Ich kränkelte heute mehr als gestern. Es ist so ein Kränkeln, das nicht richtig durchzubrechen vermag. Meine Frau hatte das letzte Woche, jetzt werde ich davon als Behausung benutzt. Morgens war ich beim Arbeitsamt. Das ist ein sehr deprimierender Ort mit vielen Menschen, die den Ort auch deprimierend finden.
Am Nachmittag hatte ich ein Bewerbungsgespräch. Ich lernte die Teamleiter meiner potenziellen Teams kennen. Es ist bereits die zweite Runde des Prozesses. Das Gespräch verlief vielversprechend, die Leute sind gut drauf und kompetent, wir hätten noch ewig weiterreden können. Für die Firma müsste ich alle paar Wochen in die Schweiz fahren. Das ist für mich aber kein Hindernis. Ich weiss, anfangs findet man Dienstreisen immer toll, aber in Wirklichkeit ist die Freude darauf nach dem zweiten Mal weg. Mich stört es dennoch nicht.
Was ist sonst noch passiert? Wegen der Lesung am 25.10. arbeitete ich an den Texten, die ich für den Abend aussuchte. Die Lesung handelt von, nunja, Fussball. Ich sollte explizit Tagebucheinträge verwenden, deswegen werde ich vornehmlich die Stadionbesuche vorlesen, diese müssen für eine Lesung aber deutlich aufgehübscht werden.
Gerade kränkle ich vor mich hin. Rachenweh, Schwäche. Ich schloss am Tage mehrmals die Augen und legte mich hin.
# Am 25. Oktober springe ich übrigens bei einer Lesung als Vorleser ein. Bei einem literarischen Abend des „Salon Schelf“ im ACUD an der Veteranenstrasse. Nähere Infos werden noch folgen.
# Und heute vor einem Jahr landete ich in Longyearbyen. Ich weiss nicht, ob ich das schon irgendwo geschrieben habe, aber das war die bedeutsamste aller meiner Reisen. Jene Reisenotizen sind jetzt kategorisiert und auch chronologisch in richtiger Reihenfolge sortiert.
# Dass ich tagsüber so viel ruhte, sollte auch dem Konzert am Abend dienen. Ich sparte die Energie für das Nick-Cave-Konzert auf. Anders als die Einstürzende Neubaten entfachte das Konzert eine neue kleine Begeisterung in mir. Während ich das viele Halleluja der letzten Jahre nicht so gut aushielt, merkte ich doch wieder, was für ein grossartiger Musiker er ist. Ursprünglich schrieb ich Meister der Finsternis, statt Musiker, aber das ist zu plakativ und klingt so, als würde man einen Teufel anbeten. Schliesslich ist ja eher das Gegenteil der Fall. Diese eigenartig hybride Gefühlswelt eines Meisters der Finsternis, der sich Gott und seinem Licht verschrieben hat. Eigentlich beachtlich.
Die neuen Songs kannte ich noch nicht gut genug, aber sie schlugen alle voll ein. Und was für eine Energie der mit 67 Jahren noch hat.
Manchmal wirkte die Show wie eine Predigt oder eine religiöse Zusammenkunft. Wie er segnend die Hand über die Menge hielt, die ihn in der ersten Reihe anhimmelte und die Hände hob, auf Wunsch nach Erlösung. Ich vermisste die Songs aus jener Ära, in der mir seine Musik viel bedeutete, also die Musik bis „Let Love In“, und mit etwas gutem Willen gefiel mir auch noch die Murder Ballads. Als er dann sagte, jetzt käme ein alter Song, freute ich mich ungemein. Als er aber präzisierte, der Song sei 20 Jahre alt, wusste ich jedoch, dass damit nicht jene Ära betraf, die ich meinte. „Let Love In“ ist aus 1994. Das war vor dreissig Jahren. Es ist viel Zeit vergangen.
Schön fand ich auch die Widmung an Anita Lane, die sich vor drei Jahren das Leben nahm.
Meine Cousine ist gerade in der Stadt. Sie läuft den Marathon und ist wieder mit ihrer Laufgruppe nach Berlin gereist. Die Männer aus ihrer Gruppe lernte ich bereits vor drei Jahren kennen und damals bloggte ich auch darüber. Soeben las ich jenen Blogeintrag noch einmal und merke, dass sich wenig an mir geändert hat. Und am Besuch auch nicht. Schon lustig, das.
Wir trafen uns im Neni am Bahnhof Zoo. Dieses levantinische Restaurant auf dem Dach des 25hrs Hotel beim Bikiniberlin. Es fühlt sich an, wie in einem Glashaus zu sitzen und dabei kann man wahlweise auf den Zoo hinab oder über die Dächer der Stadt hinaus schauen. Schon letztes Mal ging ich mit der Reisegruppe levantinisch essen. Deswegen werde ich natürlich gefragt, ob man in Berlin immer Hummus isst. In Italien gibt es kaum Restaurants aus dem östlichen Mittelmeer. In Italien isst man immer italienisch. Das hat Vorteile. Aber auch Nachteile. Allerdings gibt es natürlich obligatorische Sushirestaurants und ganz so eintönig ist die Restaurantlandschaft natürlich nicht. Auch Burger haben sich etabliert, falls man die Burgerkultur als einen Zugewinn der kulinarischen Kultur betrachten will.
Ich beantwortete wieder alle Fragen. Und wieder komme ich mir vor wie ein wandelnder Dokumentarfilm.
Danach spazierten wir durch den Tiergarten zu deren Hotel in Moabit. Die Hündin verhält sich sehr vorbildlich, sie hört gut auf mich, ist nett zu den Besucherinnen und ich sonne mich darin, weil sie alle gut über meine Hündin reden.
Zwischendrin schossen wir Fotos. Wir gingen sogar in die Gedächtniskirche. Also die mit den blauen Glasbausteinen, die moderne Eiermannkirche. Sie fanden die Kirche von innen schön. Aber auch ein bisschen düster. Anders düster als katholische Kirchen. Gruseliger.
# Am Sonntag ging ich zum Heimspiel gegen Elversberg. Es ist richtig kühl geworden. Der erste Tag, an dem ich wieder eine lange Hose anzog. Morgens im Park trug ich bereits jene Jacke, die ich am Nordkap trug. Im Stadion in der Sonne sass ich dann wieder im Tshirt. Es wurde ein deprimierender Nachmittag. Mein Team verlor 4:1 gegen eine Mannschaft aus der saarländischen Provinz. Auf der Gästetribüne sassen vereinzelte Menschen. Das ganze Dorf war in Berlin. Wenn Elversberg seine vier Tore schoss, verstummte augenblicklich das Stadion, weil die Jubelschreie der Gäste entweder nicht stattfanden oder der Schall sie nicht bis zu uns in die Kurve trug. Das war ein seltsames Erlebnis. Schreie -> Angriff -> Tor -> Bähm -> Verstummen. Wie wenn man das Noice Canceling in Kopfhörern aktiviert.
Es war der Laune nicht förderlich. Bis zum 3:0 hatte ich nur Cola getrunken. Danach griff ich aber zum Bier. Ich werde das Spiel als eines der zwei schlechten Saisonspiele abspeichern. Jede Saison hat ein Kontingent von zwei schlechten Spielen. Mindestens. Letzte Saison waren es mehr. Vorletzte auch. Die Saison davor auch. Die Saison vor jener Saison auch. Usw.
Nach dem Spiel traf ich einen Kanadier aus meinem Fanclub. Er stammt von den Ureinwohnern Kanadas ab, ist ein riesiger Mann mit Bart und ist germanophil sowie Herthafan. Er kommt einmal im Jahr nach Berlin um zu Hertha ins Stadion zu gehen. Verstanden habe ich diese ganze Kombi nicht. Aber nach den Gründen gefragt habe ich auch nicht. Er war in Begleitung seiner kanadischen Frau und eines kanadischen Freundes. Wir liessen den Nachmittag sehr unterhaltsam ausklingen. Am Abend war ich richtig kaputt. Vorher konnte ich meine Hündin bei der Hundesitterin abgeben. Auch die Hündin war müde von einem langen Ausflug. So gingen wir beide nach Hause und schnarchten.
Sonst ist heute nicht viel passiert. Gegen Mittag lief ich mit der Hündin zum Futterhaus und kaufte getrocknete Fischhaut für sie. Eigentlich muss ich mich ihrer Liebe nicht erschleichen. Sie liebt mich augenscheinlich so bedingungslos, dass ich ihr gegenüber ein richtiges Arschloch sein könnte und sie würde mich weiterhin lieben. Das finde ich richtig gruselig. Aber so sind Hunde. Andererseits glaube ich, dass sie denkt, ich sei ein Langweiler, weil ich den ganzen Tag vor einer leuchtenden Platte sitze und dabei meine Finger auf eine andere Platte hämmere. Während sie mich den ganzen Tag mit vorwurfsvollem Blick beobachtet.
Mit der Fischhaut erkaufe ich mir emotionale Distanz. Dann ist sie mit der Fischhaut beschäftigt und denkt nicht ständig, wie langweilig ich bin.
Abends bestellte ich Sushi und schaute WandaVision. Das war die meistgestreamte Serie in 2021 und ging komplett an mir vorüber. Am Wochenende schauten wir nämlich „Agatha all along“, weil dort Hexen vorkommen und wenn irgendwo weibliche Personen vorkommen, die sich schwarz kleiden, schaue ich grundsätzlich rein. Dann sahen wir, dass diese Serie ein Spin-off einer anderen Serie sei, nämlich WandaVision und diese die meistgestreamte Serie in 2021 war. Das hat uns sehr überrascht und auch neugierig gemacht, deswegen schauten wir jene Serie zuerst. Nur drei Folgen, weil meine Frau jetzt verreist ist. Die paar Folgen gefielen uns aber sehr. Deswegen schaute ich heimlich weiter. Als ich am Abend mit meiner Frau textete, verriet ich ihr, dass ich gerade WandaVision schaute, wohingehend sie entsetzt reagierte. SERIENCHEATING. Allerdings gab ich zu, nichts von der Geschichte mitbekommen zu haben, weil ich währenddessen auf dem Handy das Spiel mit dem Melonenplatzen spielte. Dabei erzielte ich einen neuen Rekord von über 11000 Punkten.
So. Die Novelle ist jetzt fertig. Ich musste den Text loslassen, sonst würde ich ewig daran weitermäkeln. Am Abend schickte ich die Fassung dem Lektor und damit ist diese Version in Stein gemeisselt. Nun weiss ich nicht, wie lange das genau dauert. Vermutlich ein paar Wochen. In der Zwischenzeit werde ich Zeichnungen anfertigen, die ich in den Text einbaue. Und ich muss mir Gedanken um ein Cover machen. Das Anfertigen eines Covers gehört nicht zu meinen Kernkompetenzen, vielleicht gebe ich das vertrauensvoll in die Hände von Profis.
# Am Nachmittag in dem offiziellen Hundeauslauf am Kosmos traf ich eine Frau, die Flugblätter eines vermissten Hundes aufhängte. Sie erzählte, dass der Hund einfach aus dem Büro ausgebüxt sei. Er wurde bereits an der Prenzlauer Allee gesichtet und später auch in der Storkower Strasse. Das muss der Horror sein. Für sie. Aber auch für den komplett verlassenen und orientierungslosen Hund. Später stellte sich heraus, dass sie gar nicht die Besitzerin des Hundes ist, sondern nur eine Freundin des Paares, zu dem der Hund eigentlich gehört. Die beiden waren in Spanien im Urlaub und hatten ihr das Tier zur Aufsicht überlassen. Noch mehr Horror. Für sie. Und für das urlaubende Paar. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie der Urlaub in Spanien sich jetzt anfühlt.
# Am Abend schaute ich fast die komplette konstituierende Sitzung des neuen Thüringer Landtags mit den frisch gemischten Karten und dem AfD-Alterspräsidenten. Man kann förmlich dabei zusehen, wie sich die freie Welt zersetzen wird, wenn man sich nicht entschieden dagegen stellt. Das sind finstere Leute, die in ihrem Machtrausch unbeirrbar voranschreiten. Gestern wurde immerhin verhindert, dass die AfD eine verurteilte Betrügerin zur Landtagspräsidentin gewählt bekommt. Ich fürchte leider auch, dass die anderen Parteien diesen Widerstand nicht 5 Jahre lang aufrecht halten können.
Während die Hündin heute mit der Hundesitterin unterwegs war, arbeitete ich den ganzen Tag an der Novelle und bin jetzt fast damit durch. Morgen werde ich die Arbeiten vermutlich abschliessen und den Text an den Lektor übergeben. Sobald die Novelle erscheint, werde ich nie wieder eine Zeile über Hausbesetzungen schreiben. Ich habe alles, was das Thema betrifft, in diese Geschichte gesteckt. Sie ist jetzt 128 Seiten lang.
Nun gilt es, mich zum Thema Selfpublishing aufzuschlauen. Dafür las ich am Abend sämtliche Seiten auf selfpublisherbibel.de. Das Thema ist aber dermassen komplex, dass ich die Infos nur langsam verarbeite. Es gibt das Amazon-Ökosystem und viele mittelgrosse, sowie kleine Platformen. Diese lassen sich nicht immer gut kombinieren, bzw man begibt sich dort auch in exklusive Abhängigkeiten, aber je mehr man auf Exklusivität setzt (z. B. bei Amazon), desto höher wird das Buch intern gerankt und man erreicht damit einen breiteren Leserinnenkreis. Und dann gibt es sogenannte Distributoren, da habe ich noch nicht ganz verstanden, was die tun und ob ich das nicht einfach selber übernehmen kann bzw. wie viel Arbeit das ist und ob ich das gerne mache. Prinzipiell würde ich gerne einmal das komplette Spektrum einer Ebook-Veröffentlichung durchspielen. Ich muss mich also noch aufschlauen. Dafür habe ich jetzt ein paar Wochen Zeit.
# Die Hündin stinkt heute furchtbar. Davor warnte mich die Hundesitterin bereits bei der Übergabe. Sie stinkt nach Scheisse. Das muss auch einmal erwähnt werden. Mit einer Hündin sinkt auch der Hygienestandard in beträchtlichem Masse. Ob die Liebe das kompensiert, weiss ich noch nicht. Sie findet es jedenfalls super, wenn sie stinkt.
Nicht, dass ich etwas Vernünftiges zum Wahlergebnis in Brandenburg zu sagen hätte.
Abends hätte ich einen Call mit VOLT-Leuten gehabt. Der Call war immer noch Teil des Onboardings. Ich mag es, wie ernst die Partei den Prozess des Onboardings nimmt. Es wirkt alles sehr strukturiert, man erhält Ansprechpartner, es gibt ein Organigramm, man wird wirklich an Bord geholt und dann liegt es an einem selbst, wie man es annimmt und wie aktiv man darin sein will. Neuerdings frage ich mich jedoch, ob die Voltpartei die richtige Partei ist, um den Rechtsrutsch und andere autoritäre Parteien zu entzaubern oder zu entlarven. Ich bezweifle es. Aber andere Parteien kommen für mich nicht infrage. Ich sagte den Termin jedoch ab. Der Call findet jeden letzten Dienstag im Monat statt, ich kann ihn also nachholen.
Es war mir wichtig, an der Novelle weiterzuarbeiten. Die Arbeit an diesem Text stellt sich anstrengender dar, als ich ursprünglich dachte. Es fühlt sich an, als würde ich den gesamten Text neu schreiben. Weil ich den Text nun an sein Ende bringen will, beschloss ich, mich weiterhin darauf zu fokussieren. Ich fände es gut, wenn ich ihn zum Sonntag abschliessen kann. Am Wochenende ist schliesslich wieder Fussball, zudem ist meine Cousine in der Stadt, die will ich auch noch treffen.
1) „Wollie Nadeln“. Ich hätte fast meine Hündin getötet. Ich kaufte wegen der Hochzeit ja ein neues Hemd. Oft sind neue Hemden mit Stecknadeln fixiert, um sie schöner zu präsentieren. Es ist eigentlich ein unsäglicher Brauch. Manche Marken sind auf Plastikclips umgestiegen. Die Marke, die ich kaufte, allerdings nicht. Ich weiss nie wo hin mit den Nadeln. Also gab ich sie vorübergehend in ein kleines, verschraubbares Glas, womit wir früher das Futter für die Hündin dosierten. Wir haben 7 solcher Gläser und verwenden die eigentlich nicht mehr. Deswegen schien es mir eine gute Lösung, die Nadeln dort temporär abzulegen.
Da wir die Hündin für zwei Tage an die Nachbarn übergeben würden, bereiteten wir schliesslich alles vor. Ihr Bettchen, ihr Spielzeug und natürlich auch das Futter. Das Futter kam in ein grosses Marmeladeglas, als meine Frau allerdings die Menge nachzählte, merkte sie, dass es ein bisschen zu wenig ist, also nahm sie ein kleineres Gefäss, in dem sie eine weitere Portion Futter füllte. Und natürlich nahm sie das kleine verschliessbare Glas, das auf dem Küchentisch stand. Weil da genau eine Portion hineinpasst und das Glas verschliessbar ist. Sie rief mir noch zu, dass sie ein zusätzliches Glas nähme, um extra Futter mitzugeben. Ich sass da im Arbeitszimmer und rief zurück „Okay“.
Freitagabend, als wir in dem unsäglichen Brauhof Villach sassen, schickte mir der Nachbar ein Foto von Stecknadeln. Gefolgt von einer entsetzten Nachricht. Ich verstand sofort den Zusammenhang und das Blut rutschte mir in die Kniekehlen. Die kleine Tochter des Nachbarn hatte die Nadeln gefunden, weil sie glücklicherweise sehr bedächtig das Futter auf dem Küchentisch portionierte. Eine routinierte Person hätte einfach das Glas in den Fressnapf geleert und vermutlich nichts davon gemerkt.
Es dauerte eine Weile, bis der Schock richtig bei mir ankam. Danach telefonierte ich noch mit dem Nachbarn, der seinerseits ebenso geschockt war. Hätte die Hündin die Nadeln geschluckt, wäre sie schlichtweg gestorben. Vor dem Einschlafen kamen mir sogar Weinkrämpfe. Der Gedanke daran, wie sehr mir dieses Tier vertraut, das ich leichtsinnig getötet hätte, ist schier unerträglich.
Wir brachten der kleinen Tochter eine grosse Schachtel Pralinen mit.
#
2) „Abstandstempomat“. Noch bevor ich wusste, dass ich meine Hündin fast getötet hätte, überkamen mich Liebesgefühle bei der Autofahrt. Das Mietauto verfügte über einen Abstandstempomaten und dieser löste sehr starke Emotionalität in mir aus. Der Begriff Liebesgefühle ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber das, was ich fühlte, war schon sehr stark. Diese Automatik, mit der sich das Auto dem fahrenden Fluss anpasst, selbstständig abbremst, den Abstand vergrössert und verkürzt, das begeisterte mich dermassen, dass ich meiner Freude ständig laut Ausdruck verleihen musste. Meine Frau sagte, ich solle aufpassen, mich nicht zu sehr auf die Technik zu verlassen. Da hat sie natürlich recht. Aber darum geht es ja nicht. Gefahrenlagen erkennt man trotzdem. Man kann aber weitgehend aufhören, sich mit der Geschwindigkeit zu beschäftigen. Das Geschwindigkeitsmanagement empfinde ich immer als eine unnötige Ablenkung des Wesentlichen. Ich muss unbedingt herausfinden, ob ich das nachträglich in mein eigenes Auto einbauen lassen kann.
#
3) „Enzo“. Enzo ist ein italienischer Künstler, der in Berlin in einer Pizzeria arbeitet. Letzte Woche erfuhr er, dass ich aus Bozen komme, daraufhin nannte er mir mit grosser Begeisterung die Namen von zwei Männern aus Bozen, die er zu seinen wichtigsten Freunden zählte. Hermann und Marco. Beide sind ziemlich bekannte Künstler in Bozen. Als ich noch dort wohnte, unterhielt ich vor allem zu Hermann einen innigen Kontakt. Mit Marco etwas weniger. Hermann Permann ist ein grosser Künstler, der wie üblich im Ausland mehr Beachtung findet als in Südtirol. Und Marco war sein Schüler. Auch Enzo war sein Schüler.
Enzo bat mich, Grüsse auszurichten. Da ich Hermann allerdings schon seit 15 Jahren nicht mehr gesehen habe, wusste ich, dass dies ein schwieriges Versprechen werden würde. Daher bat ich Enzo um ein Selfie von uns beiden. Ich würde das den beiden schicken. Das wäre sicherlich lustig.
Am nächsten Tag fand ich nur das Instagramprofil von Marco. Hermann ist mittlerweile ein älterer Herr, der hat vermutlich kein Internet. Also schrieb ich Marco an und schickte ihm das Foto von Enzo und mir. Ich schrieb kurz dazu, wer ich bin, schliesslich hatte ich Marco noch länger nicht gesehen, fast dreissig Jahre. Aber ich wusste, dass er sich an mich erinnern würde.
Dem war aber nicht so. Er hatte keine Ahnung, wer ich bin. Nun hat sich im Insta-Messenger ein seltsamer Gesprächsverlauf entwickelt, in dem ich im erkläre, woher wir uns kennen und er keine Erinnerung daran hat. Mittlerweile wirkt er sogar ein bisschen genervt von mir. Deswegen schreibe ich auch nicht weiter.
Am Freitag brachte ich die Hündin zu den Nachbarn und dann fuhren meine Frau und ich zum Flughafen nach Schönefeld. Gegen zwei Uhr startete der Flieger nach Graz, wo wir ein Mietauto ausliehen und zwei Stunden nach Villach fuhren.
Ich habe Verwandtschaft in Graz. Einen fernen Onkel, der mittlerweile nicht mehr lebt. Allerdings besteht zu seinen Nachfahren kein Kontakt mehr. Das war der Familienstrang, der nach der Machtübernahme von Mussolini aus Südtirol flüchtete. Viele Südtiroler kamen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zurück. Dieser Onkel aber nicht. Als ich Kind war, schwang bei seinen Besuchen immer etwas Konspiratives mit. Als bestünde ständig die Gefahr, dass Carabinieri vor der Haustür auftauchten. Neulich fragte ich meine Mutter, ob dieser Onkel in antifaschistische Tätigkeiten involviert gewesen ist. Das hätte mich stolz gemacht. In meinen beiden Familien kommen nämlich ausschliesslich unmusische, ungebildete und unpolitische, aber dafür trinkende Bauern vor. Mit einem Antifaschist, der Mussolini bekämpfte, hätte ich mich brüsten können. Meine Mutter wusste aber nichts davon.
In Villach bezogen wir ein günstiges Hotel an einer grösseren Strasse unweit des Krankenhauses. Unser Hotelzimmer war einem LIDL Parkplatz zugewandt. Später konnte ich mir das Wortspiel „lidyllisch“ nicht verkneifen und musste das jedem unter die Nase reiben. Nach dem Einchecken gingen wir aber nicht zu Lidl, sondern zu Billa, der sich auf der anderen Seite des Hotels befand. Österreich ist für mich Billa und nicht Lidl.
Auch unsere Freunde aus Minden hatten sich in dem Hotel eingemietet, sie kamen aber wesentlich später, da sie mit dem Auto anreisten und die ganze Bundesrepublik Deutschland aus Baustellen bestand. Meine Frau und ich gingen daher schon vor. Wir hatten einen Tisch im Villacher Brauhof reserviert. Als die Freunde vermeldeten, sie würden erst um halb neun ankommen, beschlossen wir, bereits etwas zu essen. Ich ass Teigtaschen mit Käse und meine Frau einen Salat mit Putenfilets. Das Lokal war aber ganz furchtbar. Die Einrichtung lieblos, das Licht zu grell, die Stimmung existierte nicht, das Publikum war eine Mischung aus asiatischen Grossgruppen und Touristen, die offenbar den Schildern gefolgt waren. Während des Essens sattelte zudem eine Musikkapelle ihre Instrumente auf und spielte diese unsägliche, nervöse Volksmusik, mit der ich aufgewachsen bin. Nach dem Essen schrieben wir unseren Freunden, dass wir aufgrund der Fürchterlichkeit in ein anderes Lokal ziehen würden und zwar ins Turmstüberl. Das war dann richtig nett. Bisschen klein, aber nett.
Samstag.
Die Hochzeit würde erst gegen 15 Uhr beginnen, deswegen wollten wir am ersten Teil des Tages etwas von Villach sehen. Am Frühstückstisch googelten wir alle vier nach „Was kann man in Villach tun“. Da gab es eine Top10. Die erste Sehenswürdigkeit war die Altstadt, die in Prinzip aus einer Strasse mit zwei Kirchen besteht. Das hatten wir aber bereits die Nacht davor schon alles gesehen. In der Top10 kamen auch beide Kirchen vor. Alle anderen Empfehlungen bezogen sich auf das Umland. Irgendeine mautpflichtige Alpenstrasse und verschiedene Aussichtspunkte. Wir hatten aber keine Lust, weite Strecken mit dem Auto zu fahren. Also spazierten wir ein halbes Stündchen an der Flusspromenade entlang und gingen danach in die Altstadt, wo wir einen Kaffee tranken.
Als wir über die Altstadtbrücke liefen, verstand ich, dass die Brücke sich über die Drau spannt. Ich wusste gar nicht, dass die Drau durch Kärnten fliesst. Dazu muss man wissen, dass die Drau der einzige Südtiroler Fluss ist, der in Südtirol entspringt, aber nicht im Mittelmeer mündet, sondern im Schwarzen Meer. Das weiss bei uns jedes Kind. Ein italienischer, pre-faschistischer Nationalgedanke, der sogenannte „Irredentismo“ folgt dem Bestreben, dass alle Flüsse, die im italientischen Mittelmeer münden, bis hinauf zur Quelle auch italienisches Staatsgebiet sein müssen. Aus diesem Grund wurde Südtirol nach dem Ersten Weltkrieg Italien zugeschlagen. Das gilt auch für das schweizerische Tessin sowie Graubünden und den kroatischen Teil Istriens. Für italienische Faschisten ist der italienische Staat deswegen auch noch nicht vollständig, weil sie damals nicht alles erhalten haben, was von ihnen verlangt wurde. Dieser Umstand ist in gewissen italienischen Gesellschaftsschichten durchaus immer noch ein Thema.
Warum die Quelle der Drau allerdings auch Italien zugeschlagen wurde, konnte ich nicht herausfinden.
Um 15 Uhr stiessen wir zur Hochzeitsgesellschaft, die sich vor einer Kirche in einem Villacher Vorort versammelt hatte. Sicherlich hundert Menschen. Kinder, Paare, teils in Trachten, aber nicht zu viel, ein paar alte Menschen, die Feuerwehr war auch mit einem Wagen vor Ort, weil der Bräutigam bei der Freiwilligen Feuerwehr ist. Das gehört sich so, das kenne ich aus meiner Kindheit. Und irgendwie finde ich das auch wieder süss.
Wir trafen die Eltern der Braut. Ich hatte sie seit 14 Jahren nicht mehr gesehen. Die Mutter begrüsste mich mit meinem Namen, das freute mich ungemein. Mit dem Vater redete ich über die Drau. Auch er wusste, dass die Drau in Südtirol entspringt. Er erklärte mir, dass sie hinter Kärnten durch Slowenien fliesst, danach bildet sie eine ganze Weile den Grenzfluss zwischen Ungarn und Kroatien, bis sie letztendlich an der Grenze zu Serbien in die Donau einfliesst. Das wusste ich gar nicht. Mein kleiner Südtiroler Fluss. So weit in die Welt hinaus.
Nach der Segnung der Ringe in der Kirche gab es Bier und Sekt. Die Schnittchen waren leider sehr schnell fertig, weswegen ich den Hunger mit Gösser Bier auffangen musste. Zum Glück fuhr unsere Freundin aus Minden mit dem Auto. Danach wurden Fotos geschossen und als alles im Kasten eingefangen war, fuhren wir hinauf zu einem Schloss mit einer daran angeschlossenen Golfanlage, wo es wieder Alkohol gab. Vorerst gab es kein Bier, sondern nur Prosecco. Weil Weine immer so stark sind, versuche ich das eigentlich zu vermeiden, aber hey, es war Hochzeit, ich nahm gleich drei Gläser davon.
Es war eine sehr schöne Feier. Allerdings fiel mir auf, dass es keine Tanten gab, die ich neulich noch so anpreiste. Der Grund ist der, dass es vermutlich schlichtweg keine Tanten mehr gibt. Weil sie entweder verstorben sind oder sie nicht mehr die Kraft haben, sich abends auf eine Feier zu begeben. Oder um es deprimierender auszudrücken: Die Onkel und Tanten sind jetzt wir.
Um zehn Uhr abends war ich schliesslich altersgerecht müde. Wir hatten zu Achtzigerjahremusik getanzt. Und viel gegessen sowie getrunken. Es dauerte aber noch zwei weitere Stunden, bis wir tatsächlich gingen. Neben mir am Tisch sass ein Mann aus Kroatien, der am Vortag seine Stimme verloren hatte. Ich ahne, warum die Braut uns nebeneinandergesetzt hat. Er war ein unterhaltsamer Kerl, aber er tat sich schwer, sich ohne Stimme bei dem Lärmpegel zu unterhalten. Praktischerweise waren er und seine Frau sowie die Tochter in diesem Schlosshotel einquartiert, somit legte er sich in den oberen Etagen ins Bett, ohne sich dramatisch verabschieden zu müssen.
Um halb eins riefen wir dann ein Taxi und liessen uns ins Hotel bringen. Dort stürzte ich ins Bett und fiel in einen tiefen Schlaf. Nachts wachte ich allerdings auf, weil mir viel zu warm war. Ich drehte mich und wälzte mich. Davon wachte wiederum meine Frau auf und unsere alten Schlafkonflikte kochten wieder hoch. Ich wollte das Fenster aufreissen, das verschob allerdings den Vorhang, wodurch ein kleiner Lichtstrahl ins Zimmer schien, was meine Frau nicht ertrug. Ich hingegen ertrug gar nichts mehr. Die Bettdecke nicht, die warme Matratze nicht, das viel zu kleine Bett nicht und gar nichts. Am Ende legte ich mich auf den Boden unters Fenster. Dort schlief ich dann tatsächlich ein.
Es ist jetzt schon spät. Ich bin mit der Einarbeitung der Notizen nicht sehr weit gekommen, obwohl ich mehrere Stunden am Text sass. Es öffnen sich ständig neue Details, die auch erzählt werden wollen. Ich hoffe, die gesamte Erzählung bleibt auf diese Weise noch einigermassen stimmig. Das werde ich im letzten Schliff herausfinden.
Ansonsten begab ich mich auf einen sehr langen Spaziergang mit der Hündin durch ein Plattenbaugebiet in Lichtenberg. Und uff, ich weiss nicht. Neuerdings ergeben sich ich in dem, was ich jetzt klassisches Ostberlin nennen möchte, nur noch negative Begegnungen. Heute dieses ältere Ehepaar. Ich wollte eigentlich in einen Park, allerdings war dieser abgezäunt. Dann sah ich dieses Ehepaar herankommen, das ich befragen wollte, ob der Park auch weiter oben noch abgezäunt sei. Deswegen sagte ich „Entschuldigensie!“. Die Frau schaute grimmig geradeaus, würdigte mich keines Blickes. Sie muss mich also schon vorher gesehen und für unwürdig gehalten haben. Sie schritt tatsächlich einfach weiter, ohne anzuhalten. Immerhin schaute mich der Mann an, der bereit war, mir kurz zuzuhören. Ich fragte ihn, ob der gesamte Park abgezäunt sei. Er sagte: „Sie können nicht durch den Park. Das sehen Sie doch.“ Daraufhin ging er weiter und versuchte die Frau einzuholen, die immer noch nicht angehalten hatte.
Dabei trug ich heute sogar ein Hemd.
Neulich der Busfahrer, heute die beiden. Das passiert mir nie in Reinickendorf. Irgendwas ist neuerdings mit dem Osten passiert.
Morgen werden wir nach Österreich reisen. Ich habe beschlossen, den Laptop zu Hause zu lassen. Das erste Mal seit einem Jahrzehnt oder länger, dass ich ohne Laptop verreise. Deswegen wird es auch keine Einträge geben. Erst am Montag wieder.