Es geistert oben. Ich will den neuen Mieter aber nicht einschüchtern. Vielleicht wird er es auch nie bemerken. Er kommt mir sehr jung und frisch vor und ist mit allem anderen beschäftigt als mit unheimlichen Geräuschen in seiner Wohnung. Deshalb wird er meistens Musik oder den Fernseher anhaben, wenn er zuhause ist, und wenn er sich schlafen legt, dann wird er das nie in aller Stille tun, sondern immer mit seinen weiblichen Neueroberungen oder genüsslich benebelt von den Getränken der Party. Aber in seiner Wohnung geistert es.
Vorher wohnte oben ein türkischer Alkoholiker mit seinem Sohn. Ein etwas verlorener Mann, der oft alleine anfing, zu brüllen. Aus dem Nichts. Wenn er oben am Fenster saß, mit der Bierflasche, und in die Leere guckte, führte er Gespräche mit sich selbst. Er schien immer zu schimpfen. Manchmal zertrümmerte er Gegenstände und dann schrie er eine halbe Stunde lang aus dem Fenster. Die paar Male, an denen ich ihn im Treppenhaus getroffen hatte, kam er mir eigentlich ganz normal vor. Er grüßte und ging wieder seinen Weg. An den ersten Tagen nach unserem Einzug streckte er mir seine Hand entgegen und meinte, falls es mal Probleme geben sollte, falls es etwas gäbe, sollten wir ihn doch direkt ansprechen, anstatt den Vermieter oder die Polizei zu rufen. Alles ließe sich klären. Natürlich nickte ich. Unter Nachbarn soll man immer erst versuchen, alles zu klären. Das gefiel mir. Vor allem wenn das ein türkischer älterer Mann mit zerfurchtem Gesicht sagte, der nach Alkohol roch.
Auch seinen Sohn kannte ich. Mit dem redete ich öfter. Ein junger Mann, höchstens 25, ein ambitionierter junger Boxer mit einem sehr aufdringlichen Tourette-Syndrom. Gleich warnte er mich mit seinem Arm um meiner Schulter, dass es oben bei ihm manchmal ein bisschen laut werden könnte, da sein Vater große Sorgen habe. „Sorgen, die ganz tief liegen“, sagte er mit todernstem Blick und legte dabei die rechte Faust auf sein Herz.
Mit der Zeit erfuhr ich, dass es da einen jahrzehntelangen Streit zwischen den beiden türkischen Familien da oben gab. Sie wohnten im selben Geschoss und waren miteinander verwandt, und irgendetwas war vor einigen Jahrzehnten passiert, das von dem Mann über mir nie richtig verarbeitet wurde. Ich erfuhr die Details nie wirklich, obwohl ich mich mit dem Sohn eigentlich ganz gut verstand und mich mehrmals mit ihm im Treppenhaus über alles Mögliche unterhielt. Dabei versuchte ich immer wieder, das Tuch über diesen geheimnisvollen Vorfall abzuziehen. Es gab eine Hochzeit vor ganz vielen Jahren, wo südländische Tragödien sich eben immer abspielen. Da war irgendwas geschehen. Vielleicht ein Mord? Vielleicht ging es um Betrug? Ich werde es wohl nie erfahren.
Der Mann wurde schon mal ganz in Blut überströmt vom Krankenwagen abgeholt. Ein Messerstreit vielleicht, oder ein Überfall. Der Mann hatte ein wirkliches Problem. Nachdem er oben die Tür des Verwandten eingetreten hatte und sehr handgreiflich geworden war, sodass die Polizei einschreiten musste, reichte es dem Verwandten und er zog mit seiner Frau aus dem Haus.
Etwa einen Monat später spürte er ein bedrückendes Gefühl in seiner Brust. Sein Sohn, der Boxer, schulterte ihn und zog ihn zur Notfallpraxis um die Ecke. Doch unterwegs hörte sein Herz auf, zu schlagen.
Dies geschah vor etwa einem halben Jahr. Der Sohn ist jetzt ausgezogen und die Wohnung kam zur Miete frei. Ich will dem neuen Mieter gar nicht erzählen, was da oben alles geschah. Er soll neue Frische ins Haus bringen und die Toten ruhen lassen.
Aber es geistert da oben. Der Neue ist noch gar nicht eingezogen. Er hat nur eine Mauer eingerissen und fängt gerade an zu renovieren. Jedoch läuft da oben nachts jemand herum. Wenn ich mitten in der Nacht erwache, höre ich Schritte. Drei, vier, dann bleibt er stehen. Dann wieder ein paar Schritte, und wieder Stillstand. Manchmal fällt etwas zu Boden. Mitten in der Nacht, an einem stinknormalen Wochentag. Es hört sich an wie ein Glas oder eine Flasche, die zersplittert. Ich warte immer auf aufgeregte Schritte, die sich in die Küche begeben, um ein Putztuch zu holen, damit der verschüttete Wein aufgewischt werden kann. Aber nichts geschieht. Nur das zersplitterte Glas und danach nichts.
Nein, ich werde ihm davon nichts erzählen. Wenn der Neue allerdings einmal danach fragen wird, dann werde ich ihm sagen, dass bei ihm ein junges Pärchen gewohnt hat, das ein Kind bekommen hat und nun in eine größere Wohnung in Altona gezogen ist.
Er soll neue Frische ins Haus bringen und die Toten soll man ruhen lassen.
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