[Urlaubstagebuch 5]

Den ganzen Tag lang über Schlangen gelesen. Vor allem über die europäischen Varianten. Ich bin jetzt Schlangenprofi, wenn ihr etwas über Schlangen wissen wollt, nur zu.

Das Internet in Schweden. Wir haben hier Glasfaser bis ins Haus. Ich will mal verdeutlichen wo wir uns befinden: Der nächste Nachbar ist die Tante meiner Frau, die einen Kilometer flussaufwärts wohnt. Auch in einem roten Holzhaus mit Plumpsklo. Die nächste Asphaltstraße befindet sich anderthalb Kilometer nördlich. Der Weg dorthin ist aber so schlecht, dass wir mit dem Auto immer den südlichen Weg nehmen um auf eine feste Straße zu gelangen. Dieser ist zwar fast 5 Kilometer lang, aber in weiten Teilen besser befahrbar. Das nächste Dorf ist sechs Kilometer entfernt. Da gibt es aber keine Geschäfte, nicht mal einen Bäcker, deshalb fahren wir da nie hin. Der nächste Supermarkt ist etwa 16 Kilometer entfernt, in  Richtung Süden. Dort kann man auch Alkohol kaufen. Östlich von uns ist gefühlt gar nichts. Wenn ich auf Googlemaps scrolle, dann sehe ich zugewachsene Seeen, in etwa fünf Kilometern Entfernung ein paar (vermutlich Holz-) Häuser, aber lange, lange kein Dorf und irgendwann sehr weit weg kommt eine größere Straße.

Es gab hier im Wald schon 4G und LTE als Berlin noch voller Funklöcher war. Vor drei Jahren hat man dann die Glasfaserleitung gezogen. Richtig aufwändig unter den Fluss hindurch. Ab dem Fluss kam ein kleiner, lustiger Minibagger der einen 20cm breiten Graben quer durch den Wald grub. Der ganze Aufwand für drei Häuser, die auf dieser Seite des Flusses stehen, wovon zwei nur im Sommer bewohnt sind.

Ich schreibe diesen Text während ich mit einem Gigabit am Internet hänge. Wir schauen hier Netflix, nebenher läuft Internetradio oder Spotify. In Berlin beträgt meine Höchstgeschwindigkeit ziemlich genau ein Zwanzigstel dessen. In der Hauptstadt, you know, einer der größten Industrienationen, Hub der Internetfirmen.

Es ist so heiß. Im Haus ist es so warm, dass ich nicht darin sitzen will. Im Schatten vor dem Haus ist es so warm, dass ich nicht sitzen will, außerdem habe ich schon so viel über Schlangen gelesen, dass ich ganz unentspannt bin, wenn ich im Freien herumsitze. Also spaziere ich ein paarmal hinunter zum Fluss und wieder hinauf. K begleitet mich. Wir sind so träge, wir machen kleine und langsame Schritte, laufen gebückt, versuchen uns von Schatten zu Schatten bewegen. Unten auf der offenen Wiese beim Fluss ist es unerträglich. Auf einmal sehen wir einen fremden Menschen. Einen Menschen. Irre. Wir sind so überrascht als wäre es ein Ufo. Es ist eine Joggerin. Sie trägt einen Tanktop, hat stählerne Bauchmuskeln, einen blonden Zopf und Kopfhörer. Als würde sie durch Mitte joggen. K sagt: Bauch einziehen. Wir ziehen beide den Bauch ein. Die Joggerin grüßt freundlich und auch wir sagen: hej.

Sekunden später ist der Spuk vorbei.

Übernächste Woche fahren wir zu einer Hochzeit in die Nähe von Innsbruck. Ich freue mich schon sehr auf das klimatisierte Hotelzimmer. Das meine ich durchaus ernst. Ich habe diese Phantasie gestern Nacht als Einschlafhilfe verwendet. Ich stellte mir vor, wie ich nackt auf dem Hotelbett mit eingeschalteter Klimaanlage liege. Alleine. Ich schlief wie ein Lämmchen ein.

Heute schaute ich in meine Reiseunterlagen. Das Hotel heißt “Zur Sonne”. Ah, fickdich.

Es regnet. Seit 5 Minuten. Dieser Geruch. Ausrufezeichen.

 

[Urlaubstagebuch 4]

Gestern Abend lag eine Schlange vor dem Haus. Wir hatten gerade fertig gegessen, als ich aufs Klo gehen wollte. Dafür muss man etwa 50 Meter über eine Wiese laufen. Ich ging vors Haus und sah etwas schwarzes, langgestrecktes im Gras liegen. Ganz deutlich eine Schlange. Sie bewegte sich nicht. Sie war nicht aufgerollt, wie ich es von sonnenden Schlangen erwarte hätte, sondern langgestreckt, ausgerollt. Da ich mit Schlangen nicht sonderlich erfahren bin, rufte ich K. Es war eine Kreuzotter. Auf schedisch nennt man sie Huggorm, das kommt von huggen was so wiel wie einhaken bzw beißen, also mit Haken einbeißen bedeutet. Kein freundliches Wesen also.

Ihre Anwesenheit sorgte für Nervosität. Der Hund wurde weggesperrt und alle kamen aus dem Haus. Wir berieten uns. Da sie sich nicht bewegte, testete der Bruder sie auf Lebenszeichen. Wenn man sie mit einem (langen) Stock anstupste, wand sie sich und schlängelte sich ein Stück von uns weg in Richtung der großen Linde.

Da sie sich aber nicht anstellte zu verschwinden beschloss der Bruder, sie mit einem Stock aufzuheben und in die nahegelegene Wiese zu bringen. Die Schlange mochte das gar nicht, sie fauchte laut wie eine Katze und bäumte sich auf. Mir wurde mulmig, ich fand das keine gute Idee. Das Fauchen beeindruckte uns vermutlich alle. Wir hielten einen großen Sicherheitsabstand und starrten gebannt auf das Kriechtier. Dann verkroch es sich unter den herabgefallenen Blättern der Linde.

Danach kann ich nicht gut einschlafen. Zum einen ist es wieder zu warm, auf der anderen Seite juckt es mich ständig, da ich zu viel an Schlangen gedacht habe. Wenn ich die Füße unter der Decke habe, ist es mir zu warm, lasse ich sie aber unbedeckt baumeln, fürchte ich, dass Schlangen mir in die Zehen beißen. Das letzte Mal, als ich auf die Uhr schaue, ist es halb drei Nachts. Bald danach muss ich wohl doch eingeschlafen sein.

Heute soll es wieder 33 Grad werden. Die Regenprognosen wurden mittlerweile alle aus dem Wetterverlauf gestrichen.

Bevor es warm wird spielen wir mit dem Frisbee. Wir sind sehr bemüht, keine blöden Würfe zu machen die den jeweils anderen zum Bücken oder Laufen zwingt, sondern werfen uns die Scheibe so zu, dass sie möglichst perfekt beim Mitspieler ankommt. Was ich bisher nicht wusste: der Frisbee ist ein erstaunlich spannendes Spielgerät, das man auf vielfältige Weise durch die Luft werfen kann. Man kann tatsächlich schöne Würfe machen und weniger schöne. Ich bin sehr bemüht, schöne Würfe zu machen die so perfekt wie möglich bei den Mitspielern ankommen und dabei schöne und Flugbahnen hinlegen. Es gelingt natürlich nur selten, solche schönen Würfe zu werfen, aber das ist vermutlich nur eine Frage der Übung.

Das Dumme ist nur, dass der Hund mitspielen will. Normalerweise wird der Frisbee für den Hund geworfen, den er dann holt. Wieder und immer wieder. Sobald der Hund den Frisbee sieht, will er damit spielen. Dass wir uns die Scheibe immer einander zuwerfen, scheint ihn nicht weiter zu stören. Manchmal fängt er ihn aber und verschwindet damit unterm Tisch wo er den Frisbee beschützt wie eine Beute.

Später werden wir alleine gelassen. Die Familie fährt in die Stadt. Wir werden gefragt ob wir die Blätter unter der Linde zusammenrechen können. Dass da eine Giftschlange herumliegt behagt niemandem so richtig. Ich erkläre mich bereit. Nachher als wir alleine sind merken wir, dass das irgendwie keine gute Idee ist. Wenn ich von der Schlange gebissen werde komme ich nicht so schnell ins Krankenhaus. Bis ein Krankenwagen hierher gefunden hat, bin ich vermutlich schon tot.

[Urlaubstagebuch 3]

Samstag fahren wir nach Kungsälv, einem kleinen Vorort von Göteborg. Verwandtenbesuch. Verwandtenbesuch sorgt ja immer für rollende Augen, ich werde daher gefragt ob ich da hinfahren möchte. Mein Problem ist ja, dass ich Menschen liebe. Die Frage ob ich wildfremde Menschen in einer wildfremden Stadt besuchen möchte löst bei mir ja nur ein begeistertes “Ja!” aus. Menschen kennenlernen, Biografien hören, sehen wie sie wohnen, was sie essen, das ist alles sehr aufregend, zumal ich in Schweden bisher nur die Lebensumstände von Landbewohnern kennengelernt habe, das urbane Leben in Schweden kannte ich bisher nur aus der Touristenperspektive. Der Cousin und seine Freundin leben in einem weißen, zweistöckigen Holzhaus. Es ist nicht ganz so urban wie ich es mir gewünscht hatte, sondern ein freistehendes Haus mit Garten in der  Vorstadt, aber das vergesse ich schnell, es sind sehr nette Menschen, die uns zuerst einen eiskalten, selbstgemachten Sangria servieren und als uns der Kopf schon dreht, einen köstlichen Lachs mit verschiedenem Gemüse auftischt. Das Haus ist von Innen genau so wie man sich skandinavische Häuser von innen vorstellt. Hell, helle Möbel, viel weiß, gemütlich reduziert, nicht zu stylisch, eher schlicht. Wir reden über die Lebensumstände. Mich interessiert es wirklich wie Leute leben, auch wenn das Leben eines endvierziger Paares (beide Lehrer) ein eher sorgenfreies Leben darstellt, aber es interessiert mich wirklich wie das geht, wie man nach Göteborg pendelt, wie man sich das Einkaufen organisiert, warum sie den größeren Wagen fährt als er, warum sie vom Süden nach Göteborg gezogen ist, dass Lehrer in Schweden nicht verbeamtet werden, etc.

Das geht mir im Urlaub meist so. Landschaften finde ich eher so mittelmäßig. meine beiden besten Momente in Island waren zum einen der Busfahrer, mit dem ich mich eine Stunde lang während der Fahrt auf einer sehr persönlichen Ebene unterhalten konnte und der Deutsche in der Kneipe, der vor 35 Jahren nach Island ausgewandert ist. Die Zivilisation zu verstehen, verstehen wie dort das tägliche Leben vonstatten geht. Irre das.

Auf dem Rückweg landen acht Regentropfen auf der Frontscheibe des Autos. Eine dunkle, schwere Wolke zieht über den schwedischen Wald. Nach den acht Tropfen zieht sie aber wieder in Richtung Finnland ab.

Der Pegel im Trinkwasserbrunnen ist mittlerweile sehr niedrig, wir sparen beim Verbrauch, waschen vorerst also keine Wäsche und kochen Speisen die wenig Geschirr und Dreck produzieren. Dusche gibt es keine, Es gibt nur ein kleines Waschbecken an dem man sich waschen kann. Katzenwäsche nennt man das hier. Die meisten springen aber in den Fluss unterm Haus. Auch Klo gibt es keines, nur ein Plumpsklo, den Wasserverbauch haben wir also auf das Minimum reduziert.

 

Montag.

Der erste richtige Tag der Ruhe. Wir schlafen bis halb elf. Ich hatte mehrere wilde Träume. Ich wache mit einer schmerzenden Schulter auf. Im Traum hatte ich mich verletzt, ich weiß den Inhalt des Traumes nicht mehr, aber ich meine, knapp einem Unglück entkommen zu sein, beim Aufwachen war ich jedenfalls froh, nur die schmerzende Schulter mit hinüber in den Tag gebracht zu haben.

Nach dem Frühstück gehen wir hinunter zum Fluss um uns zu waschen. Ich wasche mich als einziger nicht im Fluss, da ich nicht gut schwimmen kann und mir das Wasser schlichtweg zu kalt ist. Auch wenn 23 Grad offenbar warm ist, wie man mir versichert, aber mir ist das egal, ich mag kaltes Wasser nicht und die Süßwasserfische mag ich auch nicht und die seltsamen Algen und das lehmbraune Wasser sowieso nicht. Ich kann auch Katzenwäsche am Waschbecken. Ich lasse mich allerdings ständig mitquatschen, wenigstens auf dem Steg sitzen und die Beine ins Wasser stecken. K zieht sich aus und taupcht ins Wasser, dann kommt sie raus und schäumt sich mit Duschgel ein und springt wieder zurück in den Fluss. Ich sitze nur da und stecke einen Fuss ins Wasser. Irgendwann den zweiten. K sagt ich solle doch die Treppe so weit runtergehen, dass ich bis zu den Oberschenkeln im Wasser bin. Das sei so erfrischend und nachher ginge es mir gut, ich sage nein, interessiert mich nicht, aber ich mache es dann trotzdem, während sie  im Fluss von Ufer zu Ufer schwimmt. Dann beschließe ich mich einzuseifen, warum nicht, dann spare ich mir die Katzendusche. Ich ziehe die Unterhose aus, seife mich ein und setze mich auf der untersten Stufe ins Wasser, dann auch die Achseln, aber ich weiß nicht wie ich die Achseln danach vom Schaum befreien soll, also halte ich mich an der untersten Stufe fest und lasse den Oberkörper ins Wasser gleiten. Es ist kühl, es ist angenehm, ich will gar nicht mehr raus.

K hat mich die ganze Zeit vom Wasser aus beobachtet. Ich weiß, dass es sie freut wenn ich ins Wasser gehe.

Am frühen Nachmittag spielen wir Badminton, aber es ist zu warm, also ziehen wir den Tisch und das Gartensofa in den Schatten des Hauses und lesen.

[Urlaubstagebuch 2]

Freitag

Wir fahren wir nach Göteborg. Meine Frau muss ein paar Behördengänge hinter sich bringen. Wir stellen das Auto im Parkhaus am Hauptbahnhof ab, weil wir nachher noch in die Innenstadt wollen, so laufen wir in der prallen Sonne an einer baumlosen, verkehrsreichen Straße einen Kilometer in östliche Richtung. Die Temperaturanzeige übersteigt die 30 Grad, die steinernen Hausfassaden strahlen die Hitze wider wie Öfen. Man kann sich kaum in der Sonne aufhalten. Die Kleidung klebt. Auf dem Bürgeramt dann: die kälteste Klimaanlage der Welt.

Zurück in der Innenstadt schlendern wir das Einkaufszentrum auf und ab. Für dieses Einkaufsparadies haben sie in den siebzigern das alte Bahnhofsviertel abgerissen. Eine Sünde natürlich. Außer bei über 30 Grad. Da shoppt es sich vortrefflich. Wir beschließen alle Aktivitäten außerhalb des Einkaufzentrums abzublasen. Gegen fünf Uhr fahren wir wieder zurück ins Landesinnere, zu unserem Holzhaus im Wald.

Als wir eine Stunde später ankommen gibt es Essen und Bier. Die Schwiegereltern und der Bruder haben vorgesorgt. Wir sitzen draußen und erzählen uns Dinge.

 

Samstag.

Es ist sehr trocken. Das Gras vor dem Haus ist braun. Für 10Uhr wurde etwas Regen versprochen. K und ich fahren in das nächste Dorf, Alkohol für das Wochenende zu kaufen. Das Systembolaget schließt am Samstag um 14Uhr und öffnet am Sonntag nicht.

Auf dem Dorfplatz findet ein Rockerfest statt. Gut fünfzig Harleys sind auf dem Platz geparkt. Männer in Lederjacken. Lange, graue Haare. Schwedische Flaggen, dänische Flaggen, norwegische Flaggen. Es fällt mir schwer, den Auflauf einzuordnen. Zu viele Nationalflaggen bedeuten für mich ja immer: zu viele Nationalflaggen. Schwierige Sache. Es scheint aber alles friedlich zu sein, verhüllte Muslimas laufen unbekümmert herum. Das ist ein beruhigendes Zeichen, wenn ich bärtig und dunkelhaarig herumlaufe.

Statt ins Haus und zur Familie zurückzukehren fahren wir nach Torpa Stenhus. Ich war da vor zehn Jahren schon einmal, als ich das erste mal Schweden besuchte. Ich wollte es einfach noch einmal sehen. Ohne konkretem Grund, einfach um einen Abgleich mit meiner Erinnerung zu haben, außerdem sind wir bei meinem damaligen Besuch so viel herumgefahren, dass mir die Orientierung fehlte und ich die verschiedenen Gegenden nicht wirklich unterscheiden konnte.

Torpa Stenhus ist eine mittelalterliche Burg. Eine der besterhaltendsten des Landes. Aber ganz anders als die Burgen in Südtirol oder anderswo. Torpa Stenhus ist wie der Name sagt, ein Steinhaus. Ein überdimensioniertes Steinhaus. Ohne Turm oder Festungsvormauern und Zugbrücken. Einfach ein riesiges, etwas unförmiges Steinhaus., mit viel Mauer und kleinen Fenstern. Wie fremd sich die Steinmauern in die Gegend einfügen. Ganz Schweden scheint mir immer aus Holz gebaut. Auch gibt es keine Steinmauern zum Abgrenzen von Wiesen oder Äcker, oder auch nicht diese steinernen Dörfer wie es sie sonstwo in Europa gibt, in Schweden sind Dörfer immer eine Häufung von roten Holzhäusern, lose gruppiert, ohne wirklichem Zentrum, ohne Dorfplatz, auch die Kirchen stehen meist abseits der Häuser, schwedischen Dörfern fehlt es fast durchgehend an zivilisatorischem Drama. Ich habe noch nicht ganz verstanden warum das so ist und niemand konnte es mir bisher sagen.

Die Gegend um die Burg ist sehr schön, sie befindet sich auf einer hügeligen Landzunge zwischen zwei Seeen. Ich muss nicht noch einmal rein, ich war vor zehn Jahren in dem Museum. Auch wollen wir nicht halten, der Parkplatz ist voll, das Restaurant davor ist von zahlreichen Samstagstouristen überfüllt. Also fahren wir weiter in nördliche Richtung auf einer einspurigen Straße durch eine Landschaft aus kleineren Seeen. Die Straße führt durch ein etwas verträumtes Eichenhain. Mit vetrräumt meine ich, dass die Landschaft so unwirklich lieblich weichgezeichnet ist, wie man sie sich sonst nur in Kinderträumen erdenkt.

Der Regen war ausgeblieben. Die Wetterapp vertröstet auf den nächsten Tag. Schon seit Tagen.

[Urlaubstagebuch 1]

Eigentlich wollte ich schon am Dienstagabend vom Büro direkt nach Rostock fahren um dort am nächsten Morgen zu unchristlichen Zeiten die Fähre nach Gedser zu nehmen. Allerdings schaffte ich es nicht, den Bürotag zeitig zu beenden. Als es gegen 18Uhr absehbar wurde, dass ich bald alles erledigt haben würde, begann ich schon einmal mich nach einer Unterkunft für den Abend umzusehen. Alle Hotelprotale meldeten aber das gleiche: nix mehr frei in Rostock. Auch nicht in Bad Doberan, auch nicht in Güstrow, das Gewusel an Hotels an der Küste war auch ausverkauft. Auch Telefonate in einzelne Hotels brachte nichts. Hätte man ja wissen können, sagte man mir. Es scheint die Sonne und es ist Urlaubszeit. Hätte man ja wissen können, sagte man mir auch im Büro.

Nein, sowas weiß ich nicht. Eigentlich will ich sowas gar nicht wissen. Eigentlich will ich losfahren und ein Hotel finden. Das ist ganz wesentlicher Bestandteil von Abenteuertum.

Am nächsten Morgen um 5 Uhr früh stieg ich in mein Auto und fuhr nach Rostock. Ich hatte mir den Strohhut aufgesetzt weil ich mich im Urlaub nur ernst nehmen kann, wenn ich auch einen Strohhut trage. Ich nahm mir vor, Tagebuch zu bloggen, aus dem Urlaub heraus, also davon zu erzählen wie ich im schwedischen Wald sitze und nichts mache als im schwedischen Wald zu sitzen. Das ist eine schöne Herausforderung, wie ich finde.

Fähren. Ich liebe ja Fähren. In den Bauch des Schiffes einfahren, durch die metallenen Gänge auf das Deck hinaufzusteigen, den Möwen zusehen. Und der sommerliche Wind. Auf Fähren schieße ich immer Selfies. Ich weiß nicht warum, das ist ein Reflex. Wie Menschen das Essen fotografieren, so schieße ich Selfies auf Fähren. Müsste ich jetzt psychologisch untersuchen lassen.

Mittlerweile habe ich eine Lieblingsroute wenn ich zu meiner Frau nach Schweden fahre. Zumindest weiß ich theoretisch wie sie verläuft. In der Nähe von Halmstad landeinwärts abbiegen und die Route über Torup nehmen und dann immer weiter nordostwärts. Aus meiner Sicht fährt man da durch ein Bilderbuchschweden. Je kleiner die Straßen desto bilderbüchern wird die Landschaft und knuffeliger die kleinen Orte oder Häusergrüppchen aus rot-weiß gestrichenem Holz. Ich verfahre mich jedes Jahr wieder, das Navi drängt mich immer auf die schnelleren Routen, dem versuche ich ständig entgegenzusteuern, dadurch gerate ich immer wieder auf unbekannten Wegen. Manchmal komme ich ganz vom Weg ab. Diesmal überraschte mich ein leerer Tank. Das ist mir noch nie passiert. Dass ich eine ganze Fahrt nicht ans Tanken gedacht hatte. Die Tanknadel stand schon auf Null. So weit unten hatte ich sie noch nie gesehen und überhaupt wunderte es mich, dass ich offenbar die Tankleuchte für eine lange Zeit nicht bemerkt haben musste. In Berlin würde mir ein leerer Tank nicht so viel Angst machen, im schwedischen Wald bekommt ein leerer Tank aber eine ganz andere Dynamik. Wenn die Sonne scheint denke ich an freundliche Schwedinnen mit verträumten Augen beim Pilzesammeln. Wenn der Tank leer ist, denke ich an riesige, bärtige Männer mit Motorsägen und zu Folterkellern umgebaute Bunkern im Wald.

Nun wusste ich nicht wie lange ich mit der Tanknadel auf Null noch fahren konnte. Ich hatte einmal gelesen, dass man noch mindestens zwanzig Kilometer fahren kann wenn die Warnleuchte aufleuchtet. Manche sagten auch dreißig oder vierzig Kilometer. Je nach Wagen und Geschwindigkeit. Aber mit der Nadel auf Null war ich gut beraten einfach schnellstmöglich Benzin zu finden. Der Motor stotterte noch nicht, ich schaltete die Klimaanlage aus und gab mit der rechten Hand in mein Telefon ein: Tankstelle. Im schwedischen Wald kommen einem nicht so viele Autos entgegen, da muss man nicht immer auf die Straße schauen. Googlemaps zeigte mir eine einsame Tankstelle in 11,3 Kilometern Entfernung an. Jetzt konnten nur zwei Sachen passieren: entweder diese Tankstelle zu erreichen oder auf dem Weg dorthin liegenzubleiben. Um Sprit zu fahren schlich ich mit 20km/h dahin. Die Elfkommadrei schrumpften quälend langsam auf elfkommazwei und elfkommaeins. Undsoweiter. Ich erreichte tatsächlich nullkommanull, war aber mittlerweile dermaßen durchgeschwitzt, dass ich ich mir eine Wasserschicht von den Unterarmen abziehen konnte.

Übrigens: diese gruseligen Selfservice Tanksäulen in den schwedischen Wäldern. Zweitausend Quadratmeter Betonplatte, eine Säule, Zwei Zapfhähne, eine Säule. Drumherum: Wald. Im Wald: bärtige Männer mit Motorsägen. Und Zombies.

Aber: nix passiert diesmal.

Eine Stunde später hielt ich meine Frau in den Armen und bekam ein Bier, und ein Zweites und ein Drittes. Und es gab mein Lieblingsgericht. Pasta mit Thunfisch. Und viel Parmesankäse.

[Donnerstag]

Neben Fährefahren liebe ich es auch, in Schweden zur frühstücken. Ich esse immer salzige Butter mit Marmelade und Schmelzkäse mit Krabben. Das ist nicht sonderlich schwedisch, aber ich esse das immer in Schweden zum Frühstück, insofern ist das my own private Sweden.

Es ist heiß hier und trocken. Um zum Sommerhäuschen zu kommen muss ich über vier Kilometer Schotterstraße fahren. Es ist so trocken, dass ich eine Staubschweif hinter mit her schleppe. Wie ein Komet. Im ganzen Land ist ein Grillverbot ausgerufen worden, weil von jedem kleinen Funken gleich ganze Waldgebiete in Flammen aufgehen. Im Norden sind die Brände immer noch nicht im Griff, im Süden sieht es bereits besser aus. Vor zwei Tagen hat es 40 Kilometer von unserem Haus gebrannt. Aber es konnte schnell gelöscht werden, Sommerurlaub ohne grillen ist natürlich nur so 99% aber wenn man es vorher weiß, dann baut man auch keine Vorfreude auf und da Vorfreude bekanntlich das halbe Vergnügen ist… wie auch immer man so einen Satz zu Ende bringt.

Wir fahren Einkaufen. Zu ICA. Das ist so etwas wie Edeka, nur anders. Größer. Der ICA im Ort muss mehrere zehntausend Menschen in einem Radius von sicherlich 20 Kilometern versorgen. Es ist nur ein kleiner Ort, aber der Ort hat alles. Das heißt einen ICA und den Verkaufspunkt für Alkohol, das Systembolaget. Neben Fährefahren und my own private Frühstück liebe ich auch das Systembolaget. Dass das Systembolaget schon um 17 Uhr schließt mag ich weniger, aber die haben eine riesige und auch überaus exquisite Auswahl an alkoholischen Getränken. Alles fein säuberlich sortiert nach Stilrichtungen und Regionen und Ländern. Vom billigen Booze bis zum fassgereiften und luftgetrockeneten Traubenmost.

Später am Tag sitzen wir vor dem Haus und unterhalten uns. Irgendwann gegen Mitternach kommt die Dämmerung. Und die Mücken. Dann gehen wir ins Haus und legen uns ins Bett.

[bajen]

(Mein Auto. Und warum mein Auto es in Schweden schwer hat)

Was man über Schweden wissen muss, ist vielleicht, dass es zwei Buchstabenkombinationen gibt, die auf Autokennzeichen verboten sind. Dies sind die Wörter “FAN” und “BAJ”. Schwedische Kennzeichen bestehen ja aus drei Buchstaben. Das erste Wort heißt auf schwedisch “Teufel” und das zweite Wort heißt “Scheiße”. Nun kann ich mir schwer vorstellen, dass man das Wort Teufel noch für öffentliche Provokation gebrauchen kann. Scheiße hingegen, hat durchaus noch Potential.

Was man über Berlin wissen muss, ist vielleicht, dass alle in Berlin zugelassenen Autos mit einem “B” beginnen und, wie in Deutschland üblich, dahinter noch zwei Buchstaben folgen.

Was man über meine Frau wissen muss, ist vielleicht, dass sie aus Schweden kommt und, dass sie über einen maliziösen Humor verfügt. Ob die Geschichte mit dem BAJ und dem FAN stimmt, habe ich in all den Jahren nie überprüft, ich glaubte ihr bisher blind.

So saßen wir vor einigen Jahren beim Kauf des Autos zusammen beim Händler, der uns nach unserem Wunschkennzeichen fragte. Ich hatte keinen Wunsch, ich finde Initialien auf Autokennzeichen Käse, ich finde es auch Käse mich in irgendeiner Weise über mein Auto auszudrücken. Meine Frau hingegen sagte ungerührt, sie hätte gerne “AJ”.
“Seriously?” morste ich ihr mit meinen Augenlidern zu “du willst BAJ auf unserem Auto stehen haben?”. Sie nickte unbekümmert.

Als ich das erste mal mit meinem Auto nach Schweden fuhr stoppte mich eine ernste Polizistin an der Grenze. Woher ich käme. Berlin, sagte ich. “With this car?” sagte sie mit einigem Entsetzen. Mein Auto ist ein Up und hat 59PS. Ich sagte ganz stolz “Yes and it has 59 horses!”. Sie nickte ernst. Sie lief einmal begutachtend um den Wagen herum. Dann sagte sie “You know, you have Baj on your license plate.” Das war keine Frage. Ich sagte nichts. Sie sagte aber auch nichts. Danach ließ sie mich fahren.

Gestern parkte ich an einer Raststätte südlich von Halmstad. Gegenüber war gerade eine Familie aus ihrem Van gestiegen. Der Vater zeigte auf mein Autokennzeichen. Die ganze Familie lachte.

Ein paar Stunden später stand ich an einer dieser spukigen Selbstbedienungszapfanlagen im schwedischen Wald. Ich bekam den Tankvorgang nicht ans Laufen. Der Automat nahm meine Karte zwar an, wollte aber etwas von mir das ich nicht verstand. Dann kam eine Frau herangefahren. Sie war weit über sechzig Jahre alt, hatte sehr struppiges Haar und war an beiden Armen großflächig tätowiert. Ich fragte sie ob sie englisch spreche (eine überflüssige Frage in Schweden) und mir helfen könne. Das tat sie. Sie war recht freundlich. Dann wollte wissen woher ich käme. Ich sagte, ich käme aus Berlin. Ich sage immer ich käme aus Berlin, im Ausland sind Berliner beliebter als Deutsche. Außerdem will ich ja nicht, dass man einen Bayern in mich hineininterpretiert. Sie sagte, du hast Baj auf deinem Auto stehen. Dann fing sie an zu lachen. Sie hatte oben nur einen Zahn. Sie kriegte sich vor Lachen gar nicht mehr ein. Sie lachte so ausgiebig, dass ihr Zahn oben zu wackeln schien. Mir machte das Angst.

In meiner angeheirateten Familien nennt man mein Auto liebevoll Bajen. Das ist Baj mit Artikel. Schweden machen das so. Sie haben keine Artikel, aber sie hängen irgendwas hinten dran. Bei Baj ist es ein -en. Bajen ist nett gemeint. Ich fasse es auch als nett auf.

[rumgeweltmeistere]

Länderspiele sind mir ja ohnehin ein Graus. Ich mag dieses Leistungsmessen der Nationen nicht. Erst recht nicht innerhalb Europa, aber auch sonst nicht. Dieses sich Zurückziehen auf Reisepässe und Staatsgrenzen und gegen andere Reisepässe antreten um so etwas wie Kulturhoheiten zu vertreten. Ich fand Weltmeisterschaften und Europameisterschaften immer eher Trennend. Dass Fußball laut Fifa-Marketing die Nationen verbinden soll, halte ich für eine falsche Annahme.

Mal nachgefragt: wie vielen Fans der deutschen Mannschaft ist Mexiko seit der Niederlage von letzter Woche ein interessanteres oder begehrenswerteres Land geworden? Oder wie viele Schweden denken seit der Niederlage gegen die deutsche Mannschaft: boah, tolles Land, wie die uns da in der letzten Minute abgeschossen haben, ich will jetzt einen deutschen Reisepass beantragen und Goethe lesen.

Was alles noch schlimmer macht: wo gerade alle Länder unabhängig werden wollen und sich zurückziehen wollen in ihre heile Welt der Traditionen und Pflege von irgendwelchem erdachten und religiös angebetenem Kulturgutscheiß, tanzen Spieler in der Kabine dann zu Rechtsrock oder stellen sich in militärischen Posen vor die gegnerische Tribüne.

Nichts gegen Kulturgutscheiß. Sollen alle ihren Kulturgutscheiß pflegen.

Was ich in diesem Sommer allerdings noch verstärkt beobachte ist, wie die deutsche Nationalmannschaft als Identifikation nicht mehr so funktioniert wie früher. Mein privates Umfeld ist sehr international geprägt. Neben Deutschen habe ich einen intensiven Umgang mit Kroaten, Italienern, Türken, Polen, Engländern, Bosniern, Schweden und Niederländern. Oh Australier und Russen sind auch dabei.
Vor vier Jahren und auch in den Jahren davor gab es irgendwie immer eine grundsätzliche Zustimmung. Unter allen Leuten die ich kannte. Die meisten waren sogar Fans und fieberten richtig mit.
Deutschland hat nun nicht das liebenswürdige Image draußen in der Welt. Ja, man achtet deutsche Autos und achtet die Wirtschaft, aber Liebe ist das deswegen nicht. Es ist immer etwas schwierig mit Deutschland. Deswegen hatte mich das schon gefreut, dass die vielen Internationalen Deutschen plötzlich mit der deutschen Nationalmannschaft mitfieberten. Meine Interpretation dessen war, dass Deutschland zunehmend ein Land wurde, das versuchte Gutes zu tun. Also ein Land das freundschaftlich wurde, das nach vorne schaut, das sich mental öffnet.
Das hat sich seit wenigen Jahren geändert. Es wird wieder infrage gestellt was deutsch ist, man redet wieder mehr von Deutsch-Türken, es ist wieder ein ihr und ein wir.
Mit der deutschen Mannschaft mitfiebern tun nur noch Deutsche, die mindestens seit sechs Generationen deutsches Blut weitervererbt haben. Zumindest vom Gefühl her. Und selbst da nur jene Deutsche die vermutlich sechs weitere Generationen… ihr wisst schon.

Ich frage mich ob die Leute der AfD, oder Menschen mit starken nationalen Gefühlen eigentlich mitbekommen, wie sehr sich Menschen von dieser nationalen Idee abwenden, je stärker sie proklamiert wird.
Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es fast schon wieder lustig.

[…]

In der Friedrichstraße läuft dieser große Mann vor mir. Er trägt ein weißes Hemd und eine Jeans. Er überragt mich um mindestens einen Kopf. Seine Schultern sind breit, sie gehen fast konturlos in Nacken und seinen haarlosen Kopf über. Er geht langsam, er trabt eher. Wie dänische Doggen. Langsam, aber mit großen Schritten. Hinter ihm geht ein Polizist, er klebt dem Mann regelrecht an den Fersen. Der große Mann hat die Hände auf dem Rücken verschränkt, sie sind in Handschellen festgemacht. Der Polizist hinter ihm hält ihn an den Handschellen fest und führt ihn durch die Menschenmengen am Checkpoint Charlie. Viele Menschen bemerken die beiden nicht, die Menschen drängeln sich zu sehr, aber einige langsamen Touristen werden überholt, dann schauen sie zu dem großen, auffälligen Mann hoch, sehen dann den Polizisten und sehen die Handschellen. Dann bleiben sie augenblicklich stehen um den beiden einen Vorsprung zu geben. Ein Stück weiter versucht sich eine Frau mit Kinderwagen einen Weg durch die Menge zu bahnen. Der große Mann mit dem Nacken macht der Frau und dem Kinderwagen platz.

[was schön war]

Vorgestern hat mir die Dame an der Supermarktkasse ein Kompliment ausgesprochen. Sie meinte, es sei so angenehm meine Einkäufe zu scannen. So schnell wie ich die Waren in die Tüten packe, das sei richtig gut.

Ich war zunächst überrascht, freute mich dann aber sehr. Ich erwiderte die netten Worte indem ich ihr mitteilte, dass sie die schnellste aller Edeka-Kassiererinnen sei. Wenn möglich, ginge ich immer zu ihr.

Sie bedankte sich.

Ich sah die vielen schwebenden Fragezeichen über den wartenden Kunden in der Schlange. Sie kennen natürlich nicht diesen Eintrag.

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Das Autokorrekt in meinem Telefon weiß mit “Pasta” und “Bier” immer noch wenig anzufangen. Nach Jahren. Posts und Bist. Eigentlich sollten Pasta und Bier die Grundpfeiler meines Vokabulars bilden. Wir entfremden uns zusehends. Irgendwann soll mein Telefon mein Auto steuern. Irgendwann vielleicht auch die lebenserhaltenden Maschinen an denen ich hänge. Das sind keine guten Aussichten.

[heimatministrantentum]

Das soll jetzt kein Bayern-Rant werden. Wirklich nicht. Ich kenne viele tolle Bayern, sei es persönlich, wie auch alle Bayern, die in meinem persönlichen Internet auftauchen, ich aber nur vom Lesen kenne. Und überhaupt München. München ist ja gar nicht Bayern. Aber ich muss zuerst meine negativen Gefühle über Bayern erklären, oder besser gesagt, über einen gewissen Bajuwarismus, um den Bogen gespannt zu kriegen.

Als Südtiroler waren meine Gefühle für Deutschland immer zwiespältig. Dachte ich an Deutschland, dachte ich früher meist an dieses große, reiche Land im Norden mit den großen Menschen und dem vielen Geld und den starken Autos. Ich bin natürlich bajuwarisch geprägt, da ich aus Südtirol komme und Südtirol mehr mit München gemein hat als mit Wien oder Venedig. Mir war er immer zuwider, dieser Lederhosenhabitus, zum einen weil er wenig raffiniert ist, wenig städtisch, wenig elegant, wenig fortschrittlich. Wenig subversiv. War ich in Bayern, und das war ich in meiner Kindheit oft, hatte ich immer das Gefühl von reichgewordenen Bauern umgeben zu sein. Luschtig und rote Backen, irgendwie sympathisch, aber eben doch überheblich und nicht sehr der Welt zugewandt. In den neunzigern wurde Bayern dann wirtschaftlich immer erfolgreicher. Die Luschtigkeit blieb, aber die Überheblichkeit und die die Abgewandheit verschlimmerte sich in meiner Wahrnehmungswelt sehr.

Als ich in den Neunzigern per Anhalter oder Interrail durch Europa fuhr, gab es all diese aufregenden Städte wie London, Antwerpen, Amsterdam, Paris, Berlin, Prag, Wien, Hamburg, Kopenhagen, Göteborg, Mailand, überall gab es diese wilden Subkulturen, diese Brutstätten, diese urbanen Sumpflandschaften von Musik, Poesie, Kunst und der Experimente, überall gab es diese Subkultur des Liberalismus.
Damals schon machte ich um Bayern einen Bogen. In Bayern gab es keine besetzten Häuser, in Bayern gab es keine coolen Bands, keine düsteren Bars. Dafür gab es die unsympatischsten Polizisten die mir je begegnet sind.

Ein Grund warum ich damals in die Niederlande zog, war das Gefühl mich nicht einem konservativen, traditionellen Heimatbegriff einfügen zu müssen. Ja, es gibt dort Tulpen und hölzerne Klompen, aber das ist Folklore, den niederländischen Heimatbegriff empfand ich immer als sehr offen und interpretierbar, mehr mit einer ideeellen, inneren oder sehr persönlichen Heimat verbunden.
Oder eine verhandelbare Heimat. In den Niederlanden fühlte ich mich sehr heimisch. Der Leitsatz, zu machen was man will, aber niemand anderen damit zu belästigen; so stellte ich mir die Welt vor. In Utrecht ging ich oft mit Holzschuhen in den Supermarkt. Vermutlich als einziger Mensch der Welt.

Jetzt lebe ich in Berlin. Die Stadt der Heimatlosen. Ich habe oft das Gefühl, dass sich in Berlin alle Leute treffen, die keine Heimat haben. Als wären wir alle hergekommen um uns unsere eigene Heimat zu bauen. Jeder seine eigene vielleicht oder wir alle eine Heimat in der wir uns heimisch fühlen. Sei es in den Kiezen, im Stadion, beim Feierabendbier am Kickertisch, in der U8. Eine verhandelbare Heimat.
Ich weiß immer sofort, wer die Stadt in einigen Jahren wieder verlassen wird. Das sind die Leute die eine andere Art von Heimweh haben als ich.

Nun will ich niemandem seine Heimat absprechen. Erst recht nicht einem Bayern, die ihr Bayern sicherlich sehr angenehm und schön finden und das will ich gar nicht schlechtreden. Gerade das, was ich nicht mag, gibt jemand anderem ein Gefühl der Sicherheit. Oder für Leute, die seit Generationen in ihrem Landstrich leben, das ist auch ein soziales Netz, das die Menschen hält, ich glaube schon, dass das wichtig ist.
Aber my Heimat is not your Heimat. Es ist diese Übergriffigkeit mit der dieses Heimatministerium auf mich wirkt.

Nun weiß vermutlich noch kaum jemand, außer Horst Seehofer natürlich, wie dieses Heimatministerium aussehen wird, und vielleicht ist alles auch ganz harmlos, aber ich habe ein Problem damit, wenn konservative Bayern die Deutingshoheit über den Begriff der Heimat bekommen. Wenn so ein Heimatministrant von der CSU über Heimat redet, klingt das für mich immer ein bisschen herrenvölkisch, der den Finanzausgleich-Nehmerländern die Kultur beibringt.

Und eigentlich habe ich gar nichts gegen Bayern. Es stört mich ja schon, dass dieses Bundesland jetzt für so viele negative Gefühle meinerseits herhalten muss. Sorry dafür. In Wirklichkeit meine ich nicht eure schöne Heimat. Vermutlich geht es nur um die CSU.