Ich habe nicht oft davon erzählt, dass ich dreisprachig aufgewachsen bin. Neben Deutsch und Italienisch sprach ich auch fließend Ladinisch. Das ist die dritte Sprache in Südtirol. Es ist eine der drei rätoromanischen Sprachen, die vor etwa 1500 Jahren aus dem sogenannten Vulgärlatein in den Alpenregionen entstanden ist. Im späteren Verlauf des Mittelalters wurde das Rätoromanisch von Französisch, Italienisch und auch Deutsch verdrängt. Bis auf einige wenige, geografisch isolierte Gegenden, wie Graubünden in der Schweiz oder die zentralen Dolomitentäler, wo sich die Sprache aufgrund der Abgeschiedenheit erhalten hat.
Als ich zwei Jahre alt war, zogen meine Eltern aus beruflichen Gründen ins Dolomitendorf Corvara und so wuchs ich ganz selbstverständlich ladinisch auf. Ladinisch war keineswegs meine dritte Sprache, sondern eher eine meiner ersten beiden. Mit meinen Eltern sprach ich Südtiroler Deutsch und mit meinen Freunden und allen anderen Ladinisch. Meine Schwester und ich entwickelten ein eigenes Idiom, das zwar auf Südtiroler Deutsch basierte, aber mit ladinischen Verben gespickt war. Italienisch war hingegen nur die dritte Sprache, die man aber immer auch mitlernte. Die Fächer wechselten sich jedes Jahr ab. Erdkunde war ein Jahr auf Italienisch, das nächste Jahr auf Deutsch, Geschichte immer im Gegensatz zu Erdkunde oder zB Mathematik, die jedes Jahr die Sprache wechselten. Dazu gab es natürlich auch immer noch die Fächer Ladinisch, Italienisch und Deutsch. Ende der Achtziger hat man große Anstrengungen unternommen, um das Ladinisch zu retten bzw es zu formalisieren. So entstand ein Wörterbuch und eine standardisierte Schreibweise, die versuchte, die vier verschiedenen ladinischen Dialekte zu vereinheitlichen. Mit Erfolg, glaube ich, und mittlerweile wird auch Ladinisch in die Rotation der Unterrichtsfächer mit reingeworfen.
Warum ich das erzähle? Heute hatte ich das erste Jahrgangstreffen in meinem Leben. Weil ich eine so geringe schulische Bildung habe, gab es für mich schlichtweg noch nie die Möglichkeit, an irgendwelchen Abschlusstreffen teilzunehmen, und weil ich mit 15 Jahren aus Corvara wegzog, dann drei oder vier Jahre im Heimatdorf meines Vaters wohnte, um mich danach in den Niederlanden aufzulösen, verlor ich erstmal den Kontakt zu meinen Freunden aus Kindheitstagen, und irgendwann fühlten sich Freunde aus Kindheitstagen auch nicht mehr besonders wichtig an.
Ende der Nullerjahre kam allerdings Facebook auf und in den darauffolgenden Jahren begegnete ich einigen dieser früheren Freunde wieder und es entstand sporadischer Kontakt. Meine Familie wohnt jetzt aber mehr als zwei Stunden (Bergstraßen!) von Corvara entfernt und so komme ich kaum noch dazu, meine frühere Heimat zu besuchen. Zweimal war ich in den letzten 35 Jahren da und es war jedes Mal sehr schön. Meine Schwester und ich nehmen uns immer wieder vor, für ein paar Tage hinzufahren. Aber es kam noch nie dazu.
Nun schrieb mich im Sommer mein alter Schul- und heutiger Facebookfreund Pepi an, dass sie diesen Oktober ein Jahrgangstreffen planen und er sich freuen würde, wenn ich käme. Ich sagte sofort und ohne zu zögern zu. Große Freude auch meinerseits. Und heute war dann dieser Oktobertag. Zugegebenermaßen hatte ich ein bisschen Mitspracherecht bei der Planung der Lesung letzten Mittwoch und so konnte ich beide Termine kombinieren.
Letzte Nacht schlief ich vor Aufregung schlecht. Ich wusste, wie schlecht bzw. nicht existent mein Ladinisch mittlerweile geworden war. Zwar konnte ich noch sehr einfache Sätze bilden, aber um eine Konversation zu führen, fehlte mir schlichtweg das Vokabular. Interessanterweise verbesserte sich mein Sprachschatz im Viertelstundenrhythmus. Es reichte nicht aus, dass ich am Ende des Tages fehlerfrei und in vollständigen Sätzen sprach, dazu wurde ich auch wieder müde vom Tag und der Alkohol, den wir seit etwa 10 Uhr morgens tranken (es fing mit einer Weinverkostung an!), tat natürlich sein Übriges. Ich merkte allerdings auch, dass ich nach einer Woche in Corvara sicher wieder fließend sprechen würde. Ich exhumierte den ganzen Tag lang Wörter aus abgedunkelten Hirnarealen.
Es ist erschreckend, dass man eine Sprache, die man einmal fließend, muttersprachlich gesprochen hat, verlernen kann.
Es war jedenfalls ein wunderbarer Tag mit vielen lustigen Erinnerungen. Und alle diese Biografien, alle so unterschiedlich, so viele Geschichten. Vermutlich werde ich einiges davon in den nächsten Wochen oder Monaten aufarbeiten. Aber jetzt bin ich erstmal müde vom Tag.
