Es fiel mir nicht ganz leicht, einzuschlafen, da ich mehrere Stunden über Bilder, Texte und Landkarten von kleinen Orten und Strassen in Lappland sowie der Finnmark verbracht hatte. Mein Kopf hatte sich mit Googlemaps und Wikipedia vollgesogen und projizierte nun Fragmente von Hotels und Hütten in der Tundra, leicht bewaldeten und bergigen Landschaften und ewigen Strassen auf mein Hirn. Das war durchaus schön. Aber auch etwas aufwühlend. Meine Schlaf-App empfiehlt mir oft, vor dem Schlafengehen keine aufwühlenden Dinge zu tun. Ich dachte dabei immer an Streit oder Diskussionen mit Freunden oder Familienmitgliedern. Urlaubsplanung gehört also auch dazu. Das schreibe ich aber nur auf, weils witzig ist. Ich glaube, ich beschäftige mich vor dem Schlafengehen immer mit aufwühlenden Dingen.
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Weil ich italienischer Staatsbürger bin, werde ich bereits heute für die Europawahl wählen. In Italien wird heute und morgen gewählt, nicht Sonntag.
Es ist das zweite Mal in meinem Leben, dass ich wähle. Das erste Mal war ich achtzehn Jahre alt und ich wählte Rifondazione Communista. Das fand ich damals richtig und wichtig. Heute würde ich die niemals mehr wählen. Danach zog ich in die Niederlande und ich hatte mit der italienischen Politik nichts mehr zu tun. Der Grund, warum ich in Deutschland die Staatsbürgerschaft erlangen will, hat fast ausschliesslich mit dem Wahlrecht zu tun. Ich konnte bisher nie jene Politikerinnen wählen, die über meine lokalen Belange entscheiden. Ausserdem empfinde ich das politische Geschehen schon seit einigen Jahren ziemlich festgefahren und visionslos. Ich bilde mir ein, dass ich das mit einer deutschen Staatsbürgerschaft eher beeinflussen kann. Und natürlich will ich die Rechten verhindern.
Ehrlicherweise gibt es aber keine Partei, der ich mit grosser Freude meine Stimme geben würde. Am nähesten stehen mir vielleicht die Grünen. Aber die Grünen, die eigentlich einem liberalen Geist entsprangen, sind mir zu Konservativ, zu wenig liberal, wie mir eigentlich alle Parteien zu konservativ sind, die SPD sowieso und erst recht alle anderen Parteien. Wenn man die FDP in gewisser Hinsicht aussen vor lässt. Aber die FDP ist auch nur bei Wirtschaftsthemen liberal und bevor ich diese Besservedienerpartei wähle, wähle ich lieber die SPD.
Vor einigen Wochen fing die Partei namens VOLT meine Aufmerksamkeit ein. Sie sind nach eigener Aussage sozialliberal, progressiv und europäisch. Sozialliberal und progressiv sind Schlagworte, die mir im üblichen Parteienspektrum völlig fehlten. Nach dem Lesen ihrer Mission finde mich zu 95% in all dem wieder, wofür sie stehen. Und mir gefällt die Tonalität sowie das Auftreten. Und es ist die einzige, wirklich europäische Partei. Weil ich auch noch nie Mitglied in einer Partei war, registrierte ich mich heute kurzerhand.
So. Ich bin jetzt Mitglied in einer Partei. Ich bin Volt Parteimitglied.
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Um 17Uhr öffnete das Wahllokal der italienischen Botschaft in der Hiroshimastrasse 1 am Tiergarten. Ich war zehn Minuten früher da. Es gab bereits eine sehr lange Schlange. Nach meiner Ankunft wuchs diese Schlange um ein Vielfaches an. Es dauerte etwa 40 Minuten, bis ich an der Reihe war. Drin gab es vor der Urne noch eine kurze Wartezeit. In den Fluren hingen Kopien des Wahlzettels in Postergrösse, damit sich die Wartenden ein letztes Bild machen konnten. Auf dem Poster konnte ich allerdings kein VOLT-Logo erkennen. Ich erkannte lediglich die Meloni Partei, die Berlusconi Partei, die Lega und die Grünen. Auch die Südtiroler Volkspartei stand zur Auswahl. Fand ich lustig. Die hatte ich ganz vergessen. Aber meine Sorge war nun die VOLT Partei. Wie konnte ich die wählen? Natürlich war ich schlecht vorbereitet, ich hätte es mir denken können, dass eine Wahl kompliziert ist. Also schmiss ich Google an und fand heraus, dass Volt Italia nicht unter eigener Flagge zur Wahl antritt, sondern in einem demokratischen Verbund namens „Partito Democratico“. Das fand ich als stolzes, neues Parteimitglied etwas schwach, aber was weiss ich, warum diese Entscheidung so getroffen wurde, es wird schon valide Gründe haben.
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Auf dem Rückweg kehrte ich bei Flaconi in der Leipziger Strasse ein. Das ist der Flagship Store des gleichnamigen Online Parfumhändlers. Ich las, dass man dort die Parfums von Schwarzlose führt. Vor etwa zehn Jahren bestellte ich einmal ein Probierset von einer Berliner Parfümerie namens Schwarzlose. Mir gefiel der Name des Dufthauses und das Design der Flaschen, ausserdem spielt die Marke mit einer nebligen, dunklen Sinnlichkeit, die Berlin als Stadt angedichtet wird. Die einzelnen Düfte tragen Namen wie „Zeitgeist“, „Trance“, „Rausch“ oder „Leder 6“. Damals suchte ich jedoch nach einer anderen Art Duft als die angebotenen, deshalb beliess ich es beim Probierset.
Nun ist es so, dass der Duft, mit dem ich mich in den letzten Jahren meist parfümiere, den Namen „Russian Leather“ trägt. Es ist eine Weiterentwicklung des „Cuir de Russie“ von Chanel durch das Parfümhaus Molton Brown aus London. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine stört mich aber die russische Referenz. Das mag kleinlich oder kindisch klingen, aber wenn ein Staat bzw. ein illiberaler Staatsmann ein Imperium der russischen Kultur mit Gewalt über andere Staaten bringen will, dann sträubt sich alles in mir, dann will ich jegliche Sympathie, die ich sonst für Russland durchaus in Ansätzen hatte, nicht mehr zum Ausdruck bringen. Dann soll das russische Imperium auch keine positive Konnotation mit diesem rauschig-rauchigen Duft, den ich gerne um mich habe, bekommen.
Ich zeige dir, was ich von deiner russischen Überlegenheit halte.
Deswegen wollte ich mir das „Leder 6“ von Schwarzlose anriechen. Ich konnte mich nicht mehr erinnern, wie das roch.
Eine grosse, stilvolle, dunkelhäutige Frau bediente mich. Sie war vielleicht Anfang dreissig, hatte aber den Habitus einer Grande Dame. Ihre Barthaare waren erstaunlich schlecht rasiert. Nicht, dass mich das störte, ich fand es nur erstaunlich, weil sie sonst so stilsicher war und eine elegante Grösse ausstrahlte. Vielleicht ist das aber auch so gewollt, oft ist das Spiel mit der Geschlechtszugehörigkeit ja auch die Provokation. Ich fand es lustig, dass es mich irritierte.
Das „Leder 6“ riecht anders als „Russian Leather“. Es enthält keinen Rauch, es ist feiner, weniger schwer, er riecht in den oberen Noten sehr leicht, ich kann diese Note noch nicht ganz erfassen, ich werde ihn erneut riechen müssen, und im Körper hat er dennoch diese ledrige und harzige Tiefe, es ist ein sehr intimer Geruch. Ich hatte ihn gar nicht als solchen in Erinnerung.
Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile. Sie zeigte mir ähnliche Gerüche, die meisten waren mir aber zu nadelbäumig. Was ich an anderen Menschen durchaus mag, aber an mir selbst nicht besonders.
Ich werde zurückkommen und wieder daran riechen. Neue Düften brauchen immer ihre Zeit.
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