Meine Frau versucht wöchentlich, immer mindestens 30 verschiedene Pflanzen zu essen. In Berlin ist das kein Problem. In Island war es schon etwas schwieriger. Zum Frühstück gab es beispielsweise nur noch 3 Arten Obst, zudem blasse und wässrige Tomaten mit ein paar geschnittenen Gurken. Heute zum Frühstück in Nuuk gab es Käse und Wurst. Außerdem Haferflocken und Joghurt. Haferflocken zählen als Pflanze.
Ich hatte nicht bedacht, dass Grönland außerhalb der EU liegt und sich damit außerhalb der Roaming-Regelung meines Telefonanbieters befindet. Zwar befinden sich auch Norwegen und Island außerhalb der EU, aber mit denen gibt es eine spezielle Vereinbarung. Mit Grönland hingegen nicht. Am Flughafen verschickte ich zwei Fotos und schon erhielt ich die Nachricht, dass mein Auslandsguthaben von 49€ aufgebraucht sei. Im Hotel gab es natürlich WLAN, so konnte ich immerhin herausfinden, wie ich jetzt am besten weitermache. Der Support meines Anbieters hat keine Verträge mit Grönland und keinerlei Plan, wie er mit meiner Situation umzugehen hat. Auf dem Schreibtisch des Zimmers liegt aber ein Werbeprospekt von Tusass, das ist die lokale Telekom, die mit zeitlich begrenzten eSIMs wirbt. Ich ahne ein gutes Geschäftsmodell mit den vielen überraschten Touristen. Das Prospekt liegt nicht umsonst im Hotelzimmer auf. Ich überwies der Tusass 40 € und erwarb damit eine 7 Tage gültige eSIM.
Um 9 Uhr sollten wir am Hafen sein, weil wir eine Bootstour durch den Nuukfjord gebucht hatten. Unser Kapitän war ein junger Grönländer Ende zwanzig. Ihm zur Seite stand eine junge Grönländerin, die kurz vorher mit einem dicken Geländewagen im Hafen vorgefahren wurde. Sie entstieg dem Auto wie ein Alien. Sie trug langes blondes Haar und war in einem türkisfarbenen Jumpsuit aus Samt gekleidet. Darüber eine offene, glänzende Winterjacke von Boss und an den Füßen Sneakers, die auch in Science-Fiction-Filmen getragen werden. Dazu eine auffällige Sonnenbrille von Dolce & Gabbana und eine schicke Tasche, deren Marke ich nicht erkennen konnte. Sie setzte sich im Boot eine Reihe vor uns und wickelte uns in Gespräche ein. Man konnte sie alles fragen, sie wusste alles über Restaurants in Nuuk und auch über Grönland im Allgemeinen. Wenn sie etwas nicht wusste, zog sie ein pinkfarbenes iPhone heraus und recherchierte mit ihren langen, pinken Fingernägeln danach. Während der ganzen Fahrt wurde mir ihre Rolle nicht ganz klar. War sie ein Love-Interest des jungen Kapitäns, oder war sie die Tochter des Besitzers? Während wir Touris zwei Mal an Land gingen, blieben die beiden auf dem Boot. Einmal fuhren sie ein Stück in die Bucht hinaus und warfen dort den Anker aus. Als sie eine Stunde später ans Ufer zurückkamen, hörten sie noch lauten dänischen HipHop auf einer Bluetoothbox. Wir lachten. Wie sich später herausstellte, ging sie noch zur Schule, würde später aber im Grönlandtourismus arbeiten.
Wir fuhren jedenfalls zuerst zwei Stunden in Richtung Norden und gingen in einem kleinen Ort namens Kapisillit an Land. Kapisillit heißt übersetzt „Lachs“, weil – genau – es dort viel Lachs gibt. Um genau zu sein, sind die beiden dort endenden Flüsse die einzigen Orte in Grönland, an denen die Lachse noch natürlich laichen. Das Dorf liegt auf einer schönen, offenen und sonnigen Landzunge. Die Häuser sind auch hier wahllos charmant durch die Gegend gewürfelt. Es gibt einen Laden und eine Kirche sowie eine Grundschule. Der Laden schließt um 12 Uhr mittags und öffnet erst später am Nachmittag. Er hält für unser Boot nicht die Tore offen. Wir sehen noch jemanden aus dem Laden kommen, aber hinein darf niemand mehr. 12 ist 12. Wir spazierten durch den Ort und machten Fotos. Unten auf einer offenen Fläche auf Tundraboden sitzen 5 grönländische Männer zusammen auf einer Holzbank vor etwa einem Dutzend Bierdosen und scheinen eine gute Zeit zu haben. Sie winken uns Touristen zu und lächeln. Wir winken zurück und lächeln auch. Nach einer Stunde gehen wir zurück ins Boot und ich frage den Kapitän, was die Kinder eigentlich machen, wenn sie aus der Grundschule raus sind. Er sagt, dass sie nach Nuuk müssen, und ich frage, was die Eltern dann tun. Schließlich sind die grönländischen Dörfer und Städte nicht durch Straßen miteinander verbunden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kinder jeden Tag 4 Stunden mit dem Schiff nach Nuuk pendeln. Er sagt mir, dass die Eltern dann eigentlich immer mit den Kindern nach Nuuk umziehen und auch dort bleiben. Dörfer wie Kapisillit werden bald aussterben. Wir hätten ja sicherlich die vielen verlassenen Häuser gesehen.
Danach fuhren wir den Fjord weiter nördlich. Es häuft sich die Anzahl kleiner Eisberge, die immer größer werden. Dann biegen wir in den Eisfjord ein, einen breiten Wasserarm, der mit kleinen und großen Eisbergen übersät ist. Wir machen viele Fotos und hängen dort an verschiedenen Stellen mit dem Boot herum. Der Kapitän fischt uns ein kleines Stück schwimmendes Eis aus dem Wasser und reicht es mir. Es ist so klar und sauber wie ein Stück Glas. Er sagt, das sei schwarzes Eis. Sehr gefährlich für kleine Boote, vor allem für Segelschiffe, weil man sie nicht gut sieht. Es gibt weißes Eis, blaues Eis und schwarzes Eis. Schwarzes Eis ist fast durchsichtig. Und sehr alt. Das Stück, das ich jetzt in der Hand halte, ist mehrere tausend Jahre alt und wird demnächst zu Wasser verschmelzen.
Nach dem Eisfjord legen wir auf Qoornoq Island an. Das ist eine kleine Insel mit etwa 40 Häusern. Die Häuser sind alle seit den Sechzigerjahren verlassen. Damals hatte der Kabeljauwbestand einen Tiefpunkt erreicht und in Nuuk gab es gerade einen wirtschaftlichen Aufschwung. Es wurden große Fischfabriken gebaut und die Regierung förderte den Umzug der Bewohner ins nahegelegene Nuuk. Der letzte Bewohner verließ das Dorf in ’72. Die Frauen kamen in Nuuk prima zurecht. Sie erhielten Jobs in den Fabriken, die Männer hingegen taten sich schwerer und verfielen dem Alkohol. Der Kapitän erzählte von den Frauen, die in Nuuk auf einmal Kleider kaufen konnten und nach Hause gingen, um sie ihren Männern zu zeigen, die den ganzen Tag mit Bier und Wodka auf dem Sofa saßen. Die Geschichte kommt mir ein bisschen zu klischeehaft vor, aber sie bringt den Inhalt rüber.
Qoornoq ist wieder so ein unglaublich schönes Dorf, in dem Holzhäuser mit spitzen Dächern in die Tundra gewürfelt wurden. Qoornoq liegt zudem auf einer schmalen Landzunge und ist von zwei Seiten von Wasser umgeben, in dem sich die Eisberge stapeln. Das Dorf ist nicht ganz so verlassen, wie es scheint. Offenbar wurden einige Häuser von den Nuukern als Sommerhäuser wiederbelebt. Wir liefen an drei Häusern vorbei, auf deren Verandas Menschen mit einer Tasse Kaffee in der Sonne saßen und uns zuwinkten. Bei einem Paar blieb ich kurz stehen. Die Frau war eine Inuit und der Mann ein Europäer, vermutlich Däne. Die Frau sagte: „Welcome to Qoornoq.“ Zwischen dem ersten „Q“ und dem Rest des Wortes legen die Grönländerinnen eine kurze Pause ein. Es klingt, als würde sie das „Q“ an das voranstehende Wort hängen. Sie sagt daher „Welcome toq Oornoq“
In dem Moment fühlte ich, dass ich irgendwas sagen muss, und sagte etwas unvermittelt: „This is a place of happiness.“ Nachdem ich das ausgesprochen hatte, kam ich mir total verstrahlt vor. Aber sie nickten beide verständnisvoll.
Gegen 18 Uhr waren wir wieder zurück in Nuuk. Um 19 Uhr hatten wir einen Tisch im Nivi, einem Restaurant mit grönländischen Tapas, reserviert. Besonders beeindruckend fanden wir den „Seared Tuna“, also angebratenen Thunfisch, was jetzt sehr unspektakulär klingt, aber der Bratvorgang muss höchstens eine halbe Sekunde gedauert haben, weil nichts daran angebraten aussah. Jedoch war der noch rohe Fisch von einer seltsam milchigen Patina umgeben, die himmlische Dinge auf der Zunge tat. Neben dem Thunfisch muss ich auch das Moschusochsen-Tartar erwähnen und in der zweiten Runde gab es noch kleine Miniburger mit Moschusochsen-Pattys. Hatte ich noch nie und fand ich erstaunlich gut. Wesentlich saftiger als Rentierfleisch.
Nun.
Nach dem Essen und zwei großen Bieren von der lokalen Qajaq-Brauerei wurden wir müde und gingen zurück ins Hotel. Auf dem Rückweg sahen wir, dass unsere Aurora-App eine leicht erhöhte Polarlichter-Aktivität anzeigte. Also standen wir eine Weile vor unserem Hotel herum und sahen ein paar ganz schwache Erscheinungen am Himmel. Das Foto unten gibt es stärker wieder, als es in Wirklichkeit aussah. Diese schwachen Lichter sind mit bloßem Auge nicht sehr spektakulär. Aber das wusste ich vorher schon.
Tag 2.
Für heute hatten wir eine dreistündige, geführte Wanderung auf die Lille Malene gebucht. Das ist der kleine Hausberg östlich in der Bucht von Nuuk. Unser Führer war ein 27-jähriger Mann aus dem Süden von Grönland. Wir sind die einzigen Teilnehmer, was ich gut finde. So kann ich mich mit dem jungen Mann unterhalten und alle meine Fragen loswerden. Wir kommen unweigerlich auch auf das Thema Trump und USA zu sprechen. Während die beiden jungen Leute gestern auf dem Boot Trump und seine Annexionsfantasien ganz furchtbar fanden, wich der heutige Mann meiner Frage etwas aus. Er sagte, die Meinungen dazu seien in Grönland ja sehr gespalten. Die eine Hälfte möge Trump und die andere nicht. Er möchte nicht über Politik reden, aber er stellt halt schon fest, dass, seit Trump das Thema auf den Tisch gebracht habe, der Tourismus boomen würde. Menschen aus aller Welt kämen plötzlich ins Land und das sei ja schon gut für seinen Beruf und seine Familie. Spontan wollte ich sagen, dass der Tourismusboom vielleicht eher mit dem neuen Flughafen zu tun hat, der im April dieses Jahres geöffnet hat. Sogleich beschließe ich aber, das Thema abzubrechen. Ich habe keine Ahnung, ich habe wirklich keine Ahnung. Ich sollte als dahergekommener weißer Europäer wirklich nicht herkommen und Einheimische belehren.
Stattdessen erfasste mich plötzlich eine Angst vor Eisbären. Auf einmal merkte ich, dass jeden Moment ein Eisbär auftauchen könnte, und morgen würde der Tagesspiegel titeln, dass ein Berliner Touristenpaar in Grönland von einem Eisbären gefressen worden ist. Unser Führer trug kein Gewehr. Ich weiß, dass in der Gegend von Nuuk Gewehre nicht üblich sind, da in diesem Teil des Landes eigentlich nie Eisbären gesichtet werden. Allerdings lief letztes Jahr ein Eisbär über den Runway des Flughafens. Ich habe viel über Eisbären gelesen, wirklich viel. Was ich von Eisbären weiß, ist, dass sie immer aus dem Nichts auftauchen. Und plötzlich wird man gefressen. Über Bären im Allgemeinen habe ich gelernt:
* ist der Bär schwarz, mach dich groß
* ist der Bär braun, mach dich klein
* ist der Bär weiß, ist es vorbei
Da er kein Gewehr bei sich hatte, bedeutete es für mich: Wir können heute sterben. Ich wollte ihn fragen, wie er sich verhalten würde, wenn jetzt in diesem Moment ein Eisbär vor uns auftauchen würde. Allerdings traute ich mich nicht, ihm die Frage zu stellen, weil ich fürchtete, dass er kein Konzept hat. Als wir aber am Ende der Wanderung angekommen waren, fast unten bei den Containern, war ich jedoch mutig genug.
Seine Antwort fiel recht einfach aus. Er sagte, wir müssten uns groß machen und beobachten, wie er sich verhält. Groß machen. Soso. Ich war froh, dass ich ihm die Frage erst am Ende der Wanderung stellte. So konnte ich mich unterwegs den Fantasien hingeben, wie ich den Bären mit Steinen in die Flucht zu jagen versuchte.
Andere Sache: die Raben. Die sind hier unglaublich groß – und auch laut. Wenn sie auf dem Dach dieser 12-stöckigen Hochhäuser thronen und ihre Rabenlaute von sich stoßen. Oder wenn sie über die Stadt fliegen. Man sieht sie und hört sie ständig. Als ich gestern dem Kapitän davon berichtete, wie sehr mich die Raben in Grönland beeindruckten, nannte er sie „die Bringer des Lichts“. In der Mythologie der Inuit waren die Raben vor den Menschen auf der Welt und brachten das Licht.
Zurück in Nuuk besuchten wir noch das Einkaufszentrum, in dem sich einige Läden mit grönländischen Waren befanden. Vermutlich werde ich mir eine kleine Tasche aus Robbenfell kaufen. Die ganz kleinen für Telefon und Hundekacktüten. Die sehen sehr schön aus und kosten gar nicht viel. Oder ein paar Handschuhe fürs Radfahren bei eisigen Temperaturen. Ganz sicher bin ich mir aber noch nicht, weil ich mich in Berlin sicherlich die ganze Zeit dafür rechtfertigen muss und erklären, dass die durch Inuit erfolgte Robbenverwertung ökologisch sowie sozial nachhaltig ist und blabla. Robbenfell zu kaufen ist unbedenklicher, als ein Steak zu essen.
Aber will ich diese Diskussion ständig führen?
Danach waren wir platt. Wir ruhten uns ein paar Stunden im Hotel aus, liefen später aber noch einmal zurück ins Zentrum, um eine Pizza zu essen. Nach dem Essen wollte ich unbedingt noch ins Daddys, das ist der Pub, in dem sich die jungen Leute treffen. So sagte es mir die junge Frau auf dem Boot. Wir sollten aber nicht ins Maximut gegenüber, weil sich da nur die alten Grönländer betranken und es ständig Schlägereien gäbe. Das war ein guter Hinweis. Das Maximut stand nämlich auch auf meiner Liste. Nach der Pizza und dem Bier schwand aber unsere Energie. Wir schafften es immerhin noch, die zwanzig Minuten hinunter ins Hotel.
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