[Di, 21.10.2025 – Hamburg, Velodrom, nix zu lesen, Ruffalo]

Unter anderem suchte ich heute auch eine Wohnung in Hamburg, wo ich ab November für 4 Tage die Woche wohnen werde. Der Wohnungsmarkt scheint mir dort ein wenig entspannter zu sein als in Berlin, allerdings suche ich auch eher nach einer kleinen, möblierten Wohnung, ich brauche ja wirklich nicht viel Platz. Tagsüber werde ich arbeiten und abends werde ich am Roman weiterarbeiten. So romantisch stelle ich mir das vor. Ab und zu werde ich meine alten Freunde besuchen und sonst scheint mir ein Leben als arbeitender Eremit gerade sehr anziehend. Es wird auch wieder dunkel, ich werde mit der Winterzeit in mein kleines Winterdomizil zurückziehen und mich auf zweidrei Dinge fokussieren. Allerdings werde ich meine Hündin sehr vermissen. Auch meine Frau werde ich vermissen, aber meine Frau ist eine erwachsene Frau, wir haben alles geklärt und besprochen. Die Hündin weiß aber nichts davon. Sie wird wieder nachts vor der Wohnungstür schlafen und darauf warten, dass ich heimkomme. Dieser Gedanke berührt mich auf eine sehr kitschige Art. Kann ich nix tun. Ich hasse Hunde.

Später ging ich mit meinem Hundefreund auf eine längere Runde zum Velodrom. Wir gehen neuerdings wieder öfter zum Velodrom. Aber immer nur nachmittags. Warum, weiß ich nicht. Er fragt mich seit einigen Wochen ständig, wohin wir gehen sollen, und ich sage immer: Velodrom. Und er sagt: Gute Idee.

Morgens gehen wir meist zur Stadlerwiese. Die anderen nennen die Stadlerwiese Blanki. Ich finde diese Verniedlichungen der Stadtplätze nicht sehr ansprechend. Boxi, Schlesi, Kotti, Stutti, Görli, Helmi, Forcki. Arkonaplatz aber nicht. Zum Glück.

Mein Hundefreund findet es jedenfalls schade, dass ich nach Hamburg gehe. Ich sagte, er müsse sich jetzt neue Freunde suchen. Er sagte, das stimme. Im Winter werde er erstmal einsam seine Runden auf dem Blanki ziehen. Ich sagte: Geh doch zum Velodrom. Er sagte: Gute Idee. Aber da kann es im Winter ganz schön ziehen, wenn der Wind weht.

Das ist auch wieder wahr. Auf dem Velodrom gibt es keine Bäume. Nur viele motivierte Sportlerinnen, die dort ihre Runden drehen. Dafür ist das Velodrom nachts beleuchtet, das ist an den dunklen Wintertagen auch nicht zu unterschätzen. Ich kann mich an den ersten Winter mit meiner Hündin auf dem Blanki erinnern. Sie ist ja schwarz. Sie ging völlig in der Dunkelheit des Parks auf. Anders ist es, wenn Schnee liegt, da sieht man sie gut. Da sieht man die weißen Golden Retriever aber nicht mehr. Jetzt hat sie nachts aber einen leuchtenden Ring um, dann ist es auch wieder egal. Außerdem geht sie bei Dunkelheit nicht gerne aus dem Haus.

Was will ich eigentlich sagen.

Ich habe gerade nichts Gescheites zum Lesen. Also doch, ich habe „Blue Skies“ von TC Boyle weitergelesen. Als meine Frau das aber sah, war sie ein bisschen sauer, weil sie dachte, wir hätten das Buch als Vorleseprojekt auserkoren. Wir lesen uns manchmal Bücher vor. Also legte ich es schnell wieder beiseite. Gestern im Innsbrucker Bahnhof lagen jedoch ein paar Bücher von Ferdinand von Schirach auf der Auslage des Presseladens. Sie waren prominent platziert und weil ich neulich im Apofika-Podcast einem Interview mit ihm zugehört hatte, fing ich an, mich für seine Texte zu interessieren. Schon vor einigen Monaten griff ich nach seinem dünnen Buch mit dem Titel „Regen“ aus dem Regal bei Dussmann. Ich las das gerne, entschied mich jedoch dagegen. Gestern in Innsbruck war es ähnlich. Es war ein Buch, das in vielen kurzen Kapiteln von seinem Alltag in Rom handelte. Ein bisschen tagebuchartig. Ich las das wieder gerne. Ich las ein wenig vor mich hin. Am Ende entschied ich mich jedoch dagegen. Für die Reise hatte ich noch einen Erzählband von Murakami dabei, das würde genügen. Zu jenem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht, dass die Reise 16 Stunden dauern würde.

Als meine Frau nach Hause kam, schnitt ich uns einen Kürbis in Scheiben auf ein Backblech und füllte die leeren Zwischenstellen mit Champignons und Kartoffeln auf. Ofenkürbis ist wirklich eine sehr gute Sache. Dazu schauten wir diese neue Serie mit Mark Ruffalo. Sie heißt „Task“ und wenn man den Kritiken glaubt, dann hat die Serie einen ähnlichen Vibe wie „Mare of Easttown“ mit Kate Winslet, die ich hier im Blog auch schon einmal gelobt habe (wobei ich in meiner Erinnerung vor allem Augen für Kate Winslet hatte). Nach zwei Folgen würde ich sagen: Ich kann verstehen, warum man die beiden Serien miteinander vergleicht. Zum einen liegt es natürlich daran, dass es der gleiche Drehbuchschreiber Brad Ingelsby (nie gehört) ist, aber der Sound ist ähnlich: amerikanische Unterschicht in einem ländlichen Vorort von Philadelphia, alles in einem eher gemächlichen Dreivierteltakt erzählt. Mark Ruffalo passt ganz wunderbar in das Setting. Es macht mich dennoch fertig, wie schluffig und mit schlechter Körperhaltung er sich durch die Filmkulisse schleicht.

[Mo, 20.10.2025 – Rückreise, Reisepass]

Frühmorgens geriet ich dann doch ein bisschen in Stress, weil meine Mutter und ich uns beim Frühstück etwas zu viel Zeit ließen (eine Spezialität von mir). Als ich in der Bahn saß, schrieb sie mir schließlich (wieder von zuhause aus), dass sie mein Robbenfell-Täschchen auf dem Esstisch gefunden hat. Das Robbenfell-Täschchen enthält ein paar der wichtigsten Gegenstände: den Reisepass, den Führerschein, Kopfhörer und mein Notizbuch. Blöde Gschichtn. Vor noch wenigen Jahren wäre das nicht so schlimm gewesen, aber seit die Rechten oder die von den Rechten Gejagten überall wieder in Nationaldenken und ethnischen Volkskörpern denken, wird man ständig an den Grenzen nach Dokumenten gefragt. Und natürlich kamen am Brenner die Polizisten und erkoren mich als Checkungswürdig. Seltsamerweise war es die italienische Polizia. So richtig verstehe ich nicht, warum sie ausreisende Passagiere überprüfen. Ich werde schließlich nur für Österreich oder Deutschland ein Problem sein. Die beiden Uniformierten waren jedoch milde und gaben sich mit einem Foto meines Passes zufrieden.

Bis nach Rosenheim blieb es jedoch spannend, weil ich immer Grenzpolizisten erwartete. Leider konnte ich meine Situation nur mit meiner Mutter teilen. Meine Frau würde das fürchterlich aufregen. Das war im Sommer auch schon so, als ich auf der Schwedenreise meinen Pass vergessen hatte. Sie beschwerte sich damals, dass ich sie während der Reise davon in Kenntnis setzte. Sie war zu der Zeit nämlich schon in Schweden. Es würde sie nur aufregen und könnte nichts daran ändern. Während ich einfach das Abenteuerliche an der Aufregung mit ihr teilen wollte. Wir empfinden Abenteuer aber unterschiedlich. Heute verkniff ich es mir einfach, ich bin ja lernfähig. Dennoch ein schwieriges Unterfangen. Ich verkniff es mir die ganze Zeit lang, wahrscheinlich werde ich es ihr auch nicht nachher erzählen, nicht morgen und niemals, sonst denkt sie vielleicht bei jeder Reise, ich würde meinen Pass vergessen. Möglicherweise habe ich zu wenig Respekt vor meiner italienischen Staatsbürgerschaft.

Die neue Bahnchefin kommt übrigens aus Südtirol. Mein Vater hat sich darüber echauffiert, dass ich das nicht wusste. Meine Frau wusste das, aber sie hat es mir nie mitgeteilt. Bei meinem Vater sorgte das für Empörung, die dann auch direkt in mich über ging. Ich war auch empört. Wusste aber nicht, gegen wen ich das richten sollte.

Nördlich von Bamberg hat sich jemand auf die Gleise begeben und mein Zug wird jetzt mit einem fast 4-stündigen Umweg über Hessen geleitet. Bei einer Reise, die bereits 12 Stunden dauert, sorgt das nicht für gute Laune. Zudem sind dem Bordbistro das Essen und die Warmgetränke ausgegangen. Weil ich frustriert war, schlief ich eine Runde. Mittlerweile gibt es auch keine Kaltgetränke mehr. Immerhin hat mir meine Mutter 3 Äpfel aufgezwungen. Zuerst nahm ich nur einen an, dann noch einen zweiten und dann auch den dritten, weil der so ein lustiges Muster hatte. Jetzt bin ich natürlich froh. Ich hätte dennoch lieber ein Käsebrötchen.

Zurück in Berlin bin ich dann echt durch. 16 Stunden Fahrt. In dieser Zeit hätte ich fast nach Neuseeland fliegen können.

[So, 19.10.2025 – Schwestern, Nachtrag Reben und Dolomitentäler]

Ich verlängerte meinen Aufenthalt um noch einen Tag, um mit meinen beiden Schwestern eine Wanderung über den Salten zu machen. Das war so schön, dass wir uns ständig fragten, warum wir nicht schon früher einmal zu dritt etwas gemacht haben. Die Gespräche, die wir führten, hatten in weiten Teilen fast schon therapeutischen Charakter und einmal standen wir auf der Weide, umarmten uns und fingen sogar an zu weinen. Boah, das ist mir noch nie passiert. War aber wichtig. Und eben schön.

Unsere Wanderung endete auf dem Tschaufen Hof, ein kleines, alpines Berggasthaus, das von meiner Schwippschwagerfamilie betrieben wird. Dort aßen wir Speck, Käse und Kastanien.

Was mir noch wichtig ist, zu erwähnen: Den gestrigen Text über die ladinischen Dolomitentäler habe ich mit Weinreben bebildert. Dabei möchte ich klarstellen, dass in den Dolomitentälern keine Weintrauben wachsen. Die ladinischen Dörfer liegen zum Großteil auf einer Meereshöhe von über 1400 Metern, das ist fast subarktisches Klima, da wachsen meines Wissens auch keine Äpfel mehr. Ich möchte nur keine falschen Erwartungen wecken. Der Charme der ladinischen Täler liegt aber genau darin. Berge, hochalpine Wanderungen, Schnee, Knödel und Tirtlen. Und lauter schöne Menschen.

Das Foto der Reben kommt trotzdem vom Ausflug mit der Jahrgangsgruppe. Wir trafen uns nämlich nicht in den Dolomitentälern, sondern in Lana bei Meran. Das ist wiederum eine Weingegend. Ursprünglich wollten wir nach Bassano del Grappa fahren und dort die Weine verkosten. Das ist fast Prosecco-Gegend, nur 30 Kilometer davon entfernt, aber dennoch berühmt für ihre Weißweine und – wie der Name bereits suggeriert – Grappa.

Tragischerweise wurde der Kellermeister jenes Weingutes, das wir besichtigen wollten, ein paar Tage vorher in der Weinpresse erdrückt. Ja genau, erdrückt. Super tragisch. Also musste kurzerhand eine Ausweichadresse gesucht werden. Die wurde im Haidenhof oberhalb von Lana, genauer gesagt oberhalb Tscherms, gefunden: ein kleines Weingut mit steilen Berghängen und einem fantastischen Restaurant mit einer umwerfenden Aussicht über das gesamte obere Etschtal zwischen Bozen und Meran. Da unser Bus zu groß war, um die enge, bergige Straße zu befahren, gingen wir einen steilen, aber guten Weg von Lana aus, etwa 40 Minuten zu Fuß. Mit einem gewöhnlichen PKW kann man die Straße aber auch von Marling aus befahren.

So.

Was ist sonst noch passiert. Meine Mutter hatte Lebensmittelmotten. Seit zwei Wochen versuchte sie erfolglos, das Nest zu finden. Da meine Küche in den letzten Monaten zwei Mal von Motten befallen war, wusste ich ziemlich gut, wie man das Nest ausfindig macht, und in der Tat fand ich Mommi und ihre Eier in einer vergessenen Vanille-Schokoflakes-Verpackung. Seit meine Nichte nämlich in die Pubertät gekommen ist, schläft sie nicht mehr bei ihrer Oma (also meiner Mutter) und damit verschwand diese geöffnete Verpackung vom Radar der Menschen.

Profi bin ich jetzt.

Was sonst noch: Samstagabend schaute ich den Schlagerboom 2025 mit Florian Silbereisen. Meine Mutter mag das gerne. Ich schaute mit und staunte.

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[Sa, 18.10.2025 – Ladinisch und Sprachen]

Ich habe nicht oft davon erzählt, dass ich dreisprachig aufgewachsen bin. Neben Deutsch und Italienisch sprach ich auch fließend Ladinisch. Das ist die dritte Sprache in Südtirol. Es ist eine der drei rätoromanischen Sprachen, die vor etwa 1500 Jahren aus dem sogenannten Vulgärlatein in den Alpenregionen entstanden ist. Im späteren Verlauf des Mittelalters wurde das Rätoromanisch von Französisch, Italienisch und auch Deutsch verdrängt. Bis auf einige wenige, geografisch isolierte Gegenden, wie Graubünden in der Schweiz oder die zentralen Dolomitentäler, wo sich die Sprache aufgrund der Abgeschiedenheit erhalten hat.

Als ich zwei Jahre alt war, zogen meine Eltern aus beruflichen Gründen ins Dolomitendorf Corvara und so wuchs ich ganz selbstverständlich ladinisch auf. Ladinisch war keineswegs meine dritte Sprache, sondern eher eine meiner ersten beiden. Mit meinen Eltern sprach ich Südtiroler Deutsch und mit meinen Freunden und allen anderen Ladinisch. Meine Schwester und ich entwickelten ein eigenes Idiom, das zwar auf Südtiroler Deutsch basierte, aber mit ladinischen Verben gespickt war. Italienisch war hingegen nur die dritte Sprache, die man aber immer auch mitlernte. Die Fächer wechselten sich jedes Jahr ab. Erdkunde war ein Jahr auf Italienisch, das nächste Jahr auf Deutsch, Geschichte immer im Gegensatz zu Erdkunde oder zB Mathematik, die jedes Jahr die Sprache wechselten. Dazu gab es natürlich auch immer noch die Fächer Ladinisch, Italienisch und Deutsch. Ende der Achtziger hat man große Anstrengungen unternommen, um das Ladinisch zu retten bzw es zu formalisieren. So entstand ein Wörterbuch und eine standardisierte Schreibweise, die versuchte, die vier verschiedenen ladinischen Dialekte zu vereinheitlichen. Mit Erfolg, glaube ich, und mittlerweile wird auch Ladinisch in die Rotation der Unterrichtsfächer mit reingeworfen.

Warum ich das erzähle? Heute hatte ich das erste Jahrgangstreffen in meinem Leben. Weil ich eine so geringe schulische Bildung habe, gab es für mich schlichtweg noch nie die Möglichkeit, an irgendwelchen Abschlusstreffen teilzunehmen, und weil ich mit 15 Jahren aus Corvara wegzog, dann drei oder vier Jahre im Heimatdorf meines Vaters wohnte, um mich danach in den Niederlanden aufzulösen, verlor ich erstmal den Kontakt zu meinen Freunden aus Kindheitstagen, und irgendwann fühlten sich Freunde aus Kindheitstagen auch nicht mehr besonders wichtig an.

Ende der Nullerjahre kam allerdings Facebook auf und in den darauffolgenden Jahren begegnete ich einigen dieser früheren Freunde wieder und es entstand sporadischer Kontakt. Meine Familie wohnt jetzt aber mehr als zwei Stunden (Bergstraßen!) von Corvara entfernt und so komme ich kaum noch dazu, meine frühere Heimat zu besuchen. Zweimal war ich in den letzten 35 Jahren da und es war jedes Mal sehr schön. Meine Schwester und ich nehmen uns immer wieder vor, für ein paar Tage hinzufahren. Aber es kam noch nie dazu.

Nun schrieb mich im Sommer mein alter Schul- und heutiger Facebookfreund Pepi an, dass sie diesen Oktober ein Jahrgangstreffen planen und er sich freuen würde, wenn ich käme. Ich sagte sofort und ohne zu zögern zu. Große Freude auch meinerseits. Und heute war dann dieser Oktobertag. Zugegebenermaßen hatte ich ein bisschen Mitspracherecht bei der Planung der Lesung letzten Mittwoch und so konnte ich beide Termine kombinieren.

Letzte Nacht schlief ich vor Aufregung schlecht. Ich wusste, wie schlecht bzw. nicht existent mein Ladinisch mittlerweile geworden war. Zwar konnte ich noch sehr einfache Sätze bilden, aber um eine Konversation zu führen, fehlte mir schlichtweg das Vokabular. Interessanterweise verbesserte sich mein Sprachschatz im Viertelstundenrhythmus. Es reichte nicht aus, dass ich am Ende des Tages fehlerfrei und in vollständigen Sätzen sprach, dazu wurde ich auch wieder müde vom Tag und der Alkohol, den wir seit etwa 10 Uhr morgens tranken (es fing mit einer Weinverkostung an!), tat natürlich sein Übriges. Ich merkte allerdings auch, dass ich nach einer Woche in Corvara sicher wieder fließend sprechen würde. Ich exhumierte den ganzen Tag lang Wörter aus abgedunkelten Hirnarealen.

Es ist erschreckend, dass man eine Sprache, die man einmal fließend, muttersprachlich gesprochen hat, verlernen kann.

Es war jedenfalls ein wunderbarer Tag mit vielen lustigen Erinnerungen. Und alle diese Biografien, alle so unterschiedlich, so viele Geschichten. Vermutlich werde ich einiges davon in den nächsten Wochen oder Monaten aufarbeiten. Aber jetzt bin ich erstmal müde vom Tag.

(Nachtrag: die hier abgebildeten Reben geben womöglich ein falsches Bild der Dolomitentäler wieder. Ich möchte klarstellen, dass in den Dolomitentälern keine Weintrauben wachsen. Die ladinischen Dörfer liegen zum Großteil auf einer Meereshöhe von über 1400 Metern, das ist fast subarktisches Klima, da wachsen meines Wissens auch keine Äpfel mehr. Der Charme der ladinischen Täler liegt aber genau darin. Berge, hochalpine Wanderungen, Schnee, Knödel und Tirtlen. Und lauter schöne Menschen. Warum hier Reben abgebildet sind, steht im nächsten Eintrag)

[Fr, 17.10.2025 – Dorf des Vaters, Fahrstil]

Der Plan sah vor, dass ich mir das Auto meiner Mutter leihen sollte, um damit in das Dorf meines Vaters zu fahren. Das Dorf meines Vaters ist wirklich kein Lieblingsort von mir. Ich musste dort gegen meinen Teenagerwillen drei Jahre lang wohnen und meine Gefühle dazu sind immer noch nicht positiv. Allerdings wohnen dort viele meiner Tanten und Onkels, und seltsamerweise war ich mein ganzes Leben lang immer bei Tanten und Onkels beliebt. Viel beliebter als meine Schwestern oder meine Cousins. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ich war auch immer bei Schwiegermüttern beliebt, wobei ich wirklich kein guter Umgang war, und ich hätte es meinen Töchtern untersagt, mit mir befreundet zu sein. Die einzige Erklärung, die ich habe, ist die, dass man mich gerne füttert. Alte Frauen gaben mir immer gerne zu essen. Die Bäuerin, bei deren Familie ich in den Sommern immer die Kühe hütete, sagte immer, dass ich so gerne esse. Schaut her, wie der gerne isst. Wahrscheinlich bereitet es Freude, mir Essen zu geben. Wenn ich also ins Dorf meines Vaters fahre, hole ich mir immer einmal eine kräftige Portion Zuneigung ab.

Meine Mutter beschloss kurzerhand, mitzufahren. Sie wohnte, anders als ich, 25 Jahre lang in dem Dorf. Sie zog vor etwa 10 Jahren nach Meran zu meinen Schwestern und hatte das Dorf seit Corona nicht mehr besucht. Sie nahm das als Anlass, ihre alten Freundinnen und Nachbarinnen aufzusuchen. Ich ging hingegen zu meinem Vater. Wir machten eine Fahrradrunde mit den E-Bikes über St. Helena und die Höfen am Rundweg westlich davon, wo man einen unfassbar schönen Blick auf den Rosengarten, den Schlern und die Latemar-Gruppe hat. Man kann am Horizont sogar die Zillertaler Gletscher sehen. Danach besuchten wir den Onkel K, die Tante Z, Tante N und Onkel L.

Onkel K trollte meinen Vater, indem er sagte, dieser führe nicht mehr so gut Auto wie früher. Eigentlich meinte er es ernst, aber meinen Vater triggerte das ungemein und Onkel K ließ sich nicht davon abhalten, ihm zu erklären, warum er das fand. Nun muss man wissen, dass mein Vater vierzig Jahre lang Krankenwagenfahrer war und die Berg- und Talstraßen fast mit geschlossenen Augen fahren kann. Das traf ihn natürlich und er versuchte, sich ständig zu verteidigen, während Onkel K nüchtern und geduldig zu erklären versuchte, woran er seine Erkenntnis festmache. Er erklärte das ziemlich umständlich und zugegebenermaßen verstand ich nicht wirklich, was er zu erklären versuchte. Er zog ständig das Beispiel heran, wie mein Vater sich in Autokolonnen im Tal verhalte. Weil in unseren Tälern die Touristen immer zu langsam fahren und sich dadurch die Kolonnen bilden. Am Ende einigten sie sich auf ein Unentschieden.

Mit meiner Mutter hatte ich verabredet, dass sie ohne mich wieder zurück nach Meran fahren kann, weil ich am Abend mit meinem Vater zurückfahren würde, der in Meran zu meiner kleinen Schwester fahren würde. Sie wollte also kurz zu ihren drei Freundinnen auf einen Kaffee gehen und danach zurück nach Hause fahren. Weil meine Mutter allerdings zunehmend dementiös wird, vergaß sie diesen Plan und war den ganzen Tag der Annahme, dass sie auf jemanden wartete. Entweder auf meine Schwester oder auf mich oder so. Als meine Schwester mich davon in Kenntnis setzte, rief ich meine Mutter an und da es mittlerweile 6 Uhr abends war, beschlossen wir zu dritt, zurück nach Meran zu fahren. Ich würde das Auto meiner Mutter steuern und mein Vater würde mitfahren.

Nun muss man wissen, dass meine Eltern seit ziemlich genau 30 Jahren getrennt sind. Zuerst hassten sie sich 20 Jahre lang, danach ignorierten sie sich 5 Jahre lang, aber in den letzten 5 Jahren hatten sie immerhin angefangen, sich wieder zu grüßen. Um die Situation im Auto ein bisschen aufzulockern, sagte ich irgendwas über Fahrstile in Autokolonnen und dass Onkel K da offensichtlich eine sehr starke Meinung dazu hat. Was man in dieser Situation vielleicht noch wissen sollte: Auch meine Mutter war vierzig Jahre lang Rettungswagenfahrerin und kann all die Berg- und Talstraßen fast mit verbundenen Augen bei Tempo 100 befahren. Sie hatte natürlich eine Meinung über den Fahrstil meines Vaters und mein Vater hatte eine Meinung über den Fahrstil meiner Mutter. Zusammengefasst würde ich sagen: war kein gutes Thema.

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Südtiroler Glam Metal Band.

[Do, 16.10.2025 – Lesen, Hosen, Schwestern, Slowake]

Gestern las ich in Vorbereitung zur Lesung einen Teil der Novelle meiner Mutter vor. Ich bat sie, sich mir als Publikum zur Verfügung zu stellen, und wies sie ein, dass sie mich unterbrechen möge, wenn ich zu schnell oder zu unverständlich lese. Sie hatte letzten Sommer versucht, das Buch zu lesen. Aufgrund ihrer frühen Demenz scheiterte sie aber daran, weil sie nach zwei Seiten immer vergaß, was auf den Seiten zuvor geschehen war. Zuhören gelang heute jedoch ausgezeichnet. Das ist eine lustige Erkenntnis. Nach zwanzig Minuten war sie verärgert, dass ich aufhörte. Sie wollte wissen, wie es weitergeht. Das war völlig ungewöhnlich, weil sie mittlerweile fast alles vergisst.

Am Nachmittag fand ich dann heraus, dass ich meine saubere Hose in Berlin vergessen hatte. Also ging ich in dieses Geschäft am oberen Ende der Lauben. Dort war ich bereits letzten Winter und ich traf wieder diese alte Frau im Laden. Es fällt mir schwer, ihr Alter zu schätzen. Sie könnte siebzig sein, aber auch achtzig. Sie hat ihre Gesichtshaut auffällig gestrafft und bei den Lippen mit Füllung nachgeholfen. Sie ist immer sehr gut gelaunt und ungemein hilfsbereit. Außerdem schäkert sie ständig, und schäkernde alte Frauen finde ich immer bezaubernd. Nachdem ich mehr als ein Dutzend Hosen anprobiert hatte, entschied ich mich gleich für zwei Paare und war damit für die Lesung am Abend eingekleidet.

Ich wurde von meinem Neffen begleitet, mit dem ich dann weiterzog, weil auch er neue Hosen brauchte. Wir besuchten ein paar Skaterläden mit Baggy-Pants. Auch er wurde fündig.

Die Lesung war dann super. Es waren viele alte Freunde da, sowie meine Familie. Sie fand im neuen Ost-West-Club statt, die jetzt in ein ehemaliges Schießstand-Gebäude aus der KuK-Zeit umgezogen sind. Das Gebäude diente einige Jahrzehnte lang als etwas schäbiges Restaurant, bis es vor zwei Jahren dem Kulturverein „Ost-West“ übergeben wurde, der es jetzt als Kulturzentrum betreibt. Es ist ein beeindruckendes neobarockes Militärgebäude mit einem großen Garten davor.

Nach der Lesung tranken wir Bier.

Ich stellte dann auch fest, dass alle meine Bücher verschwunden waren. Vermutlich hat sie mein Mitleser fälschlicherweise eingepackt, der war aber bereits nach Brixen abgereist. Ich schrieb ihm eine Mail.

Heute schlief ich dann lange. Danach traf ich meine kleine Schwester auf einen Kaffee. Wir hatten ein sehr nettes Gespräch. Unsere Beziehung litt neuerdings etwas. Aber es ist nichts Schlimmes. Danach trafen wir unsere andere Schwester mit ihrem Mann und der Tochter zum Mittagessen in einem Asialaden in der Carduccistraße. Es gab ein All-you-can-eat-Buffet. Früher hätte ich gesagt: I-can-eat-a-lot-Buffet, aber mittlerweile kann ich wirklich nicht mehr so viel essen. Seit ich so viel abgenommen habe, passt schlichtweg nicht mehr so viel hinein. Das finde ich nicht unbedingt schlecht, so ein Buffet fühlt sich allerdings etwas verschwendet für mich an. Aber darum geht es ja nicht.

Später kam noch mein Vater dazu und dann wurde ich müde, also ging ich zu meiner Schwester nach Hause und legte mich auf das Sofa und schlief etwa eine Stunde. Mittlerweile war es schon 5 Uhr geworden und ich traf meinen Freund Haimo auf einen Drink in einer schäbigen, aber charmanten Bar hinterm Bahnhof. Wir hatten viel zu besprechen. Um acht Uhr waren wir mit den anderen beim Slowaken unweit der Passermündung verabredet. Pino, Battl und Peter. Wir tranken noch mehr Bier und aßen Gulasch. Der Slowake ist wirklich nett. Er hat drei Kinder. Eines ist 37 Jahre alt, eines 20 und eines 6. Da kommt man aus der Elternrolle wirklich nie raus.

So ist das.

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[Di, 14.10.2025 – waggon]

Ein Laptop hält sich nicht so lange ohne Strom wie ein Telefon oder ein Tablet. Vor allem nicht, wenn der Laptop alt ist wie meiner und sonst eigentlich immer wie ein Desktop am Strom hängt. Der Akku ist wahrscheinlich stracotto, wie man sagt, wenn Nudeln längst nicht mehr al dente sind. Ich hatte vergessen, wie angenehm es sein kann, lange Bahnstrecken zu fahren, vor allem, wenn die Waggons nicht überfüllt sind. Anfangs saß ich neben einer älteren Frau, deren Mann sie bis ins Abteil hinein begleitet hatte und sich am Platz verabschiedete. Als der Mann ausstieg, gerieten wir ins Plaudern. Sie wird sich auf eine vierwöchige Kreuzfahrt begeben. Eigentlich sei das ja nichts für sie, aber ihrer Freundin aus München war die Reisebegleitung abgesprungen und nun hatte sie sich dazu überreden lassen, an deren Stelle die Reise anzutreten. Sie führe zuerst nach München zu der Freundin, dort bliebe sie bis Samstag, dann flögen sie zusammen nach Bremen, wo sie in das Kreuzfahrtschiff steigen und damit nach Portugal, Azoren und runter bis nach Marokko reisen. Es ist nur ein kleines Schiff, kein so großes. Sie sei aber trotzdem skeptisch, das sei ja gar nicht ihr Ding. Ich sagte, dass ich mir eine Kreuzfahrt als Erfahrung durchaus interessant vorstelle, man muss das ja nicht immer machen, aber einmal auf eine Kreuzfahrt zu gehen, kann ja nicht schaden. Meine Mutter hätte das ein paar Mal gemacht, und die fand das ganz wunderbar. Man werde rundum versorgt und unterhalten. Die Frau sagte: Aber wenn man an Land geht, dann wird man in Bussen schnell-schnell durch die Landschaften gekarrt, das sei ja nichts für sie. Ich gab mich verständnisvoll, sagte aber auch, dass der Mann jetzt sicherlich alle seine Kumpels zum Biertrinken einlädt. Den Gedanken daran fand sie lustig. Sie hoffte aber auch, dass sie danach die Wohnung wiedererkennen würde. Ihr Mann sei das Alleinesein ja nicht so gewohnt, zudem sei er auch ein bisschen hilflos.

Den Großteil der Reise schrieb ich. Zuerst neben der Frau, später, als sich ab Erfurt der Waggon etwas leerte, hatte ich einen Vierertisch für mich alleine und konnte mich strecken. Die Bahn ist ein richtig guter Ort für Output. Das hatte ich ganz vergessen. Dieser Vibe in einem halbleeren Zug. Links und rechts zog Deutschland an mir vorbei. Ich schrieb etwa 5 Stunden am Stück. Später noch einmal 3 Stunden zwischen München und Bozen. Irgendwann wurden allerdings meine Handballen wegen der warm gewordenen Handauflage des Laptops etwas taub.

Nach elfeinhalb Stunden kam ich in Bozen an, wo meine Schwester und ihre Tochter auf mich warteten. <3

[So, 12.10.2025 – Kolonisation]

Wir suchten in Grönland natürlich zuerst nach den typischen grönländischen Sachen. Essen, Trinken, Kleidung, Kneipen, Läden, Buchläden, Cafés usw. Zeitungen konnten wir leider nicht lesen, aber immerhin standen uns alle haptischen und optischen Dinge offen. Natürlich wollten wir auch wandern und die Landschaften erkunden, aber die Menschen vor Ort, die Zivilisation, der Lebensalltag, das sind für mich wesentliche, vielleicht sogar die wichtigsten Dinge, die mich auf einer Reise beschäftigen bzw. mich interessieren. Es stellte sich aber bald eine ziemliche Ernüchterung ein. Sicherlich waren unsere Erwartungen etwas überzogen. Wir kamen gerade aus Island, wo die Isländerinnen vor lauter Islandliebe regelrecht platzen (eruptieren), die haben etwa 50 Brauereien, tausende Islandbücher über Feen, Gletscher, Vulkane und Vikinger, alles, was man isst, konsumiert oder anschaut, hat irgendwie den Zusatz, echt isländisch zu sein. So ist es ja mittlerweile in vielen Ländern, ob Portugal oder Polen, mit einer solchen Erwartungshaltung reisten wir insgeheim sicherlich auch nach Grönland.

Es gibt im Supermarkt Walfleisch, Robbenfleisch, natürlich Rentierprodukte und auch Moschusochsenfleisch. Aber das wurde alles nicht touristenfreundlich in Probier- oder Geschenksets angeboten, sondern abgepackt wie Gehacktes im Kühlregal. Das ist einerseits natürlich sympathisch und total richtig, weil ein kleines Robbensteak halt echte Nahrung ist und nicht nur ein Gimmick für Besucherinnen, andererseits steht das auch sinnbildlich für ein gewisses – wie soll ich es nennen – fehlendes Bewusstsein für die eigene Identität, für die eigene Kultur oder besser gesagt, die daraus folgende Darstellung dessen, also: stolz.

Im Nationalmuseum Nuuk erfuhr ich, dass Grönland bis 1953 nicht ohne Genehmigung betreten werden durfte. Es war eine Kolonie, die dazu diente, Dänemark und Europa mit Tierfett zu versorgen. Die Inuit waren einerseits gute, billige Arbeitskräfte, darüber hinaus aber eher störend. Dass man ab 1700 diese als unterentwickelt wahrgenommenen Wilden erstmal christianisierte, galt als selbstverständlich, und auch, dass man sich da einfach Land nehmen und es besiedeln konnte. Es ist für Inuit sehr löblich, dass sie das alles zuließen, andererseits ist das längst nicht alles freiwillig geschehen, außerdem wussten sie damals wohl auch nicht, wie invasiv die neuen europäischen Besucher sein werden, das Konzept, Land zu besitzen oder einen Staat zu verteidigen, war ihnen auch eher fremd. Irgendwann ist es halt zu spät. Nach 300 Jahren sind sie in deren eigenem Selbstverständnis ein christliches Volk. Irgendwie auch dänisch, aber eben nicht ganz. Weil die Dänen die wohlhabenden Sugardaddys sind, die letztendlich die Wirtschaft steuern. Die Inuit sind gefühlt immer noch die Minderheit, obwohl sie 90 % der Bewohnerinnen stellen.

Es gibt schon seit längerer Zeit Unabhängigkeitsbestrebungen. Dänemark ist auch durchaus bereit, die Unabhängigkeit zu gewähren, allerdings kann sich das Land derzeit nicht selbstständig tragen. Dann kam der Skandal hinzu, dass Dänen noch vor einigen Jahrzehnten Inuit-Frauen gezielt sterilisierten. Der Dialog kommt nur schleppend voran. Dass Trump nun versucht, die Insel zu annektieren, sorgt dem entsprechend nicht unbedingt für Freude. Die beiden jungen Leute von der Bootsfahrt lächelten über Trump hinweg. Das sei ein lächerlicher Clown. Andererseits sprach ich am nächsten Tag mit dem jungen Bergführer, der meinte, dass sich seit den Reden von Trump der Tourismus aus den USA verstärkt hätte. Das sei für seinen Beruf und das Einkommen seiner Familie ja sehr zuträglich. Er hatte ein wesentlich positiveres Bild von Trump, wollte sich jedoch nicht näher äußern. Er sagte, er rede nicht gerne über Politik.

Meine Frau sagte ständig, dass ich auf meine Wortwahl achten soll. Ich verwendete nämlich oft den Begriff „unterentwickelt“. Sie sagte, das sei rassistisch und vielleicht entspräche es auch nicht den Wertevorstellungen der einheimischen Bevölkerung, im europäischen Sinne entwickelt zu sein. Das lasse ich teils schon gelten, ich habe wenig Ahnung von den Wertevorstellungen nomadischer Kulturen oder Völker, die kulturell von der Jagd lebten. Ich beobachte aber Parallelen zur Außenwahrnehmung der Inuit in Alaska und Kanada sowie der Samen in Lapland oder der Pomoren und uralischen Völker im russischen Polarmeer. Alle diese arktischen Völker sind Minderheiten in von Europäerinnen beherrschten Staaten. Diese Völker haben halt aufgehört, ihre eigene Erfolgsgeschichte zu schreiben, es geht ihnen (zum Großteil) gut, man hat ihnen Industrie gebracht und so passt man sich ein und ihre Kulturen lösen sich langsam in der dominanteren cultura franca auf. Wahrscheinlich verkommen sie irgendwann in der Märchenwelt.

Woran ich das vor allem festmache – und das klingt jetzt wie ein Witz, aber: Es gibt in Grönland keine gescheiten Postkarten. Dieses riesige Land ist dermaßen voll von spektakulären Motiven, jedes dritte Foto in der Galerie meines Telefons taugt als Postkartenmotiv, aber in den verschiedenen Läden, sogar in der Tourist-Info von Nuuk, gibt es nur ein paar in naivem Stil gezeichnete (!) Ansichten von Ilulissat, und Nuuk. Sonst Geburtstags- und Glückwunschkarten mit zwei oder drei lieblos fotografierten Trachten. Okay, ein bisschen witzig meinte ich das schon, aber dieser Umstand machte mich fertig. Als echter Europäer dachte ich gleich daran, 5 Fotos aus meiner Galerie bei Rossmann in mittelgroßer Auflage zu drucken und sie in Nuuk an Restaurants, Cafés und Einkaufszentren anzubieten. Aber das ist ja auch wieder Kolonistenverhalten, wenn man es kritisch betrachtet.

Immerhin gibt es Mode. Drei Geschäfte, die modische Kleidung aus Robbenfell und Wolle von Moschusochsen verkaufen und teilweise auch herstellen. Taschen, Jacken, Mützen, Handschuhe. Und eine Handvoll Restaurants, die mit arktischen Zutaten experimentieren. Und es gibt eine Brauerei, die einige wenige Lokale beliefert. Dominant ist allerdings das dänische Carlsberg. Natürlich.

Ich weiß, ich sehe das alles durch meine europäische Brille, aber ich bin mir sicher, dass Grönland ein ganz anderes Land wäre, hätte es die Kolonisation nicht gegeben. Ja, keine neue Erkenntnis. Es beschäftigte mich nur. Direkt aus Island kommend, die sich selbst und ihre Inseln so feiern und dann in Nuuk diese eigenartig schöne Landschaft mit einer Zivilisation, umgeben von dänischen Supermarktketten, die noch nicht genau weiß, wohin ihre Reise geht.

Seit ich zurück bin, kriege ich auf Facebook haufenweise Island-Content empfohlen. Immer noch. Von Grönland: null.

Ich muss da wieder hin.

[Sa, 11.10.2025 – Abweisung, Brillenglas]

Mein neuer Chor probt bereits seit Mitte September. Aus logistischen Gründen bat mich die Chorleiterin, erst Ende September einzusteigen. Sie würde mir noch das genaue Datum mitteilen, sie müsse das gesondert planen. Die Mitteilung kam erstmal nicht, es gingen zwei Proben vorüber, ich machte mir schon Gedanken, dann stand die Grönlandreise an, also fuhr ich für 8 Tage weg und es vergingen zwei weitere Mittwoche, an denen ich hätte proben können. Vor zwei Tagen erreichte mich dann aber die Nachricht, es hatte wohl ein Missverstädnis gegeben, also sollte ich heute beim langen Probesamstag einsteigen. Die anderen waren mit dem Programm schon etwas fortgeschritten. Wir singen ein anspruchsvolles Requiem von Maurice Duruflé. Ich wurde dabei ein bisschen ins kalte Wasser geworfen, aber das finde ich nicht schlimm, ich kann schon irgendwie schwimmen, solange man weiß, dass ich noch etwas Zeit brauche. In der Pause holte mich die Chorleiterin allerdings zur Seite und hielt einen langen, ausschweifenden Monolog, aus dem ich nach einiger Zeit substrahierte, dass es besser sei, wenn ich in an diesem Projekt nicht teilnähme. Sie meinte es wirklich nett und betonte, dass es keine Kritik an meinem Gesang sei, aber das Stück sei zu komplex, um es in so kurzer Zeit aufzuholen, vor allem für jemanden wie mich, der nun schon seit fast zwanzig Jahren nicht mehr gesungen hat. Ich sei ja der einzige Tenor, sie würde dieses Stück daher lieber ganz ohne Tenor einstudieren anstatt mich jetzt da durchquälen zu lassen und beim Konzert dafür Profis dazuholen, die das in ihrem Repertoire führen. Ich könnte im Dezember anfangen, wenn wir an Bach oder Mendelssohn arbeiten würden, das sei für mich der bessere Einstieg.

Aus rationaler Sicht kann ich damit wirklich gut leben. Zumal ich mir einbilde, dass es lediglich an meinem späten Einstieg lag und ich sonst gut mit den anderen hätte mithalten können. Der Moment aber, in dem es mir dämmerte, dass diese Frau vor mir mich gerade abweist und versucht, mir das in schonenden Worten mitzuteilen. Das traf mich total. Möglicherweise, weil ich im Anschluss angestrengt eine nicht-enttäuschte Miene aufsetzen musste. Offenbar kann ich bei einer persönlichen Absage die Schutzmechanismen nicht richtig hochfahren. Das fiel mir schon einmal vor etwa 10 Jahren auf, als ich mich in einem Bewerbungsprozess befand. In der zweiten oder dritten Runde vereinbarte der Personaler, der meine Bewerbung begleitete, einen Termin mit mir, zu dem ich ins Büro fuhr, um mir dann eine sehr freundliche Absage einzuhandeln. Die Absage war sehr freundlich, sehr wertschätzend, aber eben eine Absage. Damals war ich danach auch sehr down.

Wenn ich Absagen per E-Mail erhalte, treffen sie mich wiederum nie. Das wird bei mir an den Emotionsportalen vorbeigelotst und wandert sofort in den Systemschrank.

Heute traf mich das sehr. Ich kann es mir dann schon runterrationalisieren, es dauert nur ein bisschen, aber nach einer Weile habe ich alles rational eingeordnet und es geht mir wieder gut.

Folgerichtig bat ich meine Frau, mir eine SMS zu schreiben, wenn sie sich von mir trennen will. Das muss sie mir wirklich nicht ins Gesicht sagen. Kann ich ohnehin nichts machen.

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Heute kam auch meine neue Lesebrille. Ich hatte sie in Reykjavík in einem Buchladen gesehen. Sie ist ein bisschen exzentrisch und ich befinde mich jetzt im Alter der exzentrischen alten Damen. Ich finde, ich sollte jetzt auch eine exzentrische Brille tragen. Bevor ich sie kaufte, achtete ich auf das Preisschild und entschied mich sofort dagegen, 70€ für eine Lesebrille auszugeben. Weil ich sah, dass es sich bei der Brillenmarke um eine niederländische Firma handelte, konsultierte ich deren Webseite und fand schließlich heraus, dass diese Brille in Kontinentaleuropa lediglich 29€ kostet. Das sind die isländischen Preise. Deswegen entschied ich mich für die kontinentaleuropäische Variante. Das Brillenglas ist allerdings unfassbar sauber. Deswegen trage ich sie nun nicht gerne. Aus Angst, dass sie so schmutzig wird wie alle meine anderen Lesebrillen. Dabei wurde mir schon oft gesagt, ich solle meine Brillen mal mit richtigem Brillenputzmittel reinigen. Wenn ich nur mein T-Shirt zum Reinigen verwende, verreibe ich eigentlich nur den Schmutz auf den Gläsern. Aber ich weiß nicht. Also, ich kann mit den milchigen Gläsern ja auch gut sehen. Nur im direkten Vergleich mit der neuen Brille weiß ich, was für ein Seh-Erlebnis mir wirklich entgeht.

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Was ist sonst noch passiert? Diane Keaton ist gestorben und der Nobelpreis für Frieden wurde an eine venezolanische Frau vergeben, die den Preis umgehend Trump widmete. Ich habe versucht, Maria Corina Machado einzuordnen, aber es will mir noch nicht recht gelingen. Fürsprecherinnen beschäftigen sich nicht mit ihrer politischen Gesinnung, Kritikerinnen dämonisieren sie jedoch gerade deswegen. Zugegebenermaßen hab ich mich aber auch nicht allzu lange darin vertieft, aber das Phänomen ist interessant.

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[Do, 9.10.2025 – Bahn, schwedische Akademie]

Beim Buchen der Reise nach Bozen wich ich nun auf die Bahn aus. Seit es die schnelle Strecke zwischen Berlin und München gibt, dauert die Fahrt theoretisch 3 Stunden und 45 Minuten. Damit hat sich die Fahrtzeit um 2 Stunden verkürzt und sie dauert nun weniger lange als der Abschnitt zwischen München und Bozen, den ich früher immer als die letzte Meile empfand. In den mittlerweile dreißig Jahren, in denen ich nicht mehr in Südtirol wohne, nahm ich nämlich meist die Bahn, von den Niederlanden aus oder auch aus Hamburg und die ersten zehn Jahre in Berlin. Üblicherweise nahm ich Nachtzüge. Mit der neuen, schnellen Verbindung kann ich aber auch tagsüber fahren und wenn dann der Brennerbasistunnel in ein paar Jahren fertig ist, dauert auch die letzte Meile nach Bozen nur noch 2,5 Stunden. Dann wird es wirklich eine schnelle Fahrt, die nur noch sieben bis acht Stunden dauert. Dauern könnte. Dass man diese Strecke in Frankreich in vier bis fünf Stunden überwinden würde, ist ein schöner Gedanke, aber ich will mich nicht den Träumereien hingeben.

Triggerwarnung. Wieder ein Schlechtelaunepost.

Denn erstens stellt sich heraus, dass die Fahrt nach München zurzeit 6 Stunden dauert und nicht wie versprochen „weniger als 4“. Es wird gerade gebaut. Seit Monaten. Weil die Fahrt dann mit Umstieg in München mehr als 11 Stunden dauern wird, beschließe ich, einen Nachtzug nach München zu nehmen, nur um dann festzustellen, dass es auf dieser Strecke keine Nachtzüge mehr gibt. Ich müsste entweder drei Stunden nach Hannover fahren, um dort in den Nachtzug zu steigen (schlägt mir die Bahn freundlicherweise auch so vor), oder mit dem Nachtzug nach Mannheim und dort den Zug nach München nehmen, dort wieder umsteigen etc.

Echt jetzt.

Dann halt eben keine Schiene. Die komfortablen Flugverbindungen von Berlin nach Bozen gibt es aber nur mittwochs und sonntags. Wenn ich andere Tage wähle, muss ich mit den Lufthansatöchtern oder Austrian in Frankfurt oder Wien umsteigen und dann in Innsbruck oder Verona landen. Die Kosten sind auch noch entsprechend.

Echt jetzt?

So kriegt man die Leute über Umwege auch wieder zurück auf die Schiene. Andererseits komme ich mir vor, als würde ich auf dem Land leben und nicht in der Hauptstadt der drittgrößten Volkswirtschaft. Währenddessen googelte ich über die Gründe der langsamen Bahn. Was hängen bleibt: Visionlosigkeit und viele Lokalpolitiker, die mitquatschen wollen. Es verschlechtert meine Laune.

So sehen die Fahrtzeiten auf der Strecke Berlin -> Bozen (mit einer Stunde Umstiegs-Pause) aus:

08:30 – wäre jetzt schon theoretisch möglich.

07:00 – nach dem Bau des Brennertunnels in 2030

05:00 – würde die Strecke in Frankreich dauern

11:30 – die Realität nächste Woche mit der Bahn

Und: 10:00 – mit dem Auto

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Ich habe nie etwas von László Krasznahorkai gelesen. Wahrscheinlich, weil ich mich nie besonders für ungarische Männer interessierte. Imre Kertész las ich auch nur, weil meine Frau mir den wärmstens empfahl. Achso, Ödön von Horváth habe ich auch gelesen. Aber das ist sehr lange her. Wirklich sehr lange. Ich kann mich an nichts mehr erinnern. Es hinterließ wahrscheinlich wenig Eindruck. Ágota Kristóf hingegen hat mich völlig umgehauen. Aber sie ist auch eine Frau. Als ich meine Frau kennenlernte, lasen wir uns alle vier Bände über die beiden Kinder vor. Das waren sehr eindringliche Texte, die ich heute noch spüren kann.

Und sonst heißt mein ungarischer Mann Pal Dardai und trainierte jahrelang Hertha BSC.

Aber über László Krasznahorkai weiß ich nichts. Jetzt, wo er von der schwedischen Akademie ausgezeichnet wurde, schaute ich natürlich nach, wie ein kleiner Schuljunge. „Verstörend, düster und freudvoll. Oft gleichzeitig.“ Damit kriegt man mich natürlich.

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Stillleben mit Dreierlei.