es wird gerade gebaut. Seit Monaten. Weil die Fahrt dann mit Umstieg in München mehr als 11 Stunden dauern wird, beschließe ich, einen Nachtzug nach München zu nehmen, nur um dann festzustellen, dass es auf dieser Strecke keine Nachtzüge mehr gibt. Ich müsste entweder drei Stunden nach Hannover fahren, um dort in den Nachtzug zu steigen (schlägt mir die Bahn freundlicherweise auch so vor), oder mit dem Nachtzug nach Mannheim und dort den Zug nach München nehmen, dort wieder umsteigen etc.
Echt jetzt.
Dann halt eben keine Schiene. Die komfortablen Flugverbindungen von Berlin nach Bozen gibt es aber nur mittwochs und sonntags. Wenn ich andere Tage wähle, muss ich mit den Lufthansatöchtern oder Austrian in Frankfurt oder Wien umsteigen und dann in Innsbruck oder Verona landen. Die Kosten sind auch noch entsprechend.
Echt jetzt?
So kriegt man die Leute über Umwege auch wieder zurück auf die Schiene. Andererseits komme ich mir vor, als würde ich auf dem Land leben und nicht in der Hauptstadt der drittgrößten Volkswirtschaft. Währenddessen googelte ich über die Gründe der langsamen Bahn. Was hängen bleibt: Visionlosigkeit und viele Lokalpolitiker, die mitquatschen wollen. Es verschlechtert meine Laune.
So sehen die Fahrtzeiten auf der Strecke Berlin -> Bozen (mit einer Stunde Umstiegs-Pause) aus:
08:30 – wäre jetzt schon theoretisch möglich.
07:00 – nach dem Bau des Brennertunnels in 2030
05:00 – würde die Strecke in Frankreich dauern
11:30 – die Realität nächste Woche mit der Bahn
Und: 10:00 – mit dem Auto
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Ich habe nie etwas von László Krasznahorkai gelesen. Wahrscheinlich, weil ich mich nie besonders für ungarische Männer interessierte. Imre Kertész las ich auch nur, weil meine Frau mir den wärmstens empfahl. Achso, Ödön von Horváth habe ich auch gelesen. Aber das ist sehr lange her. Wirklich sehr lange. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Es hinterließ wahrscheinlich wenig Eindruck. Ágota Kristóf hingegen hat mich völlig umgehauen. Aber sie ist auch eine Frau. Als ich meine Frau kennenlernte, lasen wir uns alle vier Bände über die beiden Kinder vor. Das waren sehr eindringliche Texte, die ich heute noch spüren kann.
Und sonst heißt mein ungarischer Mann Pal Dardai und trainierte jahrelang Hertha BSC.
Aber über László Krasznahorkai weiß ich nichts. Jetzt, wo er von der schwedischen Akademie ausgezeichnet wurde, schaute ich natürlich nach, wie ein kleiner Schuljunge. „Verstörend, düster und freudvoll. Oft gleichzeitig.“ Damit kriegt man mich natürlich.
Anfang des Jahres sagte ich, dass ich mir nicht mehr den Druck machen will, täglich einen Blogeintrag zu verfassen. Wenn es einmal nichts zu berichten gibt, dann berichte ich auch nichts. Das kam früher nie vor. Seitdem ich mir das aber sagte, überspringe ich manchmal die Tage einfach aus Faulheit. Einerseits finde ich es gut, dass ich mir einfach sagen kann: „Heute nicht.“ Andererseits ist es ja gerade die Routine und der dazugehörige Zwang oder, freundlicher formuliert, der Auftrag an mich selbst, der mich darin übt, irgendein Ereignis auf ein Podest zu setzen und es zu beschreiben. Ich funktioniere hauptsächlich über Routinen. In meinen Zwanzigern wartete ich oft darauf, dass mich die Muse küsst, die mich dann zu außergewöhnlichen Dingen beflügelt. Aber meine Muse küsst mich ja ständig. Sage ich jetzt mal so. Zu außergewöhnlichen Dingen hat sie mich deshalb nie gebracht. Ich könnte den ganzen Tag lang mit der Muse herumknutschen. Die außergewöhnlichen Dinge geschahen immer nur durch Anstrengung.
Ich weiß gar nicht, was ich damit jetzt sagen will.
Es ist ja nicht so, dass ich deswegen mehr Zeit mit dem Romanprojekt verbringe. Das läuft nebenher. Der Roman hat mittlerweile einen Umfang von 205 Normseiten. Ich wähne mich etwa auf der Hälfte des Textes, fürchte aber, dass er länger wird. Neulich las ich, dass man Literaturagenturen idealerweise schon während der Entstehung der Arbeit dazuholt, also schrieb ich heute ein Exposé und suchte mir zwei Agenturen aus, die Autorinnen nach meinem Geschmack vertreten. Die Arbeit am Exposé zog sich über den ganzen Tag bis in die späten Abendstunden. Dabei ließ ich auch die KI den Text einlesen und mir gewisse Einschätzungen sowie Zusammenfassungen geben. Den Output der KI finde ich immer zu unnatürlich professionell, andererseits auch zu überheblich. Allerdings gibt sie durchaus brauchbare Einblicke in die Struktur und weist dann auch auf Schwächen hin, auf die mich bereits mein Gefühl (erfolglos) aufmerksam machen wollte.
Seit wir aus Grönland zurück sind, habe ich kaum noch Fotos geschossen. Das fällt mir auf, wenn ich ein Foto für die Blogeinträge auswählen will. In meiner Galerie finden sich nur Einkaufszettel, Filmplakate und missratene Aufnahmen meiner Hündin. Nach der spektakulären Kulisse in Grönland und Island muss ich mein Auge für Motive wieder ein wenig kalibrieren.
In meiner Galerie befindet sich auch Müll. Berliner Müll. Der zunehmende Müll auf den Bürgersteigen zieht mich zunehmend runter. Damit meine ich nicht die Gegenstände, die in den Fenstereinbuchtungen zu verschenken angeboten werden, auch nicht die vielen Fahrradskelette, sondern die Vermüllung, wenn irgendwo vier Pappbecher und leere Kippenschachteln herumliegen, ausgetrunkene Trinkjoghurts auf dem Boden, schmutzige, im Pflaster festgetretene T-Shirts oder aufgerissene Müllsäcke, die über die ganze Straße verteilt werden und eine Woche lang liegenbleiben. Es fällt mir ohnehin gerade schwer, diese Stadt zu lieben. Wenn ich auch noch zusehe, wie die anderen ihre Stadt nicht mehr lieben, verstärkt das nur meine Gefühle.
Was will ich damit eigentlich sagen?
Bei Hertha gibt es neues Merch. Die Trainings-T-Shirts sind ganz okay, aber die Jacken sind wieder furchtbar. Die neue Trainingsjacke sieht wie ein Sack aus und diese weiten Ärmel (Punktpunkpunkt). Ist das gerade Mode? Schon Nike produzierte diese unförmigen und uninspirierten Exemplare. Nachdem wir diesen Sommer Castore als neuen Ausrüster erhielten, wagte ich neue Hoffnung auf eine schöne Trainingsjacke, aber der Stil zieht sich durch, als hätte es den Wechsel nicht gegeben. Zudem mag ich das Costore-Logo nicht besonders. Es sieht aus, wie ein Ehrenkranz, Spiel des Jahres von Ravensburger, ich muss an Sagaland denken.
Die letzte schöne Jacke gab es 2016. Enger anliegend, weiße Streifen an den Ärmeln, nur zwei Farben. Davon konnte ich mir glücklicherweise eine gebrauchte über Kleinanzeigen ergattern. Immerhin ist die neue Jacke nicht wieder drei- oder vierfarbig. Dennoch sieht sie völlig uninspiriert aus.
Tut mir leid für die schlechte Laune.
Huch. Ich muss noch meine Reise buchen. Die Lesung in Südtirol ist bereits nächste Woche am Mittwoch. Ich wähnte mich noch Anfang Oktober, aber es ist schon eine Woche vergangen. Falls hier jemand aus der Gegend mitliest:
Felix findet meine (fast) täglichen Audiobeiträge sehr freundlich und nennt das, was ich mache, „lakonisch und salbungsvoll, professionell und unperfekt“. Finde ich sehr nett. Aber: salbungsvoll – ich merkte sofort, dass dieser Begriff nicht in meinem aktiven Vokabular vorkommt. Um das zu bestätigen, suchte ich nach dem Wort hier im Blog. Weil sich hier mittlerweile über eine Million Wörter angehäuft haben, müsste das Blog meinen Wortschatz also ziemlich gut abbilden, und tatsächlich: Die Suche nach ’salbungsvoll‘ ergab 0 Treffer. Ich habe das Wort in diesen 22 Jahren wirklich nie geschrieben.
Das beschäftigte mich.
Vor allem regte es mich jedoch an, am Wortschatzzähler weiterzuarbeiten. Ich hatte nämlich das Gefühl, dass er nicht richtig zählt. Daher ließ ich von Claude eine einfache Lemmatisierung einbauen, außerdem die Möglichkeit, alle gefundenen Wörter zu sortieren und als Textdatei herunterzuladen, um mir den Output etwas genauer ansehen zu können. Ein paar Dinge konnte ich verbessern. Einige Dinge sind aber noch ungenau, Bindestriche werden unter gewissen Umständen nicht rausgenommen und seltsam geschriebene Wörter wie „18km“ auch nicht. Außerdem ist die Lemmatisierung sehr einfach, sie erfasst nicht alle Wörter richtig. Um das zu verbessern, müsste ich ein lokales Wörterbuch einbauen, das ist mir aber gerade zu umständlich. Man muss beim Ergebnis also sicherlich 10% abziehen.
Auch Samstag und Sonntag hatten wir uns Chilltage verordnet. Ich nahm das als Anlass, Samanta Schweblins neuen Erzählband zu lesen, eine argentinische Autorin, von der ich später herausfand, dass sie in Neukölln lebt. Sie hat zahlreiche spanische Preise gewonnen und ihre Texte wurden als albtraumhafte Version von Murakami beschrieben. Mit so etwas kriegt man mich natürlich. Die ersten beiden Geschichten fand ich eher belanglos, aber die dritte und vierte Erzählung sind wirklich seltsam. Seltsam steht an dieser Stelle für ein überaus positives Adjektiv.
Obwohl ich gestern und heute viel Zeit hatte, schaffte ich es nicht, meine abschließenden Gedanken zu Grönland niederzuschreiben. Ich habe diese Gedanken, die mich seitdem sehr beschäftigen, bereits einigen Menschen erzählt, aber immer wenn ich sie niederschreibe, gefällt mir der Ton nicht. Ich klinge wie ein preußischer Protokollant.
Dafür hat Hertha am Samstag tatsächlich gewonnen. Wie ich berichtete, hatten wir uns vorgenommen, nicht ins Stadion zu gehen, weil die Mannschaft in unserer Anwesenheit in der bisherigen Saison noch kein Tor geschossen hat. In Wahrheit hatten wir wohl keine Lust auf den kalten Regen. Dieser Umstand und die vielen deprimierenden Niederlagen. Jetzt blieben wir weg und unsere Mannschaft gewann. Nächstes Mal gehen wir aber wieder hin. Wir wollen ja nicht esoterisch werden.
Noch Dutzende Tabs mit Island- und Grönland-Dingen offen gehabt. Ich finde es immer noch schade, dass die kulinarische Tour gestrichen wurde, aber sonst waren drei Tage Nuuk und Umgebung völlig ausreichend. Sicherlich hätten wir noch weiter Grönland erkunden können, aber dafür müsste man schon mit Flugzeugen weiterreisen, z. B. nach Ilulissat, dem sogenannten Eisbergdorf. Aber Ilulissat hat den Ruf, eine Eis-Fantasie für reiche Menschen zu sein, ein Ort, der sich mit seinem breiten Fine-Dining-Angebot und teuren Hotels ganz einem Publikum verschrieben hat, das am liebsten zum Mars fliegen würde, sich aber nur eine Jachtfahrt in die Arktis leisten kann. Auch wenn ich einer Eisberg-Fantasie durchaus etwas abgewinnen kann, zogen wir es vor, nach Nuuk zu fahren.
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Dieses fantastische Úlfrún-Bier. Ich interpretierte den Namen als „Ul Frun“, was ich mit meinem angeheirateten Skandinavisch als „Eulen-Frau“ übersetzte. Allerdings ließ ich mich nach zwei Tagen vom Barmann desillusionieren, der es für mich als „Ulf Run“ berichtigte, was auf Isländisch „Wolfsrune“ bedeutet. Das Bier schmeckte vorher wesentlich besser.
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In Nuuk fiel mir plötzlich auf, wie klein die Typo meines Blogs eigentlich ist. Ich kriegte das nicht mehr aus meinem Kopf und ging dafür noch einmal spät am Abend aus dem Bett. Jetzt kommt sie mir wiederum riesig groß vor.
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Jedenfalls zurück in Berlin. Was ist in den letzten beiden Tagen passiert? Im Mittelpunkt stand: Chillen! Wir schauten „Wayward“, diese neue Serie mit Toni Collette als Sektenführerin. Nach acht Folgen war die Serie aber schon fertig, dabei hätte ich Toni Collette noch ewig zuschauen können. Ich wollte gerade schreiben, dass Toni Collette auch eine dieser Schauspielerinnen ist, die erst im Alter so richtig schön geworden ist. Zur Sicherheit googelte ich nach jungen Fotos von ihr und sah, dass sie auch in jungen Jahren schon gut aussah, aber irgendwie fiel sie mir damals nicht wirklich auf.
Die Serie kriegt online entweder 5 Sterne, weil die Leute begeistert sind, oder 1 Stern, weil sich die Horsts über die zwei lesbischen Beziehungen aufregen, während heterosexuelle Beziehungen zu kurz kommen. Ich bin da eher bei 5 Sternen. Mit einem + für Toni Collette.
Am Donnerstagabend traf ich noch zwei Fußballfreundinnen im Zosch, wo wir hauptsächlich über Fußball und Hertha redeten und uns einig waren, dass wir diesen Samstag vielleicht nicht zum Spiel gehen sollten, weil Hertha immer dann nicht gewann, wenn wir im Stadion waren. In anderen Worten: Es wurde in dieser Saison noch kein Heimspiel gewonnen.
Gestern Abend waren meine Frau und ich mit der Nachbarin und einer anderen Freundin bei einer gemeinsamen Freundin eingeladen (was für ein Satz). Drinks und Snacks und quatschen. Dabei sollten die Nachbarin und ich auch Fotos von unseren Reisen zeigen. Mit USB-Stick auf dem Fernseher. Die Nachbarin war ja 3 Wochen lang auf Wanderung in Lapland und auf den Lofoten. Aber wir waren schlecht vorbereitet, was sicherlich daran lag, dass niemand von uns je eine Diashow vorgeführt hatte. Man muss das wahrscheinlich dramaturgisch anders aufziehen. Also mit zeitlich sortierten Fotos und einer Storyline. Unsere Fotos waren alle ein bisschen durcheinandergewürfelt. War aber dennoch lustig.
Ich weiß gar nicht mehr, was ich gestern noch über Nuuk berichten wollte. Mir kam nur vor, dass um mich herum so vieles von Bedeutung passiert. Wenn aber ein Tag vorbeigegangen ist und ich keine Notizen genommen habe, dann sind die Dinge oft nicht mehr aufrufbar. Ein Fazit, oder so etwas, das ein Fazit über Grönland und das koloniale Erbe sein wird, schreibe ich erst in Berlin auf. An jenem Nachmittag in Nuuk verbrachten wir die Zeit nur noch ein wenig schlendernd, setzten uns ins Café Esmeralda und wir gingen noch an diesem Tattoostudio vorbei, das an dem Tag allerdings geschlossen hatte. Mir kam nämlich eine spontane Tattoo-Idee, von der ich es ungemein charmant gefunden hätte, wenn sie mir in Grönland gestochen worden wäre. Wer weiß, vielleicht hätten sie ein spontanes Slot frei gehabt. Aber am Montag war das Studio zu.
Was ich noch erwähnen möchte: Grönland ist gar nicht so teuer, wie man erwarten würde, vor allem, wenn man gerade von Island angereist kommt. Bestimmte Dinge sind zwar etwas teurer, aber Pizza (die auch okay schmeckt) kostet etwa ab 15€. Und Pizza ist ja der internationale Richtwert, wenn man Preise vergleichen muss. Isn’t it?
Im Nachhinein bereue ich, kein grönländisches Fernsehen geschaut zu haben. Keine Ahnung, warum ich nicht auf diesen Gedanken gekommen bin, dabei hatte ich vor einigen Tagen den Kapitän und seine Begleiterin auf dem Boot gefragt, ob es so etwas wie Grönland TV gäbe, weil ich wissen wollte, in welcher Sprache das Fernsehen ausgestrahlt wird. Es wird jedenfalls auf Westgrönländisch gesendet, falls es jemanden interessiert. Es gibt Thule-Grönländisch im fernen Nordwesten, das allerdings mehr mit den kanadischen Inuit-Sprachen gemeinsam hat als mit West- sowie Ostgrönländisch. Aber Westgrönländisch lernen alle Kinder in der Schule und das wird somit auch im Fernsehen gesprochen. Ich habs aber nicht gesehen. Erst zurück in Island fiel mir das Fernsehen ein, deswegen schaltete ich sofort ein, aber da zeigten sie nur ein paar verschiedene BBC-Kanäle.
In Grönland kann man übrigens ganz gut den Effekt des Golfstroms erkennen. Nuuk liegt etwa auf demselben Breitengrad wie Reykjavik, ist aber jetzt schon fast zehn Grad kühler. Allerdings ist es auch fast windstill und trocken, während in Island ständig die Winde peitschen und der Regen niedergeht. Seltsamerweise sah ich in Island nirgendwo Windräder. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man in Island keine Windräder aufstellt. Es fühlt sich wie Ressourcenverschwendung an. Tatsächlich wird der Strom nur aus Wasserkraft und Geothermie gewonnen. Windkraft ist überhaupt kein Thema. Man hat es offenbar nicht nötig, die politische Flanke der Windkraft zu öffnen, denn es gab schon die ersten Windkraftgegner, die von der Verschantelung der Landschaft sprachen. Da kann man ruhigen Gewissens auf Geothermie setzen. Wobei ich finde, dass auch diese Geothermie-Anlagen wie total dystopische Industrieanlagen aussehen. Man erkennt sie schon von Weitem. Zuerst nur dichte Dampfwolken aus der Ferne. Nähert man sich ihnen, sieht man weit verzweigte und dampfende Röhrensysteme, die mich an die Welt von Skynet erinnerte, diese kaputte Maschinenwelt, in der Roboter alle Ressourcen für sich beanspruchen.
Ich finde es aber dennoch ungemein ästhetisch.
Heute, wieder zurück in Island, mieteten wir ein Auto. Eigentlich wollten wir von Keflavik aus in den Süden der Insel, nach Vik, zu den schwarzen Stränden und den Basaltformationen fahren. Das wären 3,5 Stunden pro Richtung gewesen. Nach einer Stunde Fahrt hatten wir allerdings keine Lust mehr. Der Gedanke daran, noch so viele Stunden im Auto zu verbringen, verdarb uns beiden etwas die Laune. In Ermangelung an guten Ideen fuhren wir aber erst einmal weiter. Als wir 10 Minuten später durch Selfoss fuhren, sah meine Frau ein nett aussehendes Café am Straßenrand, also drehten wir um und kehrten dort ein. Das war wieder eines dieser Buchcafés, wie es auch in Reykjavik eines gab, also eine Buchhandlung mit Café, allerdings nicht eine Buchhandlung mit einem Sofa, sondern ein vollwertiges Café und ein vollwertiger Buchladen. Ich kam mit der Händlerin ins Gespräch. Eine gut gelaunte Frau Ende fünfzig mit wilden, grauen Haaren. Ich hoffte, diesmal meine Fragen über den isländischen Literaturbetrieb loszuwerden. Aber auch diese Buchhändlerin gab mir keine zufriedenstellenden Antworten. Ich zeigte mich wieder erstaunt, wie viele Buchpublikationen es in Island gab, und sie sagte ganz stolz „Yes“. Als ich fragte, ob das subventioniert wird, sagte sie „Ja, die Lyriker müssen sogar selber zahlen um publiziert zu werden.“ Das war komplett an meiner Frage vorbeigeantwortet. Als ich wissen wollte, warum sie denkt, dass so viele Bücher auf Isländisch geschrieben werden, sagte sie: „We Icelanders are just crazy people“. Dann gab ich auf. Deswegen fragte ich sie nach Ásta Sigurðardóttir, ob sie eine andere Ausgabe als die etwas lieblose Taschenbuchedition, die man überall in den Läden fände, habe. Sie sagte, dass sie sicherlich ein paar verschiedene Ausgaben hat, und suchte daraufhin etwa 10 Minuten lang in ihren Regalen. Als sie nicht fündig wurde, rief sie ihren Mann an, der ihr die Bücher aus dem Archiv heraussuchen sollte. Er würde in einer Stunde im Laden sein und sie bei sich haben.
In der Zwischenzeit fuhren wir zu einem Woll-Laden eine Viertelstunde ostwärts. Das war ein einsames Haus mitten in einer leeren Landschaft. Meine Frau hatte es ergoogelt. Dort gab es diesen Woll-Laden und einen Töpferladen. Meine Frau suchte nach einem schönen Islandpullover. Wir fanden aber nichts. Zurück im Buchcafé war der Mann der Händlerin mittlerweile gekommen und hatte zwei Ausgaben mitgebracht. Eine gebrauchte, ältere Hardcoverausgabe für 30€ und eine Erstausgabe für 70€. Ich beließ es beim Hardcoverexemplar, schließlich möchte ich nicht bibliophil werden. Das liegt mir wirklich nicht. Ich habe generell wenig Bezug zu Gegenständen. Zudem entledigte ich mich vor einigen wenigen Jahren im großen Stil von Büchern, um diese deprimierende Schwere von Bücherschrank-Optik loszuwerden. Aber ein isländisches Buch, mit diesen Akzenten und seltsamen Buchstaben, von dieser etwas tragischen Autorin, mit der ich mich auf die Islandreise eingestimmt hatte, rundete die Reise für mich erst so richtig ab.
In Selfoss gibt es übrigens ein Skyr-Museum, das ich besuchen wollte, aber sie verlangten 20€ Eintritt, das war mir für ein kleines Skyrmuseum dann doch nicht wert.
In Selfoss beschlossen wir schließlich, unsere Reise ostwärts nicht mehr weiter zu verfolgen und stattdessen zurück nach Keflavik zu fahren. Wir hätten noch Zeit, in die Vulkangegend nahe Grindavik abzubiegen und ein paar Fotos in den Lavafeldern zu machen. Island ist, wie auch Grönland, so gut wie baumlos. In Island versucht man derzeit vereinzelt, wieder Bäume zu pflanzen. Sie werden allerdings nicht sehr groß. Manchmal sieht man an der Südküste bei kleinen Siedlungen ein paar Bäume stehen. Es sind Birken und Nadelbäume. Ich habe Bäume aber nicht vermisst, ich vermisse Bäume nie. Diese schönen, nackten Weiten. Felsen, Moose, Gras, Sträuche. Bäume versperren immer die Sicht. Auch wenn ich einem Wald durchaus etwas abgewinnen kann, lösen diese weiten nackten Landschaften ganz andere Gefühle der Ruhe in mir aus.
Unser Hotel befand sich direkt am Flughafen und war die ganze vorige Nacht einem Sturm ausgesetzt. Dieses Heulen. Die ganze Nacht lang. Wie habe ich das geliebt. Auch die zweite Nacht war so. Unser Flugzeug startete heute um 7:20 Uhr. Wir standen also mitten in der Nacht auf, latschten die 3 Minuten zum Terminal und fanden dort Unmengen an Menschen vor. Gestern ist die isländische Fluggesellschaft „Play“ in die Insolvenz gegangen und hat alle Flüge gestrichen. Ich nehme an, es gab damit einen Zusammenhang. Aber trotzdem ist Keflavik ein sehr geschäftiger Flughafen. Das war vor 12 Jahren auch schon so. Frühmorgens und spätabends gibt es einen ungewöhnlich hohen Betrieb. Auch als Drehkreuz zwischen Europa und Nordamerika. Vor allem auch nach Berlin, das ja sehr schlecht mit Direktflügen ausgestattet ist. Bei uns im Flieger saßen viele Menschen, die in Keflavik umgestiegen waren.
Gegen 13 Uhr landeten wir in Schönefeld, wo sie immer noch mit der Cyberattacke zu kämpfen haben. Lange Schlangen und die ständig gleichen, automatisierten Durchsagen, dass aufgrund der blabla.
Heute erwischte es dann uns: Unser Gepäck wurde verschlunzt. Es lag nicht auf dem Band der Ausgabe und so mussten wir uns in eine lange Schlange einreihen, um den Vorfall zu melden. Gefühlt bestand der ganze Flughafen aus Menschen, die beim Baggageclaim in der Schlange standen, oder Menschen, die enttäuscht auf leere Gepäckausgaben starrten. Mit zwei Stunden Verspätung kamen wir dann zuhause an. Wir gingen als Erstes zu den Nachbarn, um unsere Hündin zu holen. Schon auf dem Rückweg hatten wir ständig Fotos von ihr angesehen und waren ganz aufgeregt, sie wiederzusehen. Acht Tage war sie noch nie ohne uns.
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Wir lagen schon im Bett, als das Telefon meiner Frau bimmelte. Es war die Aurora-App, die wieder wegen Polarlichtern über Nuuk alarmierte. Das macht die App immer, wenn man sie entsprechend einstellt und die Stärke der Lichter die 30-%-Grenze (von was auch immer) überschreitet.
Nun ist das mit den Polarlichtern ja so: Es gibt jede Nacht Polarlichter. Oft werden sie von Wolken verdeckt. Wenn die Wolken sie nicht verdecken, sind die Lichter aber meist ganz unspektakulär und lediglich als graue Schleier am Himmel erkennbar. Man verwechselt sie im Alltag tatsächlich mit gewöhnlichen Wolken. Erst wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass sie sich ein bisschen anders bewegen. Sie erscheinen für das menschliche Auge grau, weil unsere Augen bei Dunkelheit in einen Modus umschalten, der nicht mehr das gesamte Farbspektrum einfangen kann. Hält man das Telefon auf diese Wolken, dann sieht man erst das ganze Spektrum. Immer grün oder gelb, meist auch violett und rot.
Je stärker die Sonnenaktivität wird, desto erkennbarer und damit auch bunter werden die Lichter am Himmel auch für das bloße Auge. Die Aurora von gestern war beispielsweise wirklich nur ein leichter, grauer Schleier am Himmel. Die Aurora von heute war etwas stärker und hatte bereits einen leichten Grünstich, aber eher grau-dunkelgrün als grungrau und ganz sicher nicht leuchtend grün wie auf dem Foto. Leider sind unsere Augen in der Dunkelheit nicht so gut.
Es gibt sie aber schon, diese Polarlichter, die auch mit bloßem Auge richtig spektakulär sind, aber nur einfarbig, entweder grün oder rot. Die haben wir aber nicht gesehen, die gibt es auch nicht täglich. Wir haben nur Alltagsauroras gesehen, also die, die immer da sind. Die, nach denen kein Hahn kräht. Außer so aufgeregten Südländern wie wir. War dennoch cool.
Ich glaube nur, dass Polarlichter überschätzt werden.
Für heute hatten wir eine kulinarische Tour unten am Kolonialhafen von Nuuk gebucht. Wir wussten nicht genau, was uns erwartete, aber wir waren ungemein gespannt darauf. Grönland und Kulinarik brachten wir vor allem mit Robben, Rentieren und Moschusochsen in Verbindung. Es wachsen auch Steckrüben, und in der Tundra wachsen wilde Blaubeeren, die wir auf unserer kleinen Wanderung probierten, die allerdings wässrig und etwas säuerlich schmeckten. Und natürlich verschiedene Arten von Fisch. Aber sonst hatten wir in den letzten Tagen nicht viel über Essensgewohnheiten erfahren. Dummerweise fiel die Tour aus Krankheitsgründen aus. Ich schrieb den Tourveranstalter an, ob er mir wenigstens den Namen der Locations schicken konnte, damit wir uns auf eigene Faust auf den Weg machen können. Er nannte ein Thai-Restaurant, das Sushis mit Grönlandfischen zubereitet, dann das Braettet, ein kleines Marktgebäude, in dem die Fischer ihren täglichen Fang einbringen. Da wir gerade gefrühstückt hatten, verzichteten wir auf das Sushi. Dafür gingen wir zum Braettet, wo tatsächlich gerade Tiere in Stücke zerteilt wurden und haufenweise Fleisch herumlag. Wir erkannten vornehmlich Robbenfleisch, das auf Englisch Blubber genannt wird. Auf Deutsch fällt mir kein geeigneter Begriff ein, der so lustig klingt, aber es ist schlichtweg Fettmasse, die nach meinem Verständnis blubbert, wenn man sie bewegt. Es ist nachvollziehbar, warum Eisbären vorzugsweise Robben verspeisen. Deren Blubber hält den Metabolismus lange aufrecht.
Leider war das Fotografieren im Braettet untersagt.
Ich werde den Bericht an dieser Stelle abbrechen. Nach dem Besuch des Grönländischen Staatsmuseums kamen mir viele Gedanken zu diesem Land, das ich nun ein kleines bisschen besser verstehe oder zumindest besser einordnen kann. Warum es lange so rückständig war und sich immer noch ein bisschen unterentwickelt anfühlt, verglichen mit beispielsweise Island oder auch Spitzbergen. Ich werde versuchen, das morgen oder übermorgen einmal für mich zu ordnen. Am Abend flogen wir nämlich wieder zurück nach Reykjavik. Es ist jetzt halb zwei, wir sind gerade im Hotel am Flughafen angekommen. Morgen nehmen wir uns noch einen Tag auf Island, weil die Verbindungen so unmöglich waren. Wir werden mit dem Auto an die Südküste fahren und die schwarzen Strände besichtigen.