[Montag, 20.12.2021 – Tätowiererin, mein Vater]

Neulich schrieb ich eine Tätowiererin an, deren Entwürfe von Tieren mir auf Insta gut gefallen haben. Meine neue Tätowierung wird ein ganz bestimmtes Tier und ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie die neue Tätowierung nicht sein soll, und deswegen klicke ich mich schon seit Monaten durch Galerien von verschiedenen Studios und blieb immer etwas unzufrieden.
Dann stiess ich auf diese Tätowiererin. Sie hat einen sehr eigenen Stil, sie zeichnet sehr ungenau, mit groben Linien, aber dazwischen mit vielen Details. Die Entwürfe wirken wie grobe Skizzen, bei denen man den Eindruck bekommt, die Künstlerin habe mitten im Entwurf die Lust daran verloren. Das sieht grossartig aus.

Ich schrieb ihr, was ich mir ungefähr vorstellte, schickte ihr Links von zweien ihrer Entwürfe, mit dem Hinweis, dass ich mir etwas in dieser Richtung vorstellte. Das Tattoo sollte 10cm gross sein.

Heute antwortete sie, zehn Zentimeter sei ihr zu klein, sie wolle den ganzen Arm. Ich schrieb freundlich, mit Danke und so, ich hätte es aber lieber nur zehn Zentimeter groß, sie sagte, nein, das ginge nicht, ihr Tattoo brauche Raum.

Selbstverwirklicher. Uff. Die mochte ich noch nie. Es beginnt jetzt wieder eine lange Suche.

#

Am Abend „The Father“ geschaut. Dieser Film mit Olivia Coleman und Anthony Hopkins. Anthony Hopkins in der Rolle des an Demenz erkrankten Vaters. In weiten Teilen aus der Wahrnehmung des zunehmend kränker und verwirrter werdenden Vaters erzählt. Was für ein grossartiges Drehbuch. Was für ein zermürbender Film.

Als der Film zu Ende war, hatte ich ein Schuldgefühl gegenüber meinem Vater, also stand ich auf und rief ihn an. Wir telefonieren ungefähr vier Mal pro Jahr.
Mein Vater war aber gar nicht zermürbt, sondern äusserst gut gelaunt. Er hat eine neue Freundin und fährt als Rentner Hotelgäste vom Hotel zu den Liftanlagen. Er ist zweimal geimpft und geboostert.
Funfact: er war im Januar 2020 einer der ersten an Covid erkrankten Menschen. Er hatte nur leichtes Fieber und das Essen schmeckte fahler als sonst. Damals wusste man noch nicht, was los war. Erst zwei Wochen später brach in Bergamo das Unheil aus.

#
Meinem Neffen geht es gut. Die weiteren Checks im Krankenhaus ergaben, dass offenbar nur die Knochen und die Lunge betroffen sind. Er hat schon ein Croissant gegessen und wollte auch schon Youtube schauen. Reden ist aber noch etwas schwierig.

[Dienstag, 21.12.2021 – Wintersonne]

Wintersonne. Die Sonne war um 12:05 auf dem niedrigstmöglichen Höchststand. Eine Freundin war in der Gegend und wir gingen auf einen Kaffeespaziergang. Wir liefen am Potsdamer Platz in Richtung Süden, vor der Sonne hingen aber dichte Wolken. Schon seit einer Woche hängt diese Wolkendecke über den Tag. Das Licht zerstreut sich darin wie in einem Diffusor. Ich weiss noch, wie ich damals lernte, Diffusoren einzusetzen um beim Fotografieren Schattenwürfe zu verweichen. Mit diesen weissen, getrübten Scheiben davor verschwand die Härte aus den Gesichtern. Manchmal war das gut, manchmal war das schlecht. Heute liefen wir ganz schattenlos unter der Wintersonne.

Um 15:55 beginnt die lange Nacht.

#
Am Abend schauten wir eine Weihnachtsschmonzette. Ich traue es mich ja kaum zu sagen, aber weil wir hier unter uns sind: ich liebe Weihnachtsschmonzetten.

#
Die lange Nacht.

#
Max Richter. Sleep.
8 stündiges Konzert.

https://www.youtube.com/watch?v=Flv6MMzKD4E

[Mittwoch, 22.12.2021 – die letzten Tage, Wichteln]

Ich mag diese Tage vor Weihnachten sehr. Wenn das Büro sich leert, wenn sich die Kollegen in den Urlaub verabschieden, wenn die Lichter in den Büros gegenüber ausgehen, wenn die Wohnungen auf der anderen Strassenseite sich verdunkeln, jeden Tag ein neues Fenster, wie ein Adventskalender.

Ich kann mich an mein erstes Weihnachten alleine erinnern. Das war mein erstes Weihnachten in den Niederlanden. Da war ich neuzehn, ich wohnte in einem besetzten Schulgebäude. Die meisten Bewohnerinnen waren ihre Familien besuchen. Es blieben nur zwei weitere junge Männer zurück. Wir kochten uns etwas und redeten ein wenig. Mein Zimmer war ungeheizt, deswegen hielt ich mich in der Küche auf. Draussen war die Stadt regelrecht zugefroren. Ich saß auf dem Sofa, auf der Seite des Gasofens. Eigentlich wollte ich ein Buch lesen. Ich saß in jenen Wochen meistens auf der warmen Seite des Sofas und las ein Buch. Das Schulgebäude hatte große, einfach verglaste Fenster, die Wärme blieb nicht im Raum, die Wärme gab es nur direkt an der Quelle.

Einer der Bewohner schlug vor, in die Kneipe zu gehen. Also gingen wir durch die leere, gefrorene Stadt in die Kneipe. Dort saßen andere Menschen. Eine Art von Übriggebliebensein. Manche sicherlich nicht freiwillig. Manche schon. Ein bisschen wie in einem Raumschiff sitzen und draussen die große, kalte Leere, wir sind da, in diesem Kontinuum, eher ein Zustand, entkoppelt.

#
Heute Abend wichtelten wir. Auch das ist so eine Sache. Ich werde da total kindisch. Bis zum letzten Jahr kannte ich Wichteln nur theoretisch. Meine deutschen Freunde erzählten mir immer, das sei ein oller deutscher Brauch, muss man nicht machen, muss man nicht kennen.
Bis jemand in meinem Fanclub letztes Jahr eine Wichtelveranstaltung organisierte. Unbekannten Menschen etwas schenken und von unbekannten Menschen etwas geschenkt bekommen. Irre. Schon allein vom Gedanken daran werde ich aufgeregt.

Letztes Jahr war leicht, ich bekam einen Podcaster eines Hertha-Podcasts zugelost und weil sie in dem Podcast ständig Bier trinken und das Bier auch kommentieren, stellte ich, der Biersnob, eine persönlich kuratierte berliner Bierselektion zusammen.

Dieses Jahr fiel mein Los auf ein sehr offensives und engagiertes SPD Mitglied. Und mit sehr offensiv und engagiert meine ich: seehr offensiv und engagiert.
Deshalb googelte ich nach Franziska Giffey, ging damit zu Rossmann, druckte es in Fotoqualität aus und kaufte einen passenden Rahmen. Dazu gab ich eine richtige Berliner Weisse (nicht die Kindl Weisse, Himmel) und schickte das Paket ab.

Heute war dann das online Geschenkeauspacken. Der von mir Bewichtelte war erfreut und schockiert gleichzeitig. Wobei ich ahne, dass der Schock überwog.

Ich selbst bekam eine Flasche selbstgemachtes Chili-Öl und eine Stange mit verschiedenen Salzen.

[Donnerstag, 23.12.2021 – Omikron, wischen, Fabelgewächs]

1800 Quadratmeter für mich alleine. Daran könnte ich mich durchaus gewöhnen. Gegen elf Uhr kommen dann doch noch zwei Kolleginnen ins Büro. Ist auch okay.

Für das neue Jahr muss ich noch sehen, wie ich das mit dem Aufenthalt im Büro durchziehe. Angesichts der aufkommenden Omikronwelle beginne ich eine leichte Abneigung gegen Kontakt zu Menschen zu verspüren. Über die Flure hinweg höre ich einen Kollegen aus der Ferne husten. Ich slacke ihn an, er soll doch bitte nach Hause gehen, dsa höre sich nicht gut an. Er schreibt mir zurück, es sei nur sein Asthma. Er ist wahrscheinlich auch so einer, der einfach gerne im Büro ist.

Es ist kein produktiver Tag, ich beschliesse, dass es ein kurzer Tag für mich sein wird und fahre nach Hause. Eigentlich wollte ich shoppen. Ich brauche ein neues Hemd und auch eine neue Hose, ich habe aber keine Lust auf einen Umweg, also fahre ich direkt nach Hause. Ich wollte noch den Boden wischen. Morgen ist Heiligabend. Heiligabend ist vermutlich schöner, wenn man einen sauber gewischten Boden hat.

-> edit. Ein gewischter Boden erhöht sogar die Vorfreude.

Heute ist auch die neue Lichterkette gekommen. Und ich habe Misteln gekauft. Misteln. Ich bin ja nicht esoterisch, bei solchen Fabelgewächsen springt immer so ein innerer Zwerg hinter den sieben Bergen aus mit hervor und bestäubt mich mit Pilzestaub.
Meine Frau dekoriert den Esstisch. Wir dekorieren nur sehr selten, eigentlich haben wir letztes Jahr das erste Mal den Esstisch dekoriert. Wir haben dann schon verstanden. Also verstanden, dass ein dekorierter Weihnachtstisch etwas macht, also etwas mit der Stimmung macht, eine gewisse Festlichkeit. Ich beschliesse die Lichterkette zwischen die Deko zu drapieren. Es sieht eigentlich gut aus. Wenn wir morgen Abend dann feierlich am Tisch etwas essen, müssen wir allerdings zuerst den ganzen Kram beiseiteschieben, so kann man ja nicht essen.

Dann telefoniere ich per Video mit dem verunfallten Neffen. Er wird morgen wahrscheinlich aus dem Krankenhaus entlassen, damit er mit den Geschwistern und den anderen Weihnachten feiern kann. Vor allem die kleine Schwester konnte sich ein Weihnachten ohne ihren Bruder nicht vorstellen und war regelrecht enttäuscht.

[Freitag, 24.12.2021 – silent night]

Es ist Heiligabend. Wir blieben heute lange im Bett. Zum Frühstück assen wir dann Dinkelvollkornbrot mit Räucherlachs. Oder Lax, wie man das auf schwedisch schreibt. Zum Lax schauten wir eine Weihnachtsschmonzette. Heute bin ich draufgekommen, dass meine Frau nur wegen mir Weihnachtsschmonzetten schaut. Ich dachte, wir mögen das beide. Das hat mich eine ganze Weile beschäftigt.

Nach dem Film spazierten wir im Regen einmal die Warschauer runter. Bis zur Arena, Mercedes Benz oder O2, ich weiss nicht, wie sie gerade heisst, die Arena jedenfalls, in der Alba und die Eisbären spielen.

Es hingen viele Obdachlose herum. Für nächstes Jahr nehmen wir uns vor, Bargeld dabeizuhaben und dann laufen wir wieder die Warschauer hinunter und drücken jedem Obdachlosen den wir sehen 20 Euro in die Hand. Ja Weihnachten hin und her, ist vielleicht blöd, aber man kann das nicht jeden Tag machen, man muss sich einen Tag dafür aussuchen, es kannmeintwegen auch der 11. Dezember sein, aber so ist es halt der 24. Dezember, warum nicht.

Als wir wieder zuhause sind, ist es auch schon fast Beer o’clock.

Wir ziehen uns festlich an, öffnen Drinks, schälen Kartoffeln und heizen die Küche ein. Zwischendrin rufe ich meine Familie per Videochat an (hier sollten wir mal über ein vernünftiges Verb nachdenken).

Es gibt Köttbullar. Als wir drei Stunden später mit dem Kochen fertig sind, habe ich keinen richtigen Hunger mehr und bin betrunken. Ich liebe es.

[Samstag, 25.12.2021 – Musiker, Django Reinhard, Lichterkettenselfies]

Nach dem späten Frühstück gehen wir in den Park. Ein junger Mann spielt Jazzstücke auf einer Klarinette. Er wird instrumental über eine Bluetoothbox begleitet. Die Musik macht gute Laune. Meine Frau wirft etwas Geld in seinen Hut, dann stehen wir eine ganze Weile in dieser schönen Wintersonne und lauschen dem Musiker.
Es misst minus vier Grad. Er muss sich immer wieder die Hände wärmen.

#
Meine Frau fragt mich um eine Herausforderung. Sie möchte, dass ich mir Wissen über Django Reinhard aneigne und darüber schreibe. Ihretwegen auch im Blog. Sie möchte sehen, wie ich mich dem Thema nähere und was das mit mir macht. Der Plan ist, dies mindestens in 5 Abschnitten zu tun und maximal in zehn. Mit Abschnitten sind seine Lebensabschnitte gemeint, aber auch Einträge hier im Blog, in denen ich mich diesen Abschnitten widme.

Seit diesen 13 Jahren in denen wir uns kennen, sprach sie immer wieder mal von Django Reinhard. Da sie viele Jahre in Wien lebte, hatte ich unbewusst wohl immer diesen österreichischen Sänger Rainhard Fendrich vor Augen. Wenn jemand zusätzlich noch „Django“ in seinem Namen trägt, dann biegt mein Interesse wohl schnell in eine andere Richtung ab.

Aber es ist ihr ernst. Ich ahne, dass ich mit Austropop und Vulgarität auf einem sehr falschen Pfad bin und es sich in Wirklichkeit um eine spannende Person handelt, sonst würde sie das nicht von mir wollen. Ich traue mich noch nicht zu googlen. Wo der her kam, ob er noch lebt, was er gemacht hat und je länger ich damit warte, desto mehr komme ich mir wie ein Kulturbanause vor. Ich verdränge es für heute. Ab morgen werde ich mir vermutlich einen Überblick verschaffen.

#
Den ersten Weihnachtstag habe ich nie verstanden. Aber auch den zweiten Weihnachtstag. SIe haben immer diese leere Ausgehöltheit wie Ostern. Ich weiss nicht genau, was ich feiere. In der Tradition meiner Familie spitzt sich immer alles auf den 24. Abends zu. Lichter, Essen, Trinken, Geschenke, Patzbumm, Bett. Ab dem 25.12. beginnt das lange Abräumen.

#
Als es dunkel wird, machen wir alberne Fotos. Wir hängen uns die Lichterketten um und schiessen Selfies. Wenn man die LEDs zwischen den Zähnen hält, leuchten die Zähne rot. Wir haben einen Riesenspass. Beim Anschauen der Bilder merke ich: ich habe ein neues Profilbild für Insta.

Danach kochen wir Fiskgratäng. Fischgratin.

[Sonntag, 26.12.2021 – boxingday, keine guten Filme, Lasagna]

Am Morgen. Berlin -8 Grad Celsius; Longyearbyen -6 Grad Celsius.

#
In England nennt man den 26. Dezember Boxing Day. Der Tag an dem man die Geschenke der Firma auspackt. Und auch der Tag an dem es ungewöhnlich viele Sportveranstaltungen gibt, u.a. Fussball, aber auch Sachen mit Pferden usw.
In England geht die Reihenfolge so: am Weihnachtsabend isst und betrinkt man sich, am 25. gibt es Geschenke und am 26. ist Boxingday. Ich weiss nicht, ob das besser ist. In meinem Kulturkreis fühlt sich der 26. wie ein Ostermontag an. Man hat halt frei. Und die Läden haben zu. Man sollte eigentlich verreisen, aber man schläft einfach lange.

#
Wir schlafen lange. Am späten Vormittag stehen wir auf und schauen einen Horrorfilm. „The Banishing“. Eine Frau mit ihrer unehelichen Tochter heiratet einen Priester und sie ziehen in ein altes Haus in dem es spukt. Etwa zur Hälfte des Filmes merken wir, dass der Film großer Käse ist. Zwar schön gemachter Käse, aber eben Käse. Eine sehr belanglos erzählte Geschichte. Dann schalten wir einen Weihnachtsfilm namens, ähm, Namen vergessen und jetzt unauffindbar. Der Film handelt von einer Familienfeier zu Weihnachten, mit ziemlich stereotypisch und unglaubwürdig angelegten Schwestern, die natürlich verstritten sind. Nach einer Stunde spiele ich Ball Sort Puzzle Game und meine Frau liest Nachrichten. Auch dieser Film funktioniert nicht.

Danach recherchiere ich Django Reinhardt. Und mache mir Notizen dazu.
Später zoomen wir mit meinen Schwiegereltern. Dann kochen wir Lasagna. Wie meistens, ohne Fleisch, aber dafür mit sehr viel Parmesankäse in der Bechamel.

Nach der Lasagna bin ich voll und ich nehme mir vor, die nächsten Tage nichts Großes mehr zu essen. Für die nächsten Tage wurden uns zwei Verabredungen abgesagt, daher haben wir erst zu Silvester wieder Programm. Eigentlich eine willkommene Entfettung. So sage ich mir das jedenfalls heute.

[Montag, 27.12.2021 – aus der Hibernation, unterer Rücken]

Es ist wieder Montag. Wenn die Geschäfte nach Feiertagen wieder öffnen, fühlt es sich für mich immer an, wie das Erwachen aus einer zivilisatorischen Hibernation. Eigentlich wollte ich in den Supermarkt um, nunja, um einkaufen zu gehen. Es fiel mir aber auf, dass wir alles im Haus haben, was wir brauchen.

Wir sind dann runter zur Spree und in die Mediaspree City hineingelaufen. Mir fällt das Laufen derzeit schwer. Seit einigen Monaten habe ich immer wieder einen schmerzenden, unteren Rücken. Es ist kein wirklich lähmender oder terrorisierender Schmerz. Es schmerzt nur sehr. Aber wiederum nicht dermassen, dass ich mich vor Schmerzen biegen würde. Wenn ich mich kurz irgendwo anlehne und einen Katzenbuckel mache, dann schafft das kurzzeitig Linderung. Es gibt Phasen, in denen der Schmerz so stark ist, dass ich nicht gerne längere Spaziergänge unternehme. Momentan ist wieder eine dieser Phasen. Wenn wir uns mal einen Hund zulegen, dachte ich, mit dem Hund ins Büro zu spazieren. Das ist ein etwa einstündiger Spaziergang. Zwei mal pro Tag. Mit diesen Schmerzen wird das nicht gehen. Und sofort merke ich: Himmel, das ist jetzt Teil meines Lebens, Spaziergänge anhand meiner Schmerztoleranz zu planen. Gleich wie ich mich mitterweile oft mit meinen Gesprächspartnerinnen umsetze, wenn der Nacken zu steif wird, während man da so am Tisch sitzt.
Es wird nicht besser werden. Ich bin jetzt 46, ich habe vermutlich die Hälfte des Lebens überschritten. Mit etwas Glück könnten aber schon noch einmal 40 Jahre draufkommen. In meiner Familie starben die Menschen immer mit Mitte achtzig. Der Gedanke daran, dass ich jetzt einmal fast meine ganze bisherige Lebenszeit mit Rücken- und Nackenschmerzen verbringen muss, ist nur so halb schön, die bisherigen sechsundvierzig Jahren waren nämlich sehr lang.

Sport und Bewegung, ja, schon klar, das Muskelkorsett stärken. Mache ich.

Heute habe ich tatsächlich kaum etwas gegessen. Mein Metabolismus verbrennt noch den halbvollen Tank der letzten drei Tage.

[Dienstag, 28.12.2021 – Wie wenig ich so über Sintis weiss, Lidl und Aldi Luxusstores]

Heute war ein ereignisloser Urlaubstag. Ich arbeitete an den langen Hausbesetzertext. An manchen Tagen fällt es mir aber sehr schwer einen alten Text aufzupimpen. Heute war so ein Tag.

Ausserdem habe ich mich natürlich mit meinem Projekt Django Reinhardt beschäftigt. Aber noch nicht vollumfänglich. Django Reinhardt war Sinti. Das wusste ich nicht. Aus Angst, irgendeinen Scheiss zu schreiben, habe ich angefangen über Sinti und Roma zu lesen. Eine Stunde später hatte ich zwei Dutzend Wikipediatabs offen. Was ich über diese beiden Volksgruppen so alles nicht weiss. Irre.

#
Aldi und Lidl haben ja beide angefangen so eine Art Luxusstores zu eröffnen. Der erste, den ich in dieser Form gesehen habe, war der Lidl an der Leipziger Strasse. Der sieht so edel aus, dass wir ihn Ledel nannten. Ist nur halb witzig, aber dennoch.

Aldi hat nachgezogen, mit einem solchen Store an der Storkower. Jetzt fällt es uns schwer einen adäquaten Namen dafür zu finden. Aldi und Adlig liegt irgendwie auf der Hand, aber ausgesprochen klingt Adli sehr fremd. Vielleicht müssen wir uns aber nur daran gewöhnen.

#
An der Supermarktkasse, wenn man sagt, man zahle mit Karte. Dieser „Achso“-Moment des Kassenpersonals. Und dann erst wird die Taste für das Kartenlesegerät aktiviert.
Geht das nur mir so? Weil ich vielleicht die Karte anders vorzeige, als andere Menschen? Ist das in anderen Ländern auch so? Muss ich mal checken.

[Mittwoch, 29.12.2021 – Rheinsberg]

Vor 12 Jahren zogen wir als frischverliebtes Paar ziemlich schnell zusammen in die Rheinsberger Strasse, in Mitte. Bald kamen wir drauf, dass die Strasse nach eine kleinen Kurort in der Ostprignitz benannt war. Noch besser allerdings war, dass Kurt Tucholsky eine Liebesnovelle in Rheinsberg angesiedelt hat und sie deswegen nach dem Ort benannte. Meine Frau kaufte das kleine Buch und wir lasen einander daraus vor. Die Geschichte des frischverliebten Paares Claire und Wolfgang, wie sie für ein paar Tage nach Rheinsberg fahren.
Damals entstand die Idee, einmal gemeinsam nach Rheinsberg zu besuchen. 12 Jahre später war es nun so weit.

Es war eine spontane Idee, die uns gestern Abend einfiel. Rheinsberg. Wir verwenden immer noch Redewendungen aus dem Buch. Heute früh recherchierte ich, was man in Rheinsberg machen kann. Was als erstes auffällt: in Rheinsberg ist die AfD nicht politisch vertreten, was wir als riesigen Pluspunkt vermerken.
Der ganze Ort dreht sich irgendwie um dieses Schloss, von dem auch Tucholsky schrieb. Wir würden also einfach das Schloss anfahren und sehen, was passiert.

Im Wikipedia Artikel werden auch zwei Wüstungen genannt. Wüstungen. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Die eine Wüstung ist eine Siedlung im Wald nordöstlich von Rheinsberg, die um einen Teerofen herum gebaut wurde. Die Siedlung wurde 1860 aufgegeben. Und der andere Ort ist eine slawische Siedlung etwas nördlich am See. Dieser Ort ist seit etwa 1300 unbewohnt. Und, nunja, gewüstet. Ich verliere mich auf Karten. Satellitenbilder der Gegend und Beschreibungen. Die slawische Siedlung kann ich nicht ausfinding machen, aber von der Teerofensiedlung gibt es altes Kartenmaterial aus der Kaiserzeit. Ich kann den Ort ziemlich genau auf Googlemaps verorten. Dummerweise gibt es da keine Strassen mehr. Es würde schwierig sein dort hinzukommen. Es gibt einen abgelegenen Waldweg, den man über einen Bahndamm erreicht, ich konnte allerdings nicht herausfinden, wie weit ich mit dem Auto kommen würde bzw wo ich das Auto hätte stehen lassen können. Auf den Satellitenbilder sieht man einige Dächer zwischen den Bäumen, bevor ich aber mit einem berliner Kennzeichen durch diese Wälder voller langobardischer Sumpfbewohner irre, wollte ich mir ein bisschen mehr Zeit und Vorbereitung geben.

Um es vorweg zu sagen: wir haben die Wüstungen nicht besucht. Ich muss aber zugeben, dass mich das Thema ungemein in den Bann gezogen hat.

Wir fuhren dann nach Rheinsberg. Es war ein sehr düsterer und wolkenverhangener Tag. Anfangs wollten wir aufgrund des eher mauen Wetters die ganze Unternehmung abblasen, aber dann entschieden wir uns trotzdem dafür. Und das erwies sich genau richtig. Über dem Schloss und dem zugefrorenen See hing dichter Nebel. Der dahinterliegende Garten, ging in einen hellgrauen, schattenlosen Winterwald über, man merkte es kaum. Wäre es ein sonniger Tag gewesen, wäre es einfach ein austauschbarer Besuch eines beliegigen, schönen Kurörtchens gewesen. Mit Eis leckenden Kindern und Touristenbussen. So aber wurde es ein langer Spaziergang durch eine irreale Welt.