[Samstag, 18.9.2021 – die letzten Tage, Fahrt, Südtirol]

Die Reise lief ziemlich so, wie geplant. Wir starteten kurz nach 14Uhr und erreichten Greding um 19:30. Das Restaurant schloss erst um 20:30, wir hatten also noch etwas Zeit ein Bier und etwas zu essen zu bestellen. Weil ich mir ein Gefühl der Belohnung erarbeitet hatte, griff ich zu einem großen, fränkischen Hellen und eine Gordon Bleu.

Nach dem Essen spazierten wir noch ein bisschen durch das Städtchen. Es ist ein angenehmer, kühler Herbstabend. Greding ist gar nicht so klein wie es auf dem ersten Blick aussieht. Wenn man von der Autobahn abfährt, ist man eine halbe Minute später bereits auf dem Marktplatz. Aber trotzdem bekommt man nichts von der Autobahn mit. Greding zieht sich vom Marktplatz entlang eines Hanges so hinauf. Und hat 7000 Einwohner. Hätte ich nicht gedacht.

Wir laufen über den Martkplatz, eine Ansammlung von alten Häusern mit spitzen Giebeln. Manche haben Treppengiebeln. Greding sieht aus, als wäre es mal ein wichtiger Ort gewesen, aber wenn man sich den Wikipediaeintrag durchnimmt, dann steht unter Geschichte ziemlich nichts erzählenswertes. Der Abschnitt „Verkehr“ is doppelt so lang und behandelt die Autobahnabfahrt.

Die Kirche befindet sich ein ganzes Stück oberhalb des Marktplatzes. Es ist schon dunkel und es sieht nicht einladend aus, wie die Kirche da oben feindselig aber abwesend auf uns herunterschaut, sie erinnert mich an Kafkas Schloss. Wir beschliessen, am nächsten Morgen hinaufzugehen. Nach dem Frühstück. Nach dem Essen ruhn oder tausend Schritte tun. Wenn es mir passt, dann es mir passt, dann nehme ich Sprüche ernst.

Am nächsten Morgen steigen wir die Anhöhe hinauf. Wir laufen über Friendhof. Das habe ich als Kathole gelernt. Wir laufen immer über Friedhöfe. Ich weiss nicht, warum. Dann nehmen wir Fotos und schauen auf die Stadt hinunter. Da oben versteht man die Struktur des Ortes, man sieht, wie die Autobahn den Ort flankiert. Ich verstehe sofort, warum man in Wikipedia so viel darüber schreibt.

Gegen 11 Uhr fahren wir los. Wir haben 5 Autostunden bis Meran vor uns. Fast meine ganze Familie wohnt mittlerweile in Meran, wo auch die meisten meiner verbliebenen Freunde wohnen. Es ist besser so. Mein Vater wohnt noch im Dorf, das ist immer sehr weit weg von allem.

Am Nachmittag kommen wir an. Wir hatten „Live Location“ in Whatsapp an. Die Neffen hatten das genau verfolgt und warteten schon zwei Kreuzungen vor ihrem Haus auf uns.

Nachher gehen wir zu Smorfia. Das ist eine Pizzeria am Rande der Altstadt. Smorfia heisst Grimasse und sie machen napolitanische Pizza. Das Smorfia war das erste Lokal in Südtirol, das keine Industriebiere servierte, sondern von einer kleinen Brauerei aus der Toskana.
Mittlerweile haben sie das aber aufgeweicht. Sie haben noch eine Bionda von besagter Brauerei und sonst das übliche Forstbier und irgendein Weizen aus Bayern. Die Bionda schmeckt mir nicht, es ist dem belgischen „Blonde“ nachgeahmt und mir zu säuerlich. Deshalb bestelle ich ein Forstbier hinterher.

Von den zwei Bieren und der Pizza bin ich platt. Aber meine Mutter ist in Plauderstimmung. Wir sitzen nachher noch bis halb zwei Uhr bei ihr am Wohnzimmertisch.

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Am nächsten Tag schlafe ich lange, bis zehn Uhr. Dann frühstücken wir und gehen zu meiner Schwester. Auch dort gibt es Frühstück. Dort gibt es anderes Brot und andere Käses. Also frühstücke ich ein zweites Mal.

Eigentlich wollten wir heute nach Gardaland, dem Vergnügungspark am südlichen Ende des Gardasees, fahren. Es zieht aber gerade ein großes Unwetter über Norditalien her. In Mailand herrscht Notzustand. Am Gardasee regnet es nur. Aber alle Beteiligten entscheiden sich gegen die Fahrt. Mich hält Regen ja selten von etwas ab, aber Regen im Vergnügungspark ist nur so halb, das sehe ich schon ein.

Dafür lädt uns die kleinere der beiden Schwestern in den Escaperoom Meran ein. Ich liebe Escaperooms. Der Escaperoom ist in einem entweihten Nonnenkloster in der ALtstadt eingebaut. Es gibt zwei Räume, ein Raum bespielt eine Detektivgeschichte. Da wir drei Kinder dabei haben, wählen wir den anderen Raum, der ist etwas einfacher und behandelt die Deciffrierung des Voynich Manuskriptes.
Wir sind zu sechst, haben viel Spass, sind aber etwas chaotisch und schaffen es natürlich nicht, das Rätsel innerhalb der vorgegebenen 60 Minuten zu lösen. Der Quizmaster lässt uns aber etwas mehr Zeit. Nach zwanzig Extraminuten, knacken wir das Rätsel.

Danach machen wir Meran-Sachen. Wir spazieren auf der Kurpromenade und gehen zu Mediamarkt. Mit den Kids Mediamarkt gehen, ist immer sehr unterhaltsam. Wir haben nie einen Plan, hängen aber immer lange herum. Am Ende sitzen wir in der Gamer-Ecke auf vier Gamer Sesseln im Kreis und quatschen lustiges Zeug.

Danach ist schon Abendessen und wir schauen eine Familienkomödie (Game Night). Ich vergesse immer, wie viel im Fernsehen über Sex geredet wird. Das bekommt man erst mit, wenn Kinder neben einem sitzen und man sich ständig denkt, was die wohl gerade denken. Als Kind und Jugendlicher fand ich es immer schlimm, Erwachsene neben mir zu haben, wenn Leute im TV knutschten oder Sex hatten.

Die Kinder (10, 12, 13) ignorierten das alles vornehm.

[Sonntag, 19.9.2021 – Tappeinerpromenade, Richard III]

Heute schlief ich lange. Bis zehn Uhr. Oh, das habe ich gestern auch schon geschrieben.
Mein Frühstück fällt hier ganz anders aus als zuhause. Ich esse hier Weissbrot, Marmelade, Nutella und Pistaziencreme. Mir zuliebe tischt man auch Käse und Salami auf. Aber in Wirklichkeit frühstücke ich selten mit Brot. Eigentlich nur wenn ich in Hotels frühstücke oder wenn ich im Urlaub bin. Mein Frühstück besteht aus Joghurt und Haferflocken. Manchmal mit ein wenig Obst darin. Heidelbeeren zB oder Bananenstücke. Meistens aber einfach nur Joghurt mit Haferflocken. Vor einem halben Jahr habe ich Joghurt durch Sojaghurt ersetzt. Man muss ja nicht immer tierische Eiweisse zu sich nehmen.

Meine Tagesplanung sieht simpel aus: um 14Uhr wollte ich zu meiner Frau, die bei meinen Schwiegereltern wohnt. Dort würden wir Brot backen um dies um vier Uhr zu meiner Schwester zu bringen. Um vier Uhr würden wir also mit schwedischen Salz und dem frischgebackenem Brot die neue Wohnung meiner Schwester besichtigen. Weil das ein deutscher Brauch ist, den wir beide mögen. Wir wissen aber nicht, was der Brauch mit dem Salz und dem Brot bedeutet und wo das herkommt, müsste ich mal googlen, aber wir haben den Brauch sofort übernommen.
Und um 18Uhr bin ich mit der kleineren Schwester verabredet. Sie hat Theatherkarten im KIMM. Eine Aufführung von Richard III.

Gegen elf kommt meine Schwester zu meiner Mutter (ich wohne ja bei meiner Mutter) und hat einen der beiden Sohne und die Tochter dabei. Wir beschliessen spontan, zusammen spazieren zu gehen. Sie schlägt eine etwa halbstündige Route vor. Sobald wir losgehen beginnt es zu regnen. Aber wir haben Schirme dabei. Wir laufen die Tappeinerpromenade oberhalb der Stadt hinauf. Wir haben uns lange nicht mehr zu zweit, alleine und ohne Kinder unterhalten. Ich vermisse meine Schwester, wir hatten als Jugendliche eine innige Bindung. Die Bindung ist über die vielen Jahre geblieben, aber natürlich ist sie nur noch innig und nicht mehr eng, was aber vor allem mit den Lebensbedingungen und der Entfernung unserer Wohnorte zu tun hat.
Oben an der Promenade kehren wir in ein Cafe ein und schauen auf die Meraner Altstadt hinunter.

Es ist halb zwei. Ich telefoniere mit meiner Frau. Sie backen gerade Kuchen. Morgen ist runder Geburtstag meines Schwiegervaters. Der Kuchen nimmt den Backofen ein, wir können also noch kein Brot backen. Weil sie eigentlich gerade keine Zeit hat, ändern wir kurzfristig unsere Pläne. Also begleite ich meine Schwester zurück zu meiner Mutter, dort schauen wir mit den Kindern diese Sendung mit dem Hundeflüsterer, Caesar Milan. In dieser Folge nimmt er sich zwei problematischer Hunde auf einer Ranch an. Hunde sind geil. Wir sitzen alle gebannt vor dem Fernseher.

Danach gehe ich zu meiner Frau. Wir setzen uns auf den Balkon und reden lange. Dann ist es auch schon bald halb sechs und ich muss ins Theater.

Ich treffe zum ersten Mal den neuen Freund meine kleinen Schwester. Er ist sehr nett, er verbringt seine Urlaube in Norwegen und am Nordkapp, wir haben sofort Gesprächsstoff.

Aufgrund der Coronaauflagen sind die Stühle sehr weit voneinander entfernt. Und dann passiert etwas lustiges. Das Stück hat bereits begonnen, der Saal ist also schon dunkel, dann kommen vier Personen in den Saal und setzen sich eine Reihe vor uns. Eine ältere Dame will sich genau vor mich setzen. Was ich weiss, sie aber noch nicht zu wissen scheint, ist der Umstand, dass sich genau an jener Stelle kein Stuhl befindet. Sondern nur links und rechts davon. Weil es so dunkel ist, sieht sie das nicht uns beginnt, sich hinzusetzen. Es geht alles sehr langsam und ich sehe zu, wie es vor mir passiert. Ich will es zuerst nicht glauben, deswegen schreite ich gar nicht ein, aber als sie unbeirrt ihren Hintern und ihr Gleichgewicht nach hinten bewegt und es diesen Point of no return gibt, merkt sie, dass etwas nicht richtig ist. Ich greife vielleicht etwas spät ein, ich bin vielleicht einfach etwas zurückhaltend und will nicht einfach fremden Damen unter die Schultern greifen, ich weiss aber auch, dass sie es mir nicht verübeln wird, also springe ich nach vorne, und fange sie auf. Sie trägt ein tolles, schweres Parüm, nicht zu süß, ich mag das.
Aber die Blamage ist natürlich längst passiert. Alle Umstehenden prusten und das Rot in ihrem Gesicht lässt den Saal erleuchten.

Das Stück ist gut. Leider fällt es mir schwer, dem Stück zu folgen. Es fehlt mir etwas der Hintergrund zur Geschichte, ich weiss von Richard III eigentlich nur, dass er einen auffälligen Buckel hatte und viele Menschen umbrachte um auf den Thron zu kommen. Ich ahne, dass das Bühnenbild vor Referenzen nur so strotzt. Zumindest finde ich das von modernen Interpretationen eines Shakespeare Stückes einigermassen erwartbar. Auf der Bühne leeren die Schauspielerinnen ständig Müllsäcke mit Papierstücken, ohne dies zu kommentieren. Die Bühne quillt im Verlauf der Geschichte total mit Papierfetzen über. Ich mag das. Auch wenn es referenzlos ist.

Nach dem Theaterstück lädt mich die Schwester noch zu sich ein. Sie hat einen Wirsingauflauf, den sie uns wärmen würde und ein paar belgische Biere. Ich liebe aufgewärmten Wirsingauflauf und belgisches Bier.
Wir sitzen dann eine ganze Weile bei ihr zusammen und reden über Berufe, über Norwegen und über Longyearbyen. So ist das.

[Montag, 20.9.2021 – Carabinieri, Geburtstagsaperitiv]

Die Audioqualität ist echt schlecht. Für unterwegs habe ich nicht die richtige Ausrüstung. Zwar habe ich ein kleines Ansteckmikro von Rode, aber wenn Rode draufsteht, bedeutet es nicht, dass es die gleiche Rodequalität ist, wie mein Rode Mikro auf dem Schreibtisch.

Heute war ich den ganzen Tag mit meiner Mutter unterwegs. Erledigungen machen. Mit meiner Mutter kann man super Erledigungen machen. Sie redet vom neuen Gemüseangebot im Supermarkt, sie redet von der neuen Baustelle am Theaterplatz, wir treffen die Maklerin, die ihr bei der Wohnungssuche geholfen hat. Die Maklerin sitzt zufälligerweise mit dem Bankmitarbeiter ihrer Raiffeisenkasse beim Espresso an der Bar unter der Lauben. Ich liebe das alles.
Ich hatte auch eine Erledigung zu machen, ich musste zu den Carabinieri.
Mein Pass verfällt ja in zwei Tagen und ich habe es nicht geschafft, auf der Botschaft in Berlin einen neuen Pass zu beantragen. Die Mitarbeiterin am Telefon der Botschaft riet mir, in Südtirol eine Identitätskarte zu beatragen. Das geht schnell und ohne Termin. Identitätskarte ist so etwas wie der Perso in Deutschland.

Ich rief also im Gemeindehaus des Dorfes, in dem ich als letztes gemeldet war, an und erklärte mein Anliegen. Die Dame am anderen Ende des Telefons war eine ehemalige Mitschülerin meiner Schwester. Sie wusste, wer ich war und sagte, das ginge ohne weiteres, ich bräuchte nur eine Verlustanzeige von den Carabinieri und drei Fotos. Dann könne ich einfach vorbeikommen.

Also ging ich heute zu den Carabinieri. Ich saß früher oft bei den Carabinieri. Das war aber immer problembehaftet. Heute war ich einfach als Erwachsener Mann mit einem Anliegen da. Das war mir neu.

Er fragte, wann ich meine Identitätskarte verloren habe.
Ich sagte: vor 20 oder 25 Jahren.
Er schaute seltsam.
Er fragte, wo ich die Karte verloren habe.
Das wusste ich natürlich nicht mehr. Wenn es vor 25 Jahren war, dann sicherlich in den Niederlanden, wenn später, dann vermutlich in Spanien, wenn noch später dann vielleicht auch in Deutschland.
Genauer geht es nicht? Wollte er wissen.
Nein.
Was soll ich in der Anzeige reinschreiben? fragte er in vollem ernst.
Ich sass da und überlegte genau so ernst. Ich sagte: vielleicht, dass ich den Pass vor 15, 20 oder 25 Jahren in den Niederlanden oder Spanien oder Deutschland verloren habe?
Hm, ja. Sieht aber komisch aus.
Das stimmte. Ich schlug vor, dass ich den Ausweis bei einem Umzug verloren haben könnte. Das gefiel ihm lustigerweise.
Er bat mich, zu diktieren.

Also diktierte ich. Er war Italiener, aber Carabinieri müssen in Südtirol auch deutsch sprechen können. Sein deutsch war mittelmäßig, die Konversation funktionierte zwar, aber Grammatik und Rechtschreibung war etwas holprig. Das war OK, wir konnten beide darüber lachen.
Er tippte alles in seinen Pentiumcomputer hinein, und drehte den Bildschirm so, dass ich die Rechtschreibfehler gleich sehen konnte.

Am Ende hatte ich ein schönes Dokument mit einem Carabinieristempel.

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Um vier Uhr waren meine Mutter und ich beim Geburtstagsaperitiv meines Schwiegervaters eingeladen. Es gab Sekt und Häppchen. Auch Kuchen gab es danach. Später gab es auch Whisky und Bier.

Um zehn Uhr abends lief ich dann einmal durch ganz Meran zur Wohnung meiner Mutter. Sie war schon früher nach Hause gegangen.
Ich hatte einen Hertha Podcast im Ohr. Wie seltsam das ist, in Meran zu sein und einen Hertha Podcast zu hören. Aber wir haben am Freitag wieder gewonnen. Ich konnte das Spiel nicht sehen, ich schaute nur regelmäßig auf die App, als wir in der Pizzeria sassen, und empfand dabei Freude.

[Dienstag, 21.9.2021 – Interspar, Sushi]

Heute früh musste ich mein Auto umsetzen. Die Strasse, in der ich mein Auto geparkt hatte, wird jeden Dienstag zwischen 9:30 und 11:30 gereinigt. Alle parkenden Autos werden in diesem Zeitraum abgeschleppt. Woche für Woche. Das ist in den meisten Strassen Merans so.

Ich bog um 9:37 in jene Strasse ein, mein Auto hielt als einziges, einsam die Stellung. Es lagen aber überall noch Blätter herum, die Reinigung war also noch nicht da gewesen. Ich ging ein paar Schritte die Strasse hinunter, dann bog schon die Reinigungsmaschine um die Ecke. Ein kleiner Wagen mit einem Besenrotor, der sehr viel Lärm macht.
Ich rannte zum Auto und alles war gut.

Heute war der Tag für meine Frau und mich reserviert. Wir wollten ursprünglich wandern, daraus wurde aber nichts, weil ich mir meine linke Ferse ganz übel aufgeschürft habe. Ich traue es mir momentan nicht zu, stundenlang zu marschieren. Wir nehmen am Donnerstag einen zweiten Anlauf.
Also würden wir ein bisschen durch Meran spazieren und einkaufen. Mit Einkaufen meine ich: in den riesigen Supermarkt an der Romstrasse gehen. Ins Interspar. Wir machen das ja sowieso immer gerne, in fremden Ländern in Supermärkten herumzuhängen. Das Interspar in Meran geht über zwei Stockwerke. Diese Unmengen an Pasta und an Reis. Es ist unfassbar. Wir waren ewig da.

Dann war es auch schon vier Uhr und wir gingen zur Wohnungsbesichtigung zu meiner Schwester.
Gegen sechs bestellten wir Sushi und Burger, dann war der Tag vorbei und ich fuhr mit dem Auto zu meiner Mutter.

Heute muss ich früh ins Bett. Mein Wecker klingelt um 4 Uhr. Wir werden frühmorgens auf das Weisshorn steigen um den Sonnenaufgang zu sehen. So etwas habe ich noch nie gemacht. Es war die spontane Idee meiner kleinen Schwester.
Eigentlich war es der Tag an dem wir unseren Vater besuchen wollten. Jetzt stehen wir ganz früh auf und gehen zuerst auf den Berg.

[Mittwoch und Donnerstag, 22/23.9.2021 – Weisshorn, Laab-Alm, Leifers, Wurzer Alm, bei Freunden]

Ich konnte erst gegen Mitternacht einschlafen und wachte nach einer unruhigen Nacht um 3:30 auf. Mein Wecker würde um 4 Uhr klingeln um eine Stunde zum Jochgrimm zu fahren, wo ich meine kleine Schwester und ihren Freund treffen würde. Vom Jochgrimm wollten wir auf das Weisshorn steigen um vom Gipfel aus den Sonnenaufgang anzuschauen.

Eigentlich wollte ich absagen. Ich spielte 25 Minuten lang mit der richtigen Formulierung um abzusagen. Um 5 vor vier entschied ich aber, dass das blöd sei und sich diese Möglichkeit, nicht so schnell wieder ergeben würde und ich nun ohnhein nicht mehr schlafen könne, ich also genau so gut aufstehen und losfahren kann.

So tat ich dann auch.

Meine Mutter wurde wach und kochte uns einen Kaffee ich ass einige Brotscheiben mit Marmelade, trank den Kaffee und machte mich auf den Weg.
Eine Stunde später erreichte ich das Jochgrimm.
Auf das Jochgrimm fuhren wir früher oft zum Kiffen hoch. Wir setzten uns auf diese Wiesen unterhalb des Weisshorns und kifften. Ich fuhr immer schon gerne zum Jochgrimm hoch, weil man da schnell und unkompliziert zur Baumgrenze hinauffahren konnte. Es fühlte sich für mich immer befreiend an, die Bäume hinter mir zu lassen.

Die ganze Fahrt durch das dunkle Tal hinauf höre ich Filmmusik von Max Richter. Als ich Jochgrimm aussteige merke ich, dass es sehr kühl ist. Es ist noch dunkel und hat drei Plusgrade. Meine Schwester und ihr Freund sind schon da. Ich habe eine kurze Hose und ein Tshirt an. Die kurze Hose ersetze ich durch eine Joggingshose, die ich in weiser Voraussicht mitgenommen habe. Über das Tshirt ziehe ich einen dünnen Wollpullover, einen Baumwollpullover und eine ungefütterte Jacke an. Zur Sicherheit habe ich noch einen zweiten Baumvollpullover an. Es fühlt sich nicht ganz ausreichend an, aber das ist mir egal, wenn es nicht geht, dann breche ich die Aktion einfach ab und gehe zurück zum Auto.

Dann steigen wir hinauf. Es ist noch dunkel, im Westen leuchtet der Vollmond, dadurch sieht man den Weg einigermaßen gut. Heute ist der 21.9. das heisst Tag und Nacht sind genau gleich lang. Der Aufstieg dauert etwa 50 Minuten. Das Weisshorn ist nicht sonderlich hoch, fast 2400 Meter, das Jochgrimm liegt auf 2000m, es gilt also nur 400 Höhenmeter zu überwinden. Zuerst die Weide, dann diese Gegend mit den Kiefersträuchern, danach kommt das Geröll und dann die Felsen. Wir steigen die Westseite hinauf. Der Weg wurde in den letzten 10 Jahren bearbeitet und ist jetzt wirklich sehr einfach, auch mit Turnschuhen zu besteigen.

Während wir hinaufsteigen hören wir die Kuhglocken, aber es ist noch zu dunkel, um die Tiere zu sehen. Es lichtet sich der Horizont in östlicher Richtung. Ich bin anfangs etwas zu hastig, mein Puls ist schnell und meine Lungen füllen sich mit kalter Luft. Es ist wichtig, ruhig zu gehen. Schritt für Schritt, fast meditativ. Bald beruhigt sich mein System.

Als wir oben ankommen ist es bereits hell, die Sonne wird in zehn Minuten aufgehen. Es weht ein eisiger Wind vom Osten her. Auf der Westseite des Kammes war es angenehm kühl, aber sobald wir aber dem Gipfel stehen, sind wir total diesem eisigen Wind ausgeliefert. Mit meiner Sommerkleidung stehe ich ein bisschen doof da. Mein Rücken ist nass vom Schweiss. Dann finden wir eine kleine Kuhle auf der südostseite, zwischen zwei kleineren Felsen. Hier wird der Wind etwas gebrochen. Der Freund meiner Schwester gibt mir etwas, das ich mir um den Kopf wickeln kann.
So sitzen wir dann und schauen über den rötlichen und immer heller werdenden Horizont hinter den Gipfeln der Dolomiten.

Dort wo der Feuerball aufgehen sollte, sind die Wolken zu dicht, aber der Rest des Himmels ist wolkenfrei. Schon lustig. Wäre ja wirklich zu kitschig gewesen.

Ich merke, dass es mir nicht gut tut, da oben mit nassem Rücken in der Kälte zu sitzen, ich sage, dass ich schon runter müsse, ich würde mich ins Auto setzen und auf die warten. Meine Schwester und ihr Freund bleiben noch etwas.

Unten auf der Weide sehe ich jetzt auch die Tiere mit den Kuhglocken. Es sind keine Kühe. Es sind Esel. Das soll mir mal jemand erklären, was Esel auf einer Weide machen. Allerdings muss ich zugeben, dass Esel ästhetisch sehr viel her machen. Sie sind die Pluschtier Variante von Pferden.

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Dann fahren wir hinunter zu meinem Vater. Wir lernen seine neue Freundin kennen. Sie ist nett. Es gibt ein zweites Frühstück, mit selbstgemachten, fast zuckerlosem Pflaumenmus.

Es ist 11 Uhr, die kurze Nacht und die Kälte auf dem Gipfel haben mir etwas zugesetzt und ich lege mich etwa eine Stunde hin. Ich schlafe sofort ein und werde genau eine Stunde später wach. Es geht mir sofort besser.
Als ich in die Küche gehe, gibt es schon Mittagessen. Eigentlich bin ich für Mittagessen noch gar nicht bereit, aber es gibt SPaghetti mit der Bolognese meines Vaters und wenn es so etwas wie die beste Bolognese der Welt gibt, dann ist es die Bolognese meines Vaters. Bolognese nennt man im Volksmund ja Ragú. Weiss nicht, warum das so ist. Ich habe noch nie Italienerinnen gehört, die Bolognese sagen, ausser in Restaurants. Oder wenn nicht Ragú, dann Sugo. Sugo für Pastasciutta.

Nach dem Essen gehen wir zu fünft auf die Laab Alm. Wir wollen ein Stück spazieren. Eigentlich Pilze suchen. Aber es gibt dieses Jahr wenige Pilze. Wir kommen etwas vom Weg ab und gelangen in ein sumpfiges Gebiet. Meine Schwester und ich setzen uns auf einen Baumstamm und bleiben längere Zeit sitzen. Wir reden über die Dinge.
Auch auf den weiden der Laam Alm gibt es Esel.

Zum Abendessen bin ich bei Irene und ihren wunderbaren zwei Töchtern in Leifers zum Essen eingeladen. Irene ist eine alte Freundin von früher. Seid Facebook haben wir wieder ein bisschen Kontakt und treffen uns ab und zu. Ich durfte mir das Essen wünschen, also wünschte ich mir Gemüserisotto. Es gab also Gemüserisotto, garniert mit Garnelen und dazu Rotwein.
Wir erzählen einander von den Dingen. Die ältere der beiden Töchter hat gerade Abitur bestanden und beginnt mit dem Studium, die andere ist demnächst dran und erzählt vom Sport. Wir reden über das Leben, über das Reisen, über Corona.

Ich bin u.a. da um ein Südtirol Carepaket für eine Freundin der jüngeren Tochter nach Berlin zu bringen. Eine Kiste Äpfel und eine Geschenkebox plus Unmengen Bioapfelsaft.
Auch ich bekomme eine Kiste Äpfel und eine Geschenkebox. Das ist wirklich lieb, auch wenn mein kleines Auto jetzt aussieht wie ein Obsttransporter.

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Am Donnerstagvormittag gingen meine Frau und ich auf eine kleine Wanderung. Eigentlich wollten wir zur Kirchsteiger Alm. Das hatte ich ausgesucht, weil wir am Brunnenplatz oft in ein Restaurant gehen, das auch Kirchsteiger heisst. Ja, simpel, ich weiss, aber man braucht halt immer eine Referenz für irgendwas.

Um zur Kirchsteiger Alm zu kommen fährt man am besten mit der Seilbahn auf Meran 2000. Als wir aber auf dem Parkplatz der Talstation ankamen und die Touristenmassen sahen, bekamen wir schlechte Laune.
Eine Alternative wäre, nach Hafling hinaufzufahren und da einfach mal schauen, was man machen kann. Zur Sicherheit rief ich meine Mutter an und sagte, dass wir lieber nach Hafling fahren, ob sie da eine schöne Wanderung kenne. Sie riet uns eine nette aber kurze Route zur Wurzer Alm. Direkt von HAfling aus zu erreichen. Anderthalb Stunden vielleicht.
Also taten wir das.

Am Anfang gefiel uns der Weg nicht so, Zu viel Jodel-Schick und Hängegeranien auf dem Weg, ich hasse das total, aber sobald wir das Dorf hinter uns liessen, wurde es besser. Das erste Stück war sehr steil, nach etwa einer halben Stunde, flachte der Waldweg etwas ab.

Gegen 2 Uhr waren wir wieder zurück in Meran. Ich schmiss mich ins Bett. Seit dem Ausflug auf das Weisshorn geht es mir gesundheitlich nicht besonders gut. Ich bin nicht wirklich erkältet, aber mein Immunsystem wurde ordentlich angerempelt. Meine Augen brennen, mein Kopf schmerzt, ich fühle mich schlapp.
Nach einer Stunde Schlaf stehe ich auf. Wir sind um halb fünf bei Freunden verabredet. Die Verabredung steht seit prä-Corona und enthielt ein Abendessen mit Trüffelpasta. Nun mussten wir zwei Jahre darauf warten.
Es wurde dann ein richtiger Trüffelabend. Truffelkäse mit einer Trüffelpaste und getrüffelte Butter. Danach die Trüffelpasta

[Freitag, 24.9.2021 – der letzte Tag]

Heute habe ich sehr lange geschlafen. Mit Absicht. Meinen Körper zur Ruhe bringen, da ich glaube, dass er gerade etwas austrägt. Ich wachte etwa alle 2 Stunden auf. Um 8:30 stand ich kurz auf, frühstückte, danach wurde ich sofort wieder müde und ich schlief wieder bis halb 12.

Danach fühlte ich mich wesentlich besser.

Um ein Uhr war ich bei meinen Schwiegereltern zum Essen eingeladen. Danach ging ich zu meiner Schwester und blieb dort den ganzen Abend. Der letzte Tag ist immer etwas komisch. Wir plauderten, tranken was, die Kinder werden mich im Frühjahr besuchen kommen, das erste mal alleine, zumindest die beiden Jungs. Wir werden zu Hertha ins Stadion gehen und wir werden viele Dinge unternehmen. Wir freuen uns.
Von meiner kleinen Schwester konnte ich mich leider nicht mehr richtig verabschieden. Sie hatte Dienst im Krankenhaus. Wir verabschiedeten uns per Videocall. Es war irgendwie ungut. Hat mich total traurig gemacht.

Nun.

[Samstag, 25.9.2021 -Rückfahrt, Niederlage gg Leipzig]

Wir fahren kurz nach 8 Uhr los, zurück nach Berlin. Diesmal alles am Stück. Es scheint, als wäre ganz Deutschland auf den Autobahnen unterwegs, ab Kufstein gibt es Stau und zähfließenden Verkehr bis fast nach Leipzig. Wir brauchen ziemlich genau 12 Stunden und haben dabei eigentlich keine Pausen gemacht, nur zwei kurze Halts um den Tank zu füllen und die Blase zu leeren. Ohne Stopps, betrüge die Fahrt eher um die 8 Stunden.

Meine Frau hat uns phantastische Brötchen für die Fahrt zubereitet. Außerdem hat sie plötzlich Kaminwurzen aus dem Hut gezaubert. Landschaften vorbeiziehen sehen und dabei auf Kaminwurzen herumzukauen, da fühle ich mich mit dem Universum verbunden.

So etwas ähnliches hatte ich vor vier Jahren schon einmal geschrieben.

Um 15:30 tunen wir mit der Sportschau App auf den Audiostream des Spieles von Hertha gegen Leipzig ein. Das Hinhören funktioniert tatsächlich gut, wie sich im Laufe der Zeit ein Spiel im eigenen Kopf verbildlicht.
Dieses innere Bild wird mit Voranschreiten dieses Spieles allerdings sehr düster. Nach dem ersten Gegentor ertrage ich die Jubelarien noch, nach dem zweiten Tor drehe ich den Lautstärkeregler für zehn Sekunden aus. Nach dem dritten Tor auch. Auch nach dem Vierten. Und nach dem Fünften, sowie dem Sechsten. Fast hätte ich ein siebtes Mal den Regler stummschalten müssen.

Beim Schlusspfiff schalte ich aus.

Gegen acht Uhr kommen wir zuhause an. Es gibt keine freien Parkplätze, aber wir haben Unmengen an Gepäck dabei. Was mir sofort ins Auge fällt: der Unioner hat wieder meine Herthasticker abgenommen. Ich bringe sofort wieder meine Sticker an. So ist das nämlich.

Am Vorabend habe ich meinen Kotflügel teilweise abgerissen. Weil ich ein kleines Mäuerchen gestreift habe. Der Kotflügel hing dadurch. Aber weil mir so etwas auf der Hinterseite schon einmal passiert ist, hatte ich damals starkes Panzertape gekauft, das immer noch im Auto liegt. Vor der Abfahrt half mir meine Mutter, den Kotflügel zurechtzurücken und ihn mit Panzertape zu befestigen.
Ich hasse Probleme mit dem Auto. Mit ziemlich allen Problemen komme ich eher gut zurecht, aber die Lösung von Autoproblemen sorgen bei mir für akuten Hass. Probleme, die ich nicht als meine akzeptieren will. Dementsprechend nachslässig bin ich damit auch.
Ich überlege mir immer wieder das Auto abzuschaffen. Ich brauche das Auto eigentlich nur zwei Mal im Jahr. Einmal, wenn ich im Sommer nach Schweden fahre (ich liebeliebeliebe diese Autoreise alleine) und einmal im Jahr wenn ich nach Südtirol fahre. Jetzt wird das Auto wieder relativ ungenutzt bis in den Sommer herumstehen. Für diese Nutzung kann ich auch ein Auto mieten.
Aber noch mehr als mich um ein Auto zu kümmern, hasse ich es, ein Auto zu verkaufen.

[Sonntag, 269.2021 – Wahlsonntag]

Sonntag. Es ist ein sehr langsamer Tag. Gestern Abend wackelte mein Gleichgewicht noch lange nach, wegen dieser ewigen Autofahrt. Heute ging es besser.

Es dauerte heute lange in den Tag hinein, bis ich mir etwas halbwegs kleidungsmäßiges anzog. Ich liebe diese langsamen Tage nach dem Urlaub, wir frühstücken sehr spät, schauen Cecilia und Böhmermann auf Youtube. Irgendwann geht es mit dem Wahlprogramm los.
Dafür, dass wir beide nicht in Deutschland wählen dürfen, beschäftigen wir uns doch sehr mit den Wahlen.

Ich habe nur ein Mal in meinem Leben gewählt. Da war ich 18 Jahre alt und wählte Rifondazione Communista. Heute würde ich die absolut nicht mehr wählen. Damals aber eben schon. Im Gemeindeblatt meines Dorfes konnte man sehen, wie viele Stimmen alle Parteien bekommen hatten. Meine beste Freundin setzte ihr Kreuz auch bei Rifondazione Communista. Im Gemeindeblatt sahen wir, dass drei Stimmen für diese Partei abgegeben wurden. Wir dachten wir wären die einzigen gewesen, aber nun hatten wir einen geheimen Verbündeten unter den 2000 Wahlberechtigten. Das war irre.

Ein Jahr später zog ich in die Niederlande und wohnte dann nie mehr in Italien. Und so wählte ich auch nie wieder. Natürlich hätte ich Wahlunterlagen anfordern können, aber zum Einen wollte ich nicht, dass der italienische Staat weiss, wo ich wohne und zum anderen verfolgte ich nicht die italienische Politik. Wenn ich mich dann doch einmal mit der italienischen Politik beschäftigte, verstand ich schlichtweg nicht, was da geschah. So liess ich es sein.

[Montag, 27.9.2021 – Kusine und Besuch]

Der erste Tag zurück im Büro. Ich meiner Abwesenheit wurden die Lücken in meinem Kalender gefüllt. Sieht sonst so ungepflegt aus.

Dennoch: bin gerne wieder zurück. Ich erzähle allen von meinem Bergaufstieg vor Tagesanbruch. Alle verstehen meine Euphorie.

Am Abend bin ich mit meiner Kusine verabredet. Sie ist zum Marathon nach Berlin gekommen und hat den Lauf in unter vier Stunden geschafft. Unsere Verabredung steht schon seit Monaten, es stand auch bereits fest, dass ich ihr ein wenig die Stadt zeige.
Sie ist mit drei Männern in Berlin. Sie sagte im Voraus, dass sie mit mir angegeben habe, ich stünde aber natürlich nicht unter Leistungsdruck. Natürlich nicht.

Sie wollte die Insiderdinger kennenlernen. Das sogenannte echte Berlin. Dass ich mit ihr nicht nach Marzahn gehen würde, war klar, dass es Berlinklischees zu erfüllen hatte, auch. Wir treffen uns am Holzmarkt25. Neben der Klischeehaftigkeit des H25 muss ich aber gestehen, dass ich die Lage an der Spree zwischen den angemalten Buden und Sand und Hipstern wirklich sehr schön finde. Auch weiss ich, dass unbedarfte Berlintouristinnen das mögen. Wer Berlin ernst nimmt, geht da natürlich nicht hin. Ich verabscheue Leute, die die Dinge zu ernst nehmen. Ausser es geht um die richtige Aussprache von holländischen Fussballspielernamen, da hört der Spass auf.

Danach spazieren wir die Eastside Gallery hinunter. Bis zur Oberbaumbrücke. Ich erkläre die Mauer, ich erkläre die Grenze, ich erkläre die Veränderungen, Mediaspree, Zalando-city, F’Hain, ich beantworte Fragen.
Das Ding ist: ich weiss alles über Berlin. Wirklich alles. Jeden historischen Furz seit der Märzrevolution und jeden zweiten historischen Furz über die Zeit davor. Ich weiss, wo früher die Strassen verliefen, wie sich die Gegenden entwickelten, warum die Strassen so heissen, wie sie heissen, welche Architektin welches Gebäude gebaut hat, wer die Mitkonkurrentinnen bei der Ausschreibung waren. Undsoweiter.
Sollte ich einmal keine Freunde mehr haben, dann verwandle ich mich einfach in einen Dokumentarfilm.

Die Instagrammibilität der Oberbaumbrücke, wenn die gelben Bahnen darüber knattern. Danach Warschauer Strasse hinauf zum RAW Gelände. Meine Besucherinnen fragen sich, ob eine Fetischparty stattfände. Sie hätten davon im Fernsehen gehört. Alles sähe hier nach Fetischparty aus. Ganz Berlin sieht irgendwie nach Fetischparty aus.

Nach einem Rundgang durch den Friedrichshainer Südkiez, setzen wir uns in ein levantinisches Restaurant am Boxhagenerplatz. Dort essen wir und trinken.
Sie kommen alle aus dem Dorf meines Vaters, aber ich kenne nur einen von ihnen flüchtig. Er ist vom Jahrgang meiner Schwester. Ich habe nur drei Jahre in jenem Dorf gewohnt und fand nie wirklich Anschluss. Ich war in einem anderen Dorf aufgewachsen und da mit langen, fettigen Haaren und Heavy Metal Tshirts hingezogen. Zugegebenermaßen war ich damals stolz darauf, keinen Anschluss zu finden.

Dennoch haben wir einen unterhaltsamen Abend. Uns ist allen bewusst, wie anders jenes Dorf vor 30 Jahren war, wie krass die Carabinieri drauf waren und wie viel Einfluss die Kirchengemeinde und die Bauern hatten. Das ist schon sehr anders.