[woran ich mich erinnern will. KW34]

Am Samstag auf den Heimweg vom Stadion gab es auf der Frankfurter Allee eine Demo. Ich musste das letzte Stück also laufen. An der Frankfurter wurde es immer lauter und immer voller. Die Demo war in Wahrheit der Zug der Liebe, die ehemalige Love Parade. Ich trug Kopfhörer und hörte Max Richters Soundtrack zu “The Leftovers” und so durchquerte ich die Technoparade mit And know the place for the first time während die Leute um mich herum zu den Beats tanzten und die Polizeisirenen heulten.
Ich hätte gerne mein Innenleben gefilmt, als ich die Menge durchquerte.

Meine Schwester und ihre Tochter waren die ganze Woche in Berlin. Die Verbindung zu meinen Schwestern ist mir sehr wichtig und wir pflegen diese Verbindung sehr. Die ältere der beiden Schwestern hat drei Kinder und wenn ihre Kinder 6 Jahre alt werden, dürfen sie mit ihr nach Berlin reisen. Die Tochter war die Letzte. Nun müssen wir wieder mit den Jungs anfangen, wahrscheinlich stehen jetzt also die unbegleiteten Berlinreisen an. Der Älteste ist zehn geworden. Mit elf kann man schon mal alleine nach Berlin fahren. Zumindest wenn Onkel und Tante dort warten. Wir werden sehen.
Natürlich stellt sich dann auch die Frage, wann meine Schwester nach Berlin kommt, wenn nur noch die Kinder kommen. Sie wird dann ohne Kinder kommen, mit ihrem Mann vielleicht, es hat schließlich auch Vorteile kinderlos nach Berlin zu fahren. Viele Vorteile, sagt man.

Woran ich mich bei ihrem Besuch besonders erinnern will, ist die Fahrradfahrt am Mittwoch. Ich hatte frei genommen und wir fuhren den ganzen Tag mit dem Rad durch die Stadt. Die kleine Tochter hinten auf dem Fahrrad. Mir war gar nicht bewusst, was für eine gute Übersicht man über die Stadt bekommt, wenn man (relativ) Berlinfremde mit dem Fahrrad durch die Stadt leitet. Nun ist meine Schwester nicht unbedingt Berlinfremd, aber sie beklagt sich immer, dass die Stadt zu groß ist, dass sie sie nicht zu erfassen vermag. Da sie lange Jahre in Wien gelebt habt, sage ich immer, dass Berlin prinzipiell wie Wien aufgebaut ist, nur als würde man Wien zusätzlich einmal über die Donau falten. Das macht Sinn, es hilft aber auch nicht weiter.

Wir fuhren dann unter anderem zur Siegessäule und stiegen tatsächlich die Millionen Treppen bis auf die Aussichtsplatform hinauf. Muss ich als Einheimischer auch einmal gemacht haben, finde ich.

Am Freitagabend hatte ich einen ärgerlichen Terminkonflikt. Zum einen war ich um 18Uhr mit Freunden für ein Projekt verabredet. Dazu ein andermal vielleicht mehr. Das Meeting wurde auf meinen Wunsch hin auf jenen Freitag verlegt.
Der andere Termin war ein Biertasting in meiner Firma am Freitagabend um 18Uhr. Der Termin wurde auf meinen Wunsch hin in die entsprechende Woche verschoben. Ich hatte natürlich (warum auch immer) nicht mit jenem Freitag gerechnet, genau auf jenen Freitag wurde der Termin aber gelegt.
Ich tat also alles um beide Termine wahrnehmen zu können. Beides nur mäßig erfolgreich. Das Bier trank ich so schnell und so wild durcheinander, dass ich nach zwanzig Minuten nur noch ein seltsam saures Mündgefühl übrig behielt, aber trotzdem so viel Bier intus hatte, dass ich nicht mehr an Meetings teilnehmen sollte, entsprechend ungut war es dann auch, zu diesem Projekttermin mit Freunden teilzunehmen.

Am Samstag ging ich zum Ligaauftakt ins Olympiastadion. Hertha gegen Nürnberg. Nach dem irren Nationenquatsch namens Weltmeisterschaft und den entsprechenden rassistischen Freilauf um Özil und militärisch salutierenden Spielern vor vermeintlich verfeindeten Nationen, bin ich richtig glücklich wieder zurück im Stadion und feiere den Clubfußball. Bundesliga. Peace. (Zumindest bis es da wiedermal rund geht, aber das ist wenigstens kein Nationalquatsch).

Warum ich mich aber an diesen Tag erinnern will: es war ein historischer Moment.
Seit 25 Jahren wird beim Einlafen der Mannschaft ein (etwas olles) Kneipenlied von Frank Zander gespielt. Es ist eine Umdichtung von Rod Stewards “I am sailing”. Ich mag das Lied nicht, aber im Stadion, wenn vierzig- oder fünfzigtausend Menschen es singen, dann hat es etwas hingebungsvoll wehleidiges, das ist wirklich sehr schön.
Dieses Singen hat man jetzt zehn Minuten nach vorne gezogen und spielte stattdessen “Dickes B” von Seeed. Dickes B ist ein toller Song und Seeed eine wirklich tolle Band. Aber Dickes B kann man weder mitsingen noch funktioniert es um die Mannschaft zu pushen.
Da die Clubführung das Ganze in einem Bossmove von oben herab durchgedrückt hat, ohne es mit den Fans und Mitgliedern zu besprechen ging das ganze natürlich in die Hose. Das Singen des Zanderliedes ist ja fast schon religiös. Obwohl Seeed auch schon bei Herthaspielen auftrat und es eine allgemeine Sympathie zwischen den Parteien gibt, ging diese spontante Änderung überhaupt nicht.
Ich habe noch nie ein so lautes Pfeifen gehört. Nicht mal als man gegen Red Bull pfiff.

Am Montag hat man die Änderung natürlich wieder rückgängig gemacht.

[woran ich mich erinnern will. KW33]

Am Dienstagmorgen 4:16 klingelte mein Wecker. Wenige Stunden später saß ich im Flieger nach Kiew.

Ich saß auf dem Mittelsitz. Links neben mir eine junge Frau in Hotpants die durchgehend Selfies von sich nahm. Mit Peacezeichen, mit ausgestreckter Zunge, mit winkender Hand. Rechts neben mir saß ihr Freund. Wenn sie keine Selfies schoß, quatschte sie mit ihrem Freund. Über mich hinweg. Als ich merkte, dass die beiden vermutlich sehr viel miteinander sprechen würden, bot ich dem Mann an, sich auf meinen Platz zu setzen. Er lehnte ab und zeigte auf seine langen Beine.

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Ich fahre tatsächlich seit Wochen der Hitze hinterher. Gerade ist es in Berlin etwas abgekühlt, jetzt fahre ich in den Ofen namens Kiew.

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Wir sollten vom Flughafen abgeholt werden. Die Frau die uns abholen würde schickte uns ein Foto mit, damit wir sie erkennen. Das Foto zeigte eine Frau von beinahe klischeehaftiger Schönheit. Ein kühler Blick, hohe Wangenknochen und wallendes, blondes Haar. Fast unangenehm schön.

Am Flughafen erkannte ich sie sofort und ich war etwas erleichtert, dass sie mollig war und mehrere Jahre älter als ich. Mehr eine umwerfend schöne Dame als klischeehafte Schönheit. Ich weiß nicht, warum mich das erleichterte.

Sie trug ein elegantes, blaues Kleid, dazu blaue Pumps und eine Perlenkette. Sie fuhr einen Jeep. Ein junger Mann begleitete sie. Er sprach gutes englisch. Man wollte uns Kiew zeigen, das Englisch der Dame war nicht ganz flüssig, daher eignete es sich vermutlich, wenn jemand besseres englisch sprach.

Als wir zum Mittagessen ins Restaurant gingen ereignete sich folgendes: die Dame ging voran, hinter ihr meine Kollegin, danach ich und hinter mir der junge Mann. Vor der Tür blieb die Frau stehen. Dann schaute sie zu uns zurück und sagte etwas auf russisch. Es klang wie ein Vorwurf. Der junge Mann beeilte sich nach vorne und öffnete ihr die Tür. Ich bin mir nicht sicher wie ich das einzuordnen habe, jedoch vermutete meine Kollegin, die etwas russisch spricht und eine osteuropäische Affinität hat, dass mir als ältester Mann die Rolle des Türöffners zugedacht war. Danach achtete ich den ganzen Tag nur noch auf geschlossene Türen.

Bis wir ins Auto stiegen. Mein Platz war hinterm Fahrersitz, also stieg ich an der linken Seite ein, wo auch sie als Fahrerin einsteigen würde. Sie blieb vor der geschlossenen Autotür stehen. Der junge Mann, der eigentlich rechts vorne saß, lief schnell um das Auto herum und öffnete ihr die Tür. Ich verstehe sowas immer erst zehn Sekunden zu spät.

Für sie bin ich vermutlich ein Barbar.

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Wenn ich ehrlich bin, weiß ich wenig über die Ukraine. Hinter Frankfurt O kommt Polen, da kann ich die Städte noch einigermaßen gut verorten, aber hinter Krakau wirds dann schwierig. Lemberg, Kiew, Ostukraine, Moskau. So ungefähr. Luhansk kenne ich noch vom Europaleague Spiel gegen Hertha. Weiter unten ist die Krim, weiter oben die baltischen Staaten. Die baltischen Staaten kenne ich gut, da war ich bereits mehrmals. Aber die Ukraine. Punktpunktpunkt.

Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, dann schaue ich auf Youtube manchmal diese endlos langen Filmfolgen von Dashcam Aufnahmen aus Russland an. Also Verkehrsunfälle, Leute die aus Autos aussteigen und andere Leute in Autos bedrohen und solch dummes Zeug. Von der Spree aus sieht die Ukraine eben aus wie ein kleines Russland. Also ein Land in dem Leute aus Autos aussteigen und andere Leute in Autos bedrohen. Nur in klein halt.

Dann liest man über das Problem mit den präparierten Geldautomaten und den militärischen Konflikt wegen der Krim und der Ostukraine. Von Gehältern bei 300€ pro Monat aber westlichen Preisen wenn man Essen geht oder Telefone kauft. Dann das kyrillische Alphabet. Straßenwerbung wirkt auf mich wie Werbung für Kosmonautenschulen oder antiamerikanische Propaganda. Regale mit Konserven sehen mit kyrillischen Schriftzeichen aus wie Notreserven für Atomschutzbunker. Hey, ich bin Kind der westeuropäischen Achtziger. Es ist geographisch so nah (näher als Madrid) aber so weit weg von meiner westeuropäischen Realität. Es ist auch nicht so exotisch wie Asien oder Afrika. Es ist für mich eher ungreifbar. Ungreifbar fremd.

Kiew ist mir dann erstaunlich unfremd. Es ist ein wenig so als hätte man Berlin mit Steroiden vollgepumpt und nach südwest Sizilien verpflanzt. Hier und da ein bisschen Mafia und rumhängende Männer mit Glatze, Bauch und Bier, richtig geil kaputte Straßen und fröhlich entspannte Liebespaare im Park, auch nachts, überall und überhaupt: entspannte Leute.

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Jetzt wo es in Kiew wieder etwas abkühl und ich zurück nach Berlin fahre, lese ich: neues Hitzewellchen in Teilen Deutschlands. Und Natürlich ist Berlin in diesem Teil des Landes, schließlich fahre ich ja der Hitze hinterher.

[was schön war KW32]

Weil ich mein Blog wiedergefunden habe, mache ich jetzt einfach weiter und schaue am Ende jeder Woche wieder zurück. Auf das was schön war. Oder auch nicht. Auf die Dinge an die ich mich erinnern will. Vielleicht benenne ich die Serie auch um.

Die erste Woche wieder zurück in Berlin. Während in Schweden die Temperaturen sich gerade begannen zu mäßigen, musste ich wieder zurück in den Ofen namens Berlin, der unter der Woche noch einmal richtig den Regler aufdrehte. Ich leide darunter sehr. Es ist keine Attitüde. Insbesondere die Nächte auf Mittwoch und auf Donnerstag waren für mich unerträglich. Ich kann mich nicht wirklich daran erinnern, geschlafen zu haben. Vermutlich verbrachte ich einige Teile der Nacht in einer Art Halbschlaf, die verbleibenden Teile schleppte ich mich durch die Wohnung auf der Suche nach kühleren Orten, manchmal fand ich mich nackt auf den Fliesen des Badezimmers liegend wieder, manchmal im Wohnzimmer auf den Dielen mit dem Rücken unterm Fenster ausgestreckt, in der Einbildung lebend, kühlere Luft würde vom Fenster über meinen Rücken hereinwehen.

Den Dienstagabend verbrachte ich bei 33 Grad mit dem spontanen Schreiben über den Winter 95/96. Selbsttherapie. Während der drei oder vier Stunden, die ich damit verbrachte, den Text zu schreiben, war mir wirklich angenehm kühl. Dann setzte ich den Text ohne großem Korrekturlesen einfach online und legte mich ins Bett. Sofort war der ganze Kühlungseffekt verschwunden. Nicht wegen des Korrekturlesens natürlich. Sondern weil die Geschichte nicht mehr da war.

Am Mittwochabend waren K und ich bei unseren Lieblingsnachbarn zum Essen eingeladen. Wir müssen dafür nur die Straße überqueren. Der Temperatur wegen sah ich es als angemessen an, Strandsandalen zu tragen, zu einer Boxershorts-artigen Hose und einem schwarzen Muskelshirt. Ich traute mich damit kaum auf die Straße. Was würden die Nachbarn bloß von mir denken. Aber da ich es der Temperatur wegen so angemessen fand, tat ich es trotzdem und im Nachhinein wäre ich mit einer langen Hose vermutlich gestorben. Unsere Lieblingsnachbarn schenkten außerdem Bier ein. Und Wein. Und Campari. Mein Körper heizte sich auf wie ein Steinofen. Trotzdem war ein außerordentlich netter Abend, ich hätte da noch ewig sitzen und quatschen können.

Am Freitag flogen wir nach München und mieteten uns ein Auto, mit dem wir nach Innsbruck zu einer Hochzeit fuhren.

Ich schreibe Innsbruck immer zuerst Inssbruck bevor ich es auf Innsbruck korrigiere. Der erwartbare Fehler den ich noch nicht um die Ecke kommen sehe. Auch habe ich eben dreimal das Wort nachkorrigieren müssen, weil ich bei Inssbruck (jetzt lasse ich es mal stehen) immer erst groß Anlauf nehme, weil gleich ein Doppelanschlag kommt, beim Doppelanschlag merke ich jedoch immer, dass ich zu viel Anlauf genommen habe und der Doppelanschlag dann erst beim nächsten Buchstaben landet. Inssbruck schreiben ist für mich eher ein Geschicklichkeitsspiel, das ich üben und über muss, wie kickern oder Tischtennis.

 

Auf der Hochzeit in diesem Dorf unweit von Innsbruck begegnete ich einigen Menschen die ich 25 Jahre nicht mehr gesehen habe. Ich war total gespannt auf die Lebensgeschichten die sie mir zu erzählen hätten, es gab jedoch keinen Rahmen mit diesen Menschen zu sprechen, da ich sie zu wenig gut kannte und das Programm der Hochzeit dermaßen durchgetaktet war, dass mir am Ende des Abends, als die Band zu spielen begann und der Alkohol sich in meiner Birne breit machte, schlicht die Energie fehlte.

Ein seltsamer Zufall wollte, dass sowohl K als auch ich ausschließlich schwarze Kleidung in die Koffer gesteckt hatten. Schwarze, feine Hose, schwarzes Jacket, schwarze Weste. K ein schwarzes Kleid und schwarze Schuhe. Wir sahen auf der Hochzeit aus, als würden wir ein Begräbnis schwänzen. Mir kommt vor, wir fielen auf. Nicht immer durchweg positiv.

[Winter 95/96]

Als ich im Dezember 1995 in die Niederlande zog, hatte es bereits Minusgrade. Ich kannte Karel, einen jungen Hausbesetzer in Utrecht, bei dem ich eine Weile unterkommen konnte. Bis ich eine eigene Bleibe gefunden hatte, da ich ohnehin länger in den Niederlanden bleiben wollte. Ich war in diesem engen, habsburgerisch-grauen Wien nicht zurechtgekommen, ich brauchte einen Neuanfang.

In Schiphol rief ich Karel an, der mir noch die letzten Details der Wegbeschreibung mitgab. Dabei warnte er mich vor, dass das Gästezimmer keine Heizung habe und es momentan leider etwas kühl sei, aber in der Küche gäbe es einen Gasofen, der meistens ausreiche. Man könne dort prima sitzen und etwas lesen oder fernsehen.

Als ich in Utrecht ausstieg war es noch einmal deutlich 2 oder 3 Grad kälter als in Amsterdam. Ich musste mit der Tram in einen Außenbezirk fahren und dort noch ein Stück laufen. Den niederländischen Winterwind war ich noch nicht gewohnt, ich würde einige Winter dafür brauchen. Also hielt ich die Hände gut verstaut in den Jackentaschen und vergrub das Gesicht so gut es ging im Kragen. An eine Mütze oder einen Schal hatte ich nicht gedacht, aber das würde ich schon aushalten.

Die Schule war ein dünnwändiger Flachbau aus den siebziger Jahren. Anfang der Neunziger hatte man Asbest darin entdeckt, woraufhin die Schule in Leerstand geriet. Danach stritt sich der Bildungsträger jahrelang mit der Stadt und in der Zwischenzeit zogen Besetzer ein. Eigentlich eine feine Situation für Hausbesetzer, solange man keine Nägel in die Asbestwände haut oder diese rausreißt und Zimmer zusammenzulegen.

Das Gebäude hatte dünne Wände aus Asbestplatten, die von einem Holzrahmen getragen wurden. Außerdem äußerst große, einglasige Fensterscheiben. Ich fragte mich, warum man in einem kühlen Land wie die Niederlande überhaupt auf diese Weise baut. Die Schule war natürlich kaum beheizbar. Die Küche war nicht eine kleine Küche mit einem kleinen Fenster und einem kleinen Tisch mit einer knuffeligen Ofenheizung. Die Küche war ein ehemaliges Klassenzimmer. Also etwa achtzig Qadratmeter groß. Mit einem kleinen Gasofen, der für eine kleine knuffelige Küche ausgereicht hätte. Die Wärme des Ofens entwich durch die Wände und die Fenster. Ging man vom Ofen weg in Richtung Fenster schritt man durch 5 verschiedene Klimazonen. Am Fenster vereiste das Kondenswasser.

Karel meinte, es sei schon ganz besonders kalt gerade.

Das Gästezimmer war ein ehemaliges Abstellzimmer. Es war kleiner als die ständig bewohnten Klassenzimmer, was im Winter gut war, weil es sich theoretisch besser aufheizen ließ. Außerdem besaß es keine Fenster, was gegen Kälte druchaus gut sein kann. Andererseits war es eben auch das Zimmer ohne Heizung. Aber das würde ich schon aushalten. Außerdem wollte ich mir eine feste Bleibe suchen, das unbeheizte Zimmer würde nur eine vorübergehende Lösung sein.

Die ersten Wochen verbrachte ich damit, mich nach leeren Häusern umzusehen und mich mit Leuten zu verabreden, die ein Haus besetzen wollten. In Utrecht wurde damals jede Woche ein Haus oder eine Wohnung besetzt. Das war Routine. Es war sogar legal, solange man nachweisen konnte, dass das Haus mindestens 6 Monate leer stand. Dann bekam man Hausfrieden zugesprochen, also recht auf Wasser, Gas und Strom. Die Besitzer mussten die Besetzer dann rausklagen. Was ihnen allerdings immer gelang.

In jenen Dezembertagen schlich ich mich nächtelang durch die eisigen Utrechter Gassen um vermeintlich leerstehende Häuser auszukundschaften. Prüfen ob nachts Licht brennt, Streichhölzer in den Türrahmen stecken und in den nächsten Nächten mehrmals nachsehen ob die Streichhölzer noch steckten, weil man dadurch herausfinden konnte ob zwischenzeitlich die Tür geöffnet wurde. Kurz vor Weihnachten war das natürlich nicht hundertprozentig aussagekräftig, kleine Häuser konnten da schon mal über mehrere Wochen leer stehen und in Utrecht sind die alten Häuser oft so klein, dass sie tatsächlich nur von einer einzigen Familie oder einer einzigen Person bewohnt werden. Für jene Nächte hatte ich mir Handschuhe, eine Mütze und einen Schal zugelegt. Wenn ich mit meinem neuen Freund Jochem durch die Straßen lief, redeten wir eigentlich kaum, es war zu kalt um freiaus zu reden. Unsere Gesichter waren im Schal und unter der Mütze verschwunden. Wir redeten nur über die Eckdaten „Streichholz noch da“ „Gut, kein Licht“ „Lass uns ein Bier trinken gehen“.

In die Kneipe zu gehen und das erste Bier zu trinken war immer das schönste. Wenn man rein in den warmen Raum geht, Schal und Mütze abnimmt und das erste Bier von innen her Ohren und die Nase auftaut.

In der Zwischenzeit wohnte ich noch in der besetzten Schule in diesem unbeheizten Zimmer. Ich schaffte mir einen kleinen Gasstrahler für 10 Gulden und eine Propangasflasche an. Als die anderen Bewohner der Schule das erfuhren, gab es ein Riesentheater, da man man keine Gasflaschen im Haus haben wollte. Vor drei Jahren war ein besetztes Haus an der Aquamarijnlaan wegen einer Gasflasche in die Luft geflogen. Die Stimmung war eindeutig gegen mich, ich musste mich von der Gasflasche verabschieden und sie wieder zurückgeben. Mich ärgerte das ungemein, nicht nur wegen der Kälte sondern auch, weil ich für die Flasche einmaligen Pfand bezahlt hatte, den ich nicht wieder zurückbekommen würde. Das waren immerhin 30 oder 40 Gulden. Eine Menge Geld für mich. Damals war ich noch nicht so gut vernetzt, dass ich die Flasche in der Zwischenzeit bei jemandem unterbringen hätte können, auch Jochem gab mir zu verstehen, dass Gasflaschen seit dem Aquamarijnlaanvorfall, in seinem Haus unerwünscht seien. Ich wollte mich aber nicht von der Flasche trennen und versteckte sie daher im Unterholz eines Baumes am Ufer der Catharijnesingel. Ich kam da jeden Tag daran vorbei, wenn ich mit dem Fahrrad von der Innenstadt zu meiner Unterkunft in die Lanslaan fuhr. Das äußere Ufer der Catharijnesingel ist eine Böschung mit mehreren alten Bäumen. Da jener Abschnitt sehr stark befahren war gab es faktisch keinen Fußgängerverkehr, allerdings einen Fahrradweg, so konnte ich nachts einfach anhalten und die Gasflasche ins Unterholz legen und hoffen, dass sie einige Wochen unentdeckt blieb.

Zu Weihnachten waren die meisten Bewohner der besetzten Schule weggefahren. Nur wenige Leute blieben zuhause. Wir kochten gemeinsam und tranken das eine oder andere Bier. Aber der Gasofen fiel ständig aus, so musste der Zündknopf etwa alle zehn Minuten händisch gedrückt werden. Nach dem zweiten oder dritten Bier verschwanden nacheinander alle in ihre Zimmer. Ich blieb noch eine Weile in der Küche, aber das ständige Anschalten des Ofens nervte mich irgendwann auch, also ging ich in mein Zimmer, verkroch mich in meinen Schlafsack, der für minus zwanzig Grad angelegt war, und las ein Buch.

In jenen Wochen wachte ich jeden Morgen mit einer kalten Nase auf. Ich kroch aus dem Schlafsack heraus, zog meine Kleider aus, waschte mich, und zog die Kleider wieder an.

Mitte Januar besetzte ich mit Jochem, Nicolette und Linda ein Haus in der Lange Nieuwstraat. Ein knuffeliges, kleines Altstadthäuschen aus dem 17. Jahrhundert. Das Haus bestand aus einem Erdgeschoß, einer ersten Etage und einem Dachgeschoß. In den beiden Obergeschossen befanden sich je zwei Zimmer. Das Erdgeschoss war früher ein Gewerberaum, er ließ sich kurzfristig nur als Lagerraum verwenden, aber wenn wir dort länger wohnen bleiben würden, wollten wir es als Wohnzimmer umfunktionieren.

Die Obergeschosse waren zum Teil ausgebaut und renoviert worden, es gab funktionierende Wasserleitungen aber keine intakten Stromleitungen. Es gab auch ein ein Heizungssystem. Zentralheizung mit Leitungen und schicken Heizkörpern. Allerdings keinen Boiler bzw Verbrenner, der die Heizung mit Hitze versorgen konnte.

In der Hausbesetzerszene gab es immer außerordentlich viele Fachkräfte. Für jedes technische Problem gab es immer jemanden, der es lösen oder reparieren konnte. In besetzten Häusern gab man sich allgemein aber auch immer schnell mit Provisorien zufrieden. Heizungen waren immer entweder Holzöfen oder Gasöfen. Eine Zentralheizung war teuflische Raketentechnik.

Wir fanden im ersten Winter niemanden der unsere Zentralheizung in Gang setzen konnte. Richtige Heizungsfirmen hätten das sicherlich lösen können, aber vermutlich hätten sie von uns keinen Auftrag angenommen und zweitens wäre uns das sicherlich teuer zu stehen gekommen.

Ich zauberte natürlich meine Gasflasche von der Catharijnesingel hervor. Mein Gasstrahler den ich an die Flasche anschließen wollte, war natürlich nicht mit einer leistungsstarken Heizung zu vergleichen. Er produzierte keine Umluft, sondern er strahlte einfach starke Hitze in seiner unmittelbaren Nähe ab. Er eignete sich also eher dafür, direkt davor zu sitzen und sich zu wärmen, oder ihn neben sich stehen haben und sich anstrahlen zu lassen während man Karten spielt. Er konnte aber, wie sich später herausstellen würde, einen kleinen Raum auch durchaus komplett aufwärmen, wenn man ihn lange genug brennen ließ.

Aber auch in meinem neuen Haus stieß die Gasflasche auf Ablehnung. Die Aquamarijnlaan.

Die ersten Nächte waren eisig. Trotz der kleineren Räume war es deutlich kälter als in der Lanslaan. Unser neues Haus war monatelang unbewohnt gewesen und damit auch die ganze Zeit über unbeheizt geblieben. Die Kälte saß in den Steinen der Mauern, sie strahlte regelrecht davon ab.

Nach der dritten oder vierten Nacht zapften wir den Strom an, legten ein langes Kabel in Nicolettes Schlafzimmer und schafften uns einen elektrischen Radiator an. So lange wir den Strom illegal verwendeten war das durchaus eine Lösung. Wenn wir mal dafür zahlen mussten, war das natürlich keine Option mehr, denn elektrische Radiatoren fressen Strommengen, die unser Geldbeutel nicht hergeben wollte. Aber wir spekulierten darauf, dass unser Stromkonsum den Winter über unentdeckt bleiben würde.

Durch Nicolettes etwas unprivaten Lebensstiles, verwandelte sich ihr Zimmer bald in so etwas wie das Wohnzimmer. Sie hatte immer Besuch und immer saßen irgendwelche Leute auf ihrem Bett. Das war ungemein praktisch, weil wir deswegen wirklich ein relativ warmes Zimmer im Haus hatten. Der Radiator lief Tag und Nacht und weil immer jemand anwesend war, blieb das Zimmer durchgehend auf einer eher günstigen Temperatur. Der Radiator war nicht besonders leistungsstark und draußen waren die Temperaturen wieder in den zweistelligen Minusbereich gerutscht, aber wenn wir uns einigermaßen ernsthaft bekleideten hielt es uns vom Frieren ab.

In der ersten Februarwoche froren dann die Grachten zu. Das sorgte allerdings auch für gute Stimmung. Man bewegte sich nicht mehr auf den Straßen, sondern spazierte auf dem Eis der Grachten. An den Ufern wurden spontane Glühweinstände eröffnet. Menschen fuhren mit den Schlittschuhen. Man konnte auf den Kaimauern sitzen und dem Treiben zusehen, wo sonst nur Wasser war.

Nachts schmissen betrunkene Leute Kühlschränke und Fahrräder von den Brücken aufs Eis. Die Kühlschränke blieben einfach auf dem Eis liegen. Sie waren nicht schwer genug um das Eis zum Einbrechen zu bringen.

In jener Woche wurde uns dann der Strom abgestellt. Damit war die Traumzeit mit dem elektrischen Radiator vorbei. Das Haus kühlte schnell wieder aus, schließlich war ja nur das eine Zimmer mäßig beheizt worden.

In den beiden häuslich warmen Wochen hatten wir uns auch einen alten Kühlschrank angeschafft. Wir wussten jetzt nicht, was wir mit der Milch und der Butter anfangen sollten. Im Kühlschrank stehen lassen, weil es draußen zu kalt ist? Ich kann mich nicht mehr erinnern wie wir uns entschieden.

Wenige Tage darauf meldeten wir aber den Strom an. Das gab natürlich Stress mit der Stromgesellschaft weil die Bleiversiegelung durchgebrochen war. Aber wir wussten davon nichts, wir sind erst gestern eingezogen. Der Mann vom Strom quittierte das mit Wegwerfgesten. Er schloss uns aber an. Den Radiator würden wir allerdings nicht mehr verwenden. Allerdings hatten wir wieder Licht und auch der Kühlschrank funktionierte wieder.

Die Temperaturen blieben jedoch niedrig, nachts hing das Mercurius bei Minus 15 Grad herum. Tagsüber wurde es manchmal einstellig. Meistens aber nicht. Ich schlief mit Mütze. Jochem auch. Nicolette hatte immer Männer im Bett. Das fand ich auch kreativ. Linda weiß ich nicht mehr. Oft schlief sie auch bei Nicolette. Aber nicht wenn Männer da waren.

So war das. Irgendwann ging der Winter aber wieder weg.

[Ulaubstagebuch 7]

Am vorletzten Abend noch ein paar Flaschen Stigbergets getrunken. Ich würde gerne poetische Texte über Bier schreiben können. Dann würde ich Texte über das “Amazig Haze” und das “Westcoast IPA” von der Göteborger Brauerei Stigbergets verfassen. Minnesängermäßig. Ich kannte diese beiden Biere schon aus Berlin, mittlerweile bekommt man sie ja auch hier. Ich mag nicht alles von Stigbergets, aber. Diese beiden Biere. Wenn ich nach einem heißen Tag den ersten Schluck vom “Amazing Haze” nehme, muss ich danach immer die Augen schließen und zu Boden schauen, damit niemand merkt wie meine Augen feucht werden.

Am Freitag haben wir eigentlich nur gepackt. Was in einen kleinen UP! alles hineinpasst, das glaubt einem niemand.

Endlich hat sich das Wetter abgekühlt. Schaue ich allerdings auf das Wetter in Berlin, ist alles beim Alten. Schlimmer noch, es soll wieder 37 Grad heiß werden. Hitze und ich, wir werden keine Freunde mehr.

Die Reise verläuft so gut wie unkompliziert. Irgendwann in Dänemark fängt mein Auto an zu klappern. Ein Geräusch aus dem hinteren Teil. Im Seitenspiegel sehe ich, dass ein Kotflügel lose ist. Wenn ich schneller als 100 fahre, klappert er, fahre ich langsamer beruhigt er sich. Ich hatte mal ein unglückliches Aufeinandertreffen mit dem Bordstein, seitdem macht der Kotflügel Schwierigkeiten. Dass er bei 100kmH klappert, ist allerdings neu. An der nächsten Tankstelle kaufen wir silbernes Panzertape und kleben den Kotflügel fest. Er hält die ganze Fahrt lang wunderbar. Ich kann sogar 160 damit fahren und alles bleibt stabil. Und ich fahre ständig 160, ich weiß nicht, was mit mir passiert ist, war ich bis im letzten Jahr ein notorischer 80-Fahrer, komme ich mir neuerdings mit 120 immer vor wie ein Schleicher, wenn ich dann zufällig wiedermal auf das Tacho schaue, düse ich wieder mit 160 dahin. Die Entwicklung gefällt mir nicht. Trotzdem überhole ich immer gerne dicke Autos. Auch wieder so eine Sache über die ich mal näher drüber nachdenken sollte.

Zwei Ampeln vor unserem Zuhause ploppt unser Nachbarchat in Whatsapp auf. Die Nachbarin fragt, wann wir eigentlich wieder zurück in Berlin sind. Ich schicke ihr die Standortkoordinaten zu. Das sieht natürlich lustig aus.

Als wir parken, kommt sie gerade vom Supermarkt und lacht.

Hemma.

[Urlaubstagebuch 6]

Badminton gespielt. Der Hund versteht den Federball nicht als Hundespielzeug. Er lässt uns in Ruhe.

Dieses Jahr sind wir nie wirklich in den Wald gegangen. Also ganz tief in den Wald, zum Beeren- und Pilzepflücken. Wälder sind ja gruselig. Unübersichtlich, dunkel. Wenn man sich aus den Augen verliert, kann man sich auch richtig verlieren. Der Wald schluckt die Rufe nach dem Anderen. Es fehlt oft an Orten der Orientierung. Wenn man innerlich düster wird, sieht man plötzlich überall hinter den Bäumen Bewegungen.

Der Hund sitzt beim Essen immer bei mir unterm Tisch. Ich habe das bisher als Zeichen seiner Liebe interpretiert. Heute wurde ich eines besseren belehrt. Er sucht sich die Person aus, bei der statistisch die meisten Reste vom Tisch fallen.

Wir fahren zum Mio Möbelhaus nach Borås. Letztes Jahr hatte ich mich dort in einen Loungesessel verliebt. K meinte damals, so einen Sessel würden wir auch in Berlin finden und zwar wesentlich günstiger. Auch ich war nicht bereit 600€ für einen Sessel hinzublättern. Das ganze Jahr über suchte ich also nach einem ähnlichen Sessel in Berlin und fand nicht annähernd einen der mir so gut gefiel. Den Sessel gab es nicht auf der Mio Webseite, also blieb mir nichts anderes übrig als weiterzusuchen und auf meine nächste Schwedenreise zu hoffen.

Mein Sesselproblem ist ein Firstworldproblem. Ich schaue ja viel Fußball, allerdings mag ich es nicht, im Wohnzimmer auf dem Sofa zu gucken, für mich gehört Fußball in die Küche, also dort wo etwas los ist, wo ich auch stehen kann, wo ich auch nebenher kochen kann. So haben wir das aufgeteilt. Wohnzimmer ist K’s Bereich, die Küche ist eher mein Bereich. So auch unser Fernsehverhalten. Ich schaue in der Küche Fußball. In der Küche möchten wir aber kein Sofa stehen haben, denn es ist ja eine Küche, wenn ich Fußball gucke nehme ich also immer einen der Sessel aus dem Wohnzimmer und parke ihn in der Küche.Der Wohnzimmersessel ist zwar gemütlich, er ist aber klobig und ziemlich schwer, weil ich oft zu faul bin, den Sessel wieder zurück ins Wohnzimmer zu bringen, lasse ich ihn manchmal die ganze Woche mitten in der Küche stehen (in 5 Tagen kommt ja eh wieder Fuba), was aber auch bedeutet, dass man eine ganze Woche lange Bogen um den Sessel machen muss.

Der Sessel muss folgende Kriterien haben: eine große Sitzfläche (ich muss mich viel darin bewegen können, Position wechseln, Füßen hochziehen, Beine in allen Richtungen legen können), an den Seiten nicht offen (damit das Handy nicht runterfällt), er muss leicht sein (damit ich ihn easypeasy vom Wohnzimmer in die Küche tragen kann), er muss drehbar sein (die Aufregung! Die Aufregung!) und vor allem: er muss gut aussehen.

Was er nicht sein muss: er muss nicht hundertprozentig gemütlich sein.

Bei Mio in Borås stehen jetzt an genau der selben Stelle wo letztes Jahr meine Sessel standen, vier Drehsessel die supergut aussehen und leicht sind, aber nur eine kleine Sitzfläche haben und an den Seiten offen sind, also nur 60% der Kriterien erfüllen. Dafür zum gleichen Preis wie letztes Jahr.

Nein, keine Pointe.

Vielleicht lasse ich das mit dem Fussball aber auch sein. Spare ich mir Geld für einen Sessel und dem Skyticket. Ich denke alle paar Tage darüber nach, das mit dem Fussball ganz sein zu lassen. Die Inflationäre Entwicklung mit dem Geld, die Kultivierung der Dumpfheit, die kurze Zündschnur der Leute, Fußball ist eigentlich durchgehend verwerflich. Wäre da nicht dieser dramatische Faktor. Diese Dramaturgie die der Fußball Woche für Woche schreibt.

Weiß nicht. Einen schönen Sessel kann man notfalls ja immer noch brauchen.

[Urlaubstagebuch 5]

Den ganzen Tag lang über Schlangen gelesen. Vor allem über die europäischen Varianten. Ich bin jetzt Schlangenprofi, wenn ihr etwas über Schlangen wissen wollt, nur zu.

Das Internet in Schweden. Wir haben hier Glasfaser bis ins Haus. Ich will mal verdeutlichen wo wir uns befinden: Der nächste Nachbar ist die Tante meiner Frau, die einen Kilometer flussaufwärts wohnt. Auch in einem roten Holzhaus mit Plumpsklo. Die nächste Asphaltstraße befindet sich anderthalb Kilometer nördlich. Der Weg dorthin ist aber so schlecht, dass wir mit dem Auto immer den südlichen Weg nehmen um auf eine feste Straße zu gelangen. Dieser ist zwar fast 5 Kilometer lang, aber in weiten Teilen besser befahrbar. Das nächste Dorf ist sechs Kilometer entfernt. Da gibt es aber keine Geschäfte, nicht mal einen Bäcker, deshalb fahren wir da nie hin. Der nächste Supermarkt ist etwa 16 Kilometer entfernt, in  Richtung Süden. Dort kann man auch Alkohol kaufen. Östlich von uns ist gefühlt gar nichts. Wenn ich auf Googlemaps scrolle, dann sehe ich zugewachsene Seeen, in etwa fünf Kilometern Entfernung ein paar (vermutlich Holz-) Häuser, aber lange, lange kein Dorf und irgendwann sehr weit weg kommt eine größere Straße.

Es gab hier im Wald schon 4G und LTE als Berlin noch voller Funklöcher war. Vor drei Jahren hat man dann die Glasfaserleitung gezogen. Richtig aufwändig unter den Fluss hindurch. Ab dem Fluss kam ein kleiner, lustiger Minibagger der einen 20cm breiten Graben quer durch den Wald grub. Der ganze Aufwand für drei Häuser, die auf dieser Seite des Flusses stehen, wovon zwei nur im Sommer bewohnt sind.

Ich schreibe diesen Text während ich mit einem Gigabit am Internet hänge. Wir schauen hier Netflix, nebenher läuft Internetradio oder Spotify. In Berlin beträgt meine Höchstgeschwindigkeit ziemlich genau ein Zwanzigstel dessen. In der Hauptstadt, you know, einer der größten Industrienationen, Hub der Internetfirmen.

Es ist so heiß. Im Haus ist es so warm, dass ich nicht darin sitzen will. Im Schatten vor dem Haus ist es so warm, dass ich nicht sitzen will, außerdem habe ich schon so viel über Schlangen gelesen, dass ich ganz unentspannt bin, wenn ich im Freien herumsitze. Also spaziere ich ein paarmal hinunter zum Fluss und wieder hinauf. K begleitet mich. Wir sind so träge, wir machen kleine und langsame Schritte, laufen gebückt, versuchen uns von Schatten zu Schatten bewegen. Unten auf der offenen Wiese beim Fluss ist es unerträglich. Auf einmal sehen wir einen fremden Menschen. Einen Menschen. Irre. Wir sind so überrascht als wäre es ein Ufo. Es ist eine Joggerin. Sie trägt einen Tanktop, hat stählerne Bauchmuskeln, einen blonden Zopf und Kopfhörer. Als würde sie durch Mitte joggen. K sagt: Bauch einziehen. Wir ziehen beide den Bauch ein. Die Joggerin grüßt freundlich und auch wir sagen: hej.

Sekunden später ist der Spuk vorbei.

Übernächste Woche fahren wir zu einer Hochzeit in die Nähe von Innsbruck. Ich freue mich schon sehr auf das klimatisierte Hotelzimmer. Das meine ich durchaus ernst. Ich habe diese Phantasie gestern Nacht als Einschlafhilfe verwendet. Ich stellte mir vor, wie ich nackt auf dem Hotelbett mit eingeschalteter Klimaanlage liege. Alleine. Ich schlief wie ein Lämmchen ein.

Heute schaute ich in meine Reiseunterlagen. Das Hotel heißt “Zur Sonne”. Ah, fickdich.

Es regnet. Seit 5 Minuten. Dieser Geruch. Ausrufezeichen.