[Montag, 13.9.2021 – Frisur, großflächig tätowiert]

Wieder im Frisursalon gewesen. Der zweimonatliche Rythmus scheint gut zu sein. Heute hatte ich eine andere Friseurin zugewiesen bekommen. Sie ist neu, kommt aus Franken, wir verstehen uns auf Anhieb, plaudern die ganze Zeit über das Reisen. Nicht Gehaltvolles, aber schönes Schwärmen über Gegenden, die man kennengelernt hat.

Sie ist großflächig tätowiert. Am Hals hat sie eine Motte, vom Nacken hoch bis hinter den Ohren ein Muster, das nach Blättern aussieht. Ihre Muskulösen Oberschenkel zieren Blumen und eine Galgenszene. Eine Gruppe von schwarzen Schatten, die um einen Galgen herumstehen. Ihre Handrücken sind schwarz tätowiert. Gedeckt schwarz. Diesem gedeckten schwarz kann ich wenig abgewinnen. Ein Bekannter hat seinen ganzen rechten Arm schwarz stechen lassen. Einfach großflächig, gedeckt schwarz. Hätte ich so etwas, ich würde mich unwohl fühlen wie mit einem ewigen Sonnenbrand. Ich habe einmal zugesehen, wie das gemacht wird. Da wird mit einem breiten Nadelkamm einfach in die Fläche gestochen. Stechen, stechen, stechen, Blut weg. Stechen, stechen, stechen, Blut weg. Weil man bei solchen großflächigen Arbeiten nicht gut sehen kann wo man hinsticht, sticht man einfach die ganze Zeit auch in die Wunden.

Ich sage ihr, diese großflächigen, gedeckten Tätowierungen finde ich immer etwas hart. Tut sicherlich weh, wenn man da ewig lange in wunder Haut herumgestochen wird. Sie lacht und sagt, sie sei hart im Nehmen.
Gott, ich habe echt gefragt, ob es weh täte.

Sie schneidet anders als ihre Kolleginnen. Der Haarschnitt gerät ungewohnt kurz und etwas undercuttiger. Ich sagte im Voraus, dass ich Undercuts mag, mir diese aber nicht sehr stehen, also soll sie einfach etwas in Richtung Undercut machen ohne einen Undercut zu machen, also Seite kurzer und oben etwas länger, so wie es ihre Kolleginnen auch machen.
Es ist jetzt undercuttiger geworden. Aber es steht mir.

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Heute bin ich wieder ewig im Büro. Ein Mitarbeiter hat Redebedarf. Wir sprechen lange über die Dinge.
Eigentlich müsste ich heute anfangen zu packen, ich möchte nicht alles auf den Mittwochabend verschieben. Als ich zuhause ankomme, bin ich ausgelaugt.

[Sonntag, 12.9.2021 – Duell, Triell]

OK, jetzt geht die Saison weiter. Egal wie die Mannschaft zusammengestellt ist, ich muss es jetzt einfach geschehen lassen. Dass ich einfach geschehen lassen muss, ist ja nichts Unbekanntes.

Das Spiel läuft ungeordneter und nervöser als erwartet. Aber dennoch: wir schiessen drei Mal aufs Tor und treffen drei Mal. Und wir kassieren nur ein Tor. Dabei sind unsere Statistiken gegen den Aufsteiger Bochum so miserabel, als wären wir die Aufsteiger.
Immerhin wollte man Mentalität in der Mannschaft haben. Das scheint irgendwie passiert zu sein. Irgendwie. Die Mentalität überzeugt mich nicht so sehr, wie Mannschaften, die als kämpfendes Mentalitätskollektiv auftreten. Aber immerhin wirkt es wie einzelkämpfende Mentalität, die auf dem Platz steht. Man beisst, man kratzt.

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Nach dem Duell schauen wir das Triell.

Ich schaue das eher aus Sensationslust. Und um zu wissen, worüber die Nation da draussen spricht. Wir dürfen beide nicht in Deutschland wählen, aber dieser Voyeurismus, wenn drei Kandidatinnen um die Gunst der Nation gegeneinander antreten, ist schon eine spannende Angelegenheit. Körpersprache, Stimme, Kleidung. Der psychologische Aspekt. Es geht nicht so sehr um die Inhalte, es geht darum, wer es am besten rüberbringt.
Mit Olaf Scholz habe ich mich bisher noch nicht sonderlich beschäftigt, es ist das erste Mal, dass ich ihn sprechen höre. Die Ruhe mit der er Laschets Angriffe abwehrt ist sehr stark. Dabei wehrt er die Angriffe nicht nur ab, sondern bezichtigt ihn der Lüge oder der Manipulation. Ohne uns das Gefühl zu geben, dass er den Laschet wirklich angreift. Das ist mega. Ich denke sofort: muss ich auch lernen.

Wir sind es nicht gewohnt, lineares Fernsehen zu schauen. Wir haben keinen Anschluss, unser TV läuft mit GoogleTV und hat alle relevanten Streaming Apps. Ich habe herausgefunden, dass es auf dem Fernseher eine ARD-App gibt, mit der man auch einfach ARD übers Internet schauen kann.

Anfangs drücken wir mehrmals auf den Pausenknopf, um uns auszutauschen. Aus Gewohnheit. Wir drücken bei Filmen und Serien ständig den Pauseknopf weil wir uns über das eben Geschehene austauschen müssen. Bei Livefernsehen ist das so eine Sache. Müssen wir uns noch daran gewöhnen.

[Samstag, 11.9.2021 – Damals am 911, und heute unten an der Spree]

All die Geschichten der Leute zum 911. Halb Twitter ist voll davon. Ich mag diese Geschichten. Es was für viele ein Schockmoment, der sich anfühlte, wie das einläuten einer neuen Epoche. Ähnlich wie der Fall der Berliner Mauer. Alle Geschichten haben das gleiche Muster: etwas alltägliches passiert, dann kommt der Schock. Manche sind mit Gedanken garniert, manche beschreiben darauffolgende Handlungen.

Ich war damals die Affäre der Frau eines sehr reichen Mannes. Sie kam aus Norwegen und ihr Mann arbeitete die meiste Zeit in den USA. Ich hatte an jenem Tag früher frei genommen und fuhr mit der Bahn von Amersfoort zurück nach Utrecht. Am Abend würde ich sie treffen, ihr Mann war wieder auf Dienstreise. Zufälligerweise nicht in der USA.
Zwei Jahre vorher hatte ich in der Utrechter Innenstadt eine Art Internetcafé in einem besetzten Haus gegründet, das ich in meiner Freizeit mit einigen Freunden betrieb. Weil ich meine freie Zeit oft in dem Café verbrachte, ging ich auch an jenem Nachmittag da hin. Weil der Ort mein Bezugspunkt war und es immer Freunde gab, die ich dort traf. Eigentlich nahm ich sehr selten ein paar Stunden von meiner Arbeit frei, aber an jenem Tag tat ich es.

Als ich das besetzte Haus betrat, herrschte im Internetcafe eine seltsam aufgeregte Stimmung. Es waren viele Leute anwesend. Ein Freund rief mir vom Tresen her zu: hast du mitbekommen, was gerade passiert ist?
Ich schüttelte den Kopf.
Während ich im Zug gesessen hatte, waren offenbar zwei Flugzeuge in die beiden Türme des WTC’s geflogen. Alles brannte und rauchte. Auf den Bildschirmen flackerten überall diese Bilder. Das Internet war damals noch nicht so multimedial wie heute. Es gab noch kein Youtube, kein Facebook, kein Twitter, aber Foren waren damals ein großes Ding.
Weil wir damals noch ohne Smartphones herumliefen, und Mobiltelefone noch keine Kameras hatten, konnte man noch nicht alles per Film und Foto festhalten. Ich glaube sogar, dass Digitalkameras noch nicht auf dem Massenmarkt waren. Ich kannte zu jener Zeit einen Fotojournalisten, der mir seine Digitalkamera vorführte. Und wie schnell er jetzt Fotos verfügbar habe, weil er sich das Entwickeln der Filme spare. Er könne einfach knipsen und knipsen und knipsen. Irgendeines sei dann schon brauchbar. Das war eine unfassbare Erneuerung.

Der elfte September läutete auch das Ende der Affäre ein. Der Angriff hatte an ihrem Sicherheitsverständnis gerüttelt. Für die Welt im Allgemeinen und für sich in ihrem Leben. Während ich es lange einfach als tragischen terroristischen Akt einstufte, war es für sie, als wäre ihr Boden ins Wanken geraten.
Das kann ich alles nachvollziehen. Was uns in jenen Tagen auffiel: wir waren sehr, sehr verschieden. Mit dem elften September platze vermutlich diese rosa Blase.

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Wir hatten heute vieles zu besprechen. Wir machten einen längeren Spaziergang und setzten uns danach auf den kleinen Bunkerberg im Volkspark Friedrichshain. Es ärgert mich immer ein bisschen, wenn ich auf einem der beiden Bunkerberge sitze. Man befindet sich hier auf einer richtig schönen Anhöhe mitten in der Stadt, aber man kann nichts sehen, weil die Aussicht von Bäumen verstellt ist. Ich werte das schon seit Jahren als fehlende Dramatik der deutschen Stadtplanung. In Frankreich oder in Italien hätte man da vermutlich einen Brunnen draufgesetzt und auf den Treppen würden Liebespaare sitzen und von der großartigen Aussicht würde man Postkartenmotive malen. Aber in Deutschland stehen Bäume. Und man kann gar nichts sehen.

Später kehrten wir nach Hause, redeten weiter. Um 21Uhr beschliessen wir, noch eine Runde spazieren zu gehen. Wir laufen hinunter zur Spree. Es ist Samstagabend, Berlin ist wieder am Leben, die Kneipen, Restaurants und Imbisse sind gefüllt, Menschen sitzen draussen. Wir gehen hinunter zum Wasser, zur Oberbaumbrücke, spazieren am Ufer flussabwärts. Viele Menschen sitzen auf der Kaimauer, Touristinnen, Berlinerinnen. Auch wir setzen uns ans Ufer, strecken die Beine aus, vor uns das Wasser, auf der anderen Seite die Speicherhäuser des kreuzberger Ufers. Die Boote fahren, sie sehen wie liegende Weihnachtsbäume aus.

Kurz vor Mitternacht sind wir wieder zuhause.

[Freitag, 10.9.2021 – italienische Botschaft, Finanzen]

Gerade festgestellt: mein Reisepass verfällt in genau 12 Tagen. Da bin ich in Südtirol.

Ich könnte den neuen Pass auch hier in der italienischen Botschaft verlängern, aber in der Botschaft werde ich immer als second-class Italiener behandelt. Das war schon immer so. In den Niederlanden, in Spanien, im Konsulat in Hamburg und auch in der berliner Botschaft. Mit jedem Kommentar, jeder Geste, wird mir zu verstehen gegeben, dass ich als Südtiroler eigentlich ja eh nicht dazugehöre. Ausserdem wird mein Name beim Aufrufen immer derart falsch ausgesprochen, dass ich mich total angegriffen fühle.

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Am Abend melde ich mich bei Trade Repulic an. Ich habe mich bisher noch nie um Aktien gekümmert. Das hat vornehmlich damit zu tun, dass mir Leute, die sich mit Aktien beschäftigen, grundsätzlich zuwider sind. Schon klar, dass das Käse ist.
Was ich aber schon länger mal machen will, ist einen monatlichen Betrag in ein ETF Fonds stecken. Über ETFs habe ich viel gehört und es ist praktisch ein Investment in den breiten Weltmarkt. Wächst die Weltwirtschaft, wächst auch das Geld, das ich einlege. Immerhin 5% pro Jahr. Geht die Welt den Bach runter, dann gehe ich zwar mit, aber dann gehen wir alle den Bach runter, wenn wir alle das gleiche Schicksal erleiden, kann ich gut damit leben.
An die Rente glaube ich nicht. An die Weltwirtschaft ein kleines bisschen mehr.

Die App macht es mir leichter. Trade Republic ist ein Startup aus Berlin. Ich bilde mir ein, diese Art von Leute zu kennen, das sind andere Leute als die, die in Frankfurt sitzen oder in münchner Vororten mit ihren BMWs nach Feierabend zu ihren Hausfrauen fahren. Nachdem ich ein paar Youtube Videos angeschaut habe, verstehe ich das ganze System ein bisschen besser. Mein Problem mit diesen Dingen ist: ich verstehe die Details nicht. Die Oberfläche kann ich erfassen, ich weiss wie Investitionen funktionieren und wie sich Anteile im Wert verändern. Aber ich blicke bei den einzelnen Interessen nicht durch. Es gibt immer Leute, die mitverdienen, die wissen, wie sie sich bereichern, auch indem sie Aktien zu Fonds verpacken und Dienste anbieten, mit denen man diese verwalten kann. Ich will wissen, was hinter diesem Versprechen der 5% Rendite hängt.

Dann registriere ich mich bei Trade Republic. Da es sich um ein Finanzprodukt handelt, muss ich seriöse Angaben machen. Bankkonto, Reisepass, etc. Per Videoschalte wird mir ein Mitarbeiter von Trade Republic dazugeholt, ich muss meinen Reispass neben meinem Gesicht halten, mit der Hand zwischen Kamera und Pass winken. Nach 10 Minuten abe ich alle eingegeben und mein Konto wird in die Überprüfung gegeben.

Eine Stunde später erhalte ich eine Mail. Da ich italienischer Staatsbürger bin, muss ich auch meine italienischen Steuernummer mitliefern. Ich weiss, dass ich sie irgendwo habe. This is serious business.

[Donnerstag, 9.9.2021 – Hochalpin]

Nach den harten letzten Wochen auf der Arbeit, öffnen sich gerade vorsichtig die ersten Blüten, wegen den Änderungen, die ich vorgenommen habe. Eigentlich wollte ich hier eine Metapher mit Früchten bringen. Aber zuerst kommen ja die Blüten. Das weiss ich, weil ich mal Äpfelpflücker war. Und Früchte sind ja schon das finale Stadium, das man ernten will. Davon bin ich noch weit entfernt. Aber vorsichtige Blüten, das ist ein Bild.

Als ich das Büro verlasse, merke ich, dass meine Frau heute auch unterwegs ist und wir uns am Alex treffen könnten. Ich schlage vor, in dieses Flying Tiger Geschäft zu gehen, da wir nächste Woche nach Südtirol fahren und sich dort immer lustige und gute Sachen finden lassen, die man den Kindern mitbringen kann. Nicht nur lustige Sachen, sondern kluge und lustige Sachen.

Aberdann: steht man kurz vor sieben vor einem geschlossenen Geschäft. Am Alex. Der Laden schließt jeden Tag um 18Uhr. Ich komme mir vor wie im Dorf.
Wir liefen dann gemeinsam nach Hause. Das sind 3,5 Kilometer. Ich dachte immer, es seien nur 2.

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Zuhause tausche ich mich mit meiner Mutter über meine Urlaubsplanung aus. Ich war so lange nicht mehr da, ich möchte etwas hochalpines unternehmen. Eine Wanderung auf mindestens 2000 Höhenmetern. 2000m ist ungefähr die Baumgrenze. Ab zweitausend Metern beginnen diese magischen Mondlandschaften. Damit meine ich nicht unbedingt die Felsen, sondern die weitläufigen, kargen Hochflächen, in denen manchmal ein Hochgebirgssee eingeschlossen ist, wo nur noch vereinzelte, niedrige Sträucher und Moose wachsen. Und Disteln, Enzian.

Vor einigen Jahren wanderte ich mit meiner Mutter vom Grödnerjoch zur Puezhütte. Das ist Kernland Dolomiten. Man muss sich dabei zuerst eine Stunde lang durch einen Felsenkamm hochmühen, aber dahinter öffnet sich diese unwirkliche, bewegte und steinige Weite. Man wähnt sich auf dem Mond. Nach drei Stunden waren wir bei der Schutzhütte unter dem Puezgipfel angelangt. Dort ass ich die besten Hirtenmakaroni der Welt. Ich war so müde. Dabei wusste ich, dass wir noch einmal drei Stunden vor uns hatten, um wieder zurück zum Grödner Joch zu gelangen.

Meine Mutter läuft und läuft. Sie macht solche Touren jedes Wochenende. Ich möchte eine Tour finden, die meine Frau auch mitmachen kann. Sie ist das grobe Gelände nicht so gewohnt und auch die Aussicht sechs Stunden lang durch Gebirge zu laufen, lässt einigen Respekt vor der eigenen Belastbarkeit aufbringen. Wenn ich mir sechs Stunden vor Augen führe, dann zweifle ich selber. Ich bin ja schon müde, wenn ich zwei Stunden durch Berlin spaziere. Vielleicht würde ich so eine Wanderung nach Puez gar nicht mehr schaffen. Muss ich im Blog mal stöbern, ob ich darüber schrieb, damit ich weiss, wann das war.

Oh.

Ich schrieb tatsächlich über die Puez-Wanderung. Lustig. Sogar mit ähnlichem Vokabular. Das war 2008, also dreizehn Jahre her. Und die Wanderung dauerte offenbar sogar sieben Stunden. Ich denke, da sind die Hirtenmakeroni nicht mit eingerechnet.

[Mittwoch, 8.9.2021 – Reykjavík]

Ich erfahre zufällig, dass heute Deutschland gegen Island spielt. In Reykjavik. Als ich das letzte Mal in Island war, fand auch ein Länderspiel statt. Das war im Herbst 2013, die isländische Nationalmannschaft spielte gegen Kroatien. Wir fuhren an diesem Stadion vorbei, das sich unweit unseres Hotels befand, fussläufig etwa 20 Minuten stadtauswärts. Man sah diese zwei Tribünen, Haupttribüne und Gegengerade, der Rest ist einfach offen. Wenn man da heute mit dem Bus vorbeifährt kann man sicherlich die Müllers und Goretzkas über den Rasen stolpern sehen.

An dem Abend, als Kroatien zu Gast war, blieben wir im Hotel. Die Restaurantsituation hatte uns nach einigen Tagen ein bisschen deprimiert. Eine trockene Pizza, gerade mal so groß wie meine ausgestreckte Hand, kostete 27€ und wenn man Fisch essen wollte, landete man schnell im dreistelligen Bereich und irgendwann hatten wir uns von Burgern sattgegessen. Wir verstanden jetzt, warum gewöhnliche Hotelzimmer immer mit einer Kochnische ausgestattet waren.

Anpfiff des Spiels war laut meiner App um 20Uhr. Also kochten wir uns zuhause eine Pasta und nahmen uns vor, gegen halb acht in die Reykjaviker Nacht hinauszugehen und den Isländerinnen bei ihrem Abend mit der Nationalmannschaft zu begleiten. Wir bummelten natürlich, gegen halb acht waren wir noch längst nicht fertig. Inzwischen schaute ich auf meine App, vielleicht gibt es ja etwas interessantes über Aufstellungen zu lesen. In der App las ich dann, dass im Spiel bereits die 78. Minute läuft.
Ich hatte natürlich nicht die 2 Stunden der Zeitverschiebung mitgerechnet.

Jetzt sassen wir da.

Wir gingen dennoch etwas verspätet raus. Die Pointe der Geschichte ist: den Isländerinnen war ihre Nationalmannschaft eher egal. Es gab keine Zusammenkünfte oder Leute in Trikots. In einem Land, das gerade mal so viele Einwohner hat, wie Kreuzberg und F’Hain zusammen, rechnete man sich in internationalen Sportwettbewerben wohl keinerlei Chancen aus, entsprechend unattraktiv musste das für die Bewohnerinnen sein. Das war jedenfalls meine Erklärung, die ich allerdings nie näher erforschte.
Dass sie bei der Europameisterschaft so groß aufspielten, passierte ja erst 3 Jahre später. Mittlerweile dürfte sich in der Wahrnehmung schon etwas verändert haben.

Und während ich oben so „2013“ schrieb. Boah, schon viel zu lange her.

[Dienstag, 7.9.2021 – Senderadius, Mezes]

Für längere Telefongespräche gehe ich manchmal aus dem Büro raus und bummle dabei ein wenig am Potsdamer Platz herum. Damit ich ein bisschen rauskomme. Aber auch um einfach mal einen Kulissenwechsel zu vollziehen. Manchmal sitze ich auch auf dieser langgezogenen Wiese südlich des Platzes.
Heute zum Beispiel.
Dabei telefoniere ich mit einem Bluetooth Headset und habe das Telefon in der Jacken- oder Hosentasche. 10 Minuten vor zwei Uhr merkte ich, dass in in 10 Minuten am Schreibtisch sitzen muss, also stehe ich auf und bewege mich in Richtung Büro. Mein Gesprächspartner redet, die Verbindung wird hakeliger und stotteriger. Das Telefon hat wahrscheinlich ein Verbindungsproblem, also klopfe ich meinen Oberschenkel ab und meinen seitlichen Bauch um mein Telefon zu suchen. Aber ich finde es nicht. Kein Telefon. Es macht sich eine seltsame, leicht panische Verlustangst bemerkbar, weil ich ahne, dass ich mein Telefon irgendwo verloren habe und ich jetzt an den Rand seines Sendungsradiusses gelangt bin, wie am Rand des Sonnensystems, wo die Sonne ihre letzten paar wärmenden Strahlen hinschickt. Das Telefon liegt irgendwo weit weg und sendet. Bei mir kommen nur noch einzelne Wortfetzen an. Also gehe ich zurück zu dem Fleck im Grass, an dem ich gesessen hatte. Die Stimme wird wieder klarer, unterbrechungsfreier. Im Gras sehe ich dann auch wieder mein geschätzes, schwarzes Ding liegen.

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Am Abend gehe ich mit Kolleginnen ins „No Bananas“ an der Ecke Dieffenbach/Grimmstrasse. Levantinische Mezes und auch größere Speisen. Weil ich schon drei Biere getrunken habe und schon ewig wissen will, wie man Mezes korrekt ausspricht und auch die anderen sich die Frage stellten, fragte ich einfach nach. Man spricht es aus wie Moses. Moses, der Typ, der das Meer teilte.

Das Hummus ist mir zu wenig cremig, aber diese weisse Käsepaste mit Feigen ist echt umwerfend.

[Montag, 6.9.2021 – Altes Telefon, Schwedenfilm]

Wieder ein sehr geschäftiger Abend, an dem ich hunderttausend Dinge mache und vorm Schlafengehen nicht mehr genau weiss, was ich getan habe. Immerhin erfolgreich Toilettenpapier gekauft. Allerdings wieder erst in der letzten Minute. Ich war bereits auf dem Weg zu den Kassen, als mir der eigentliche Grund meines Supermarktbesuches wieder einfiel.

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Das Telefon, das ich letzten Sommer meinem Neffen geschenkt habe, lässt sich tatsächlich nicht mehr wiederbeleben. Er hat jetzt von seinem Bruder ein gebrauchtes Mittelklasse-Samsung bekommen, das er vorerst benutzt. Aber er hatte vorher mein altes Oneplus6T. Er ist zwar erst 11, aber versteht, dass das ein riesiger Rückschritt ist. Seinen Geschwistern ist das alles ziemlich egal, aber er ist sehr Technik affin.

Wir tauschen uns über Whatsapp aus. Nächste Woche fahre ich nach Südtirol. Ich erinnere mich an das ältere Oneplus 3T, das ich hier noch rumliegen habe. Er staunt immer über solche Sachen. Dass ich einfach so ein Oneplus 3T herumliegen habe. Wenn er bei mir zu Besuch ist, dann verbringt er die erste Stunde immer damit, in meinen Schubladen und Schränken zu schauen und Fragen zu stellen. Wofür ich diesen Laptop verwenden und wofür diesen und wofür diesen. Die Antworten, die ich dazu gebe, sind auch für mich nicht immer schlüssig. Mittlerweile habe ich aber alles Geräte ihm und seinen Geschwistern geschenkt.

Aber das Oneplus 3T noch. Das bringe ich dann mit.

Als ich so durch die Geräte stöberte, hielt ich auch eines der Raspberry Pi’s in der Hand und dann fällt mir plötzlich ein, wie ich das Problem meines Schwedenfilms lösen kann.

Mein Schwedenfilm. Dabei will ich folgendes tun:
Das Sommerhaus meiner Schwiegerfamilie ist ja nur ein bis zwei Monate lang im Sommer bewohnt. Für den Rest des Jahres wird das ganze Grundstück total der Wildernis überlassen. Ich wollte auf dem Dach der Scheune eine Kamera montieren, die einmal pro Stunde ein Foto aufnimmt. Ein ganzes Jahr lang.
Die Schwierigkeit dabei ist vor allem der Strom. Ende August wird da der Strom abgeschaltet und es gibt keinen Akku, der ein ganzes Jahr lang durchhält. Deswegen muss ich mir etwas anderes einfallen lassen. Das naheliegendste ist natürlich ein kleines Sonnenpaneel, was in den hellen Jahreszeiten sicherlich genug Strom produziert, aber im Dezember sind die Sonnenstunden in Schweden eher so einstellig. Und ob der Lichtball, der sich kurz am Horizont blicken lässt, ausreicht um die Kamera zu betreiben, bezweifle ich.

Wie ich dieses Problem löse, weiss ich noch nicht. Aber als ich den Raspi in der Hand hielt, fiel mir ein: das könnte die Grundlage sein. Ein Raspi und eine Webcam, die ich in ein Plastikgehäuse unterbringe.

Ich habe öfter versucht, danach zu googlen, ob andere Menschen auch so etwas gebaut haben, ich wurde aber nie fündig. Es gibt Firmen die sich auf so etwas spezialisiert haben, die bieten teure Lösungen für beispielsweise Langzeit-Baustellendokumentationen an. Aber ich will ja keine teure Lösung.
Aber jetzt wo ich den Raspi in der Hand hielt fiel mir ein: ergänze deine Googlesuchen doch mal um den Begriff Raspberry Pi. Und da wurde ich fündig. Ich bin nicht der einzige, der so etwas machen will. Allerdings habe ich andere Probleme als die. Ein Kanadier hat beispielsweise Wlan von Nachbarn verfügbar, das entfällt bei mir.
Aber ich habe noch Zeit bis April. Im April werden wir für eine Woche in das Haus fahren.

[Sonntag, 5.9.2021 – Parkbänke, Kilos unter den Rippen]

An dem Brautführertext weitergearbeitet. Jetzt gefällt er mir wesentlich besser. Dann ging er online. Siehe voriger Eintrag.

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Gestern bin ich noch spät am Abend in den Supermarkt gegangen um Toilettenpapier zu kaufen. Heute früh dann die Erkenntnis: wir haben immer noch kein Toilettenpapier. Ich habe zwar alles mögliche gekauft, aber nicht Toilettenpapier. Jetzt wo die Spätis am Sonntag nicht mehr öffnen dürfen fühlt man sich echt wie auf dem Dorf. Auf einem Dorf ohne Klopapier.

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Am Nachmittag machen wir einen langen Spaziergang, auf dem Rückweg gehen wir durch den Volkspark Friedrichshain, durch die Südseite, zwischen den beiden Bunkerbergen, am See. Dort saßen wir vor einigen Monaten einmal, ich hatte bestimmt darüber geschrieben, aber ich bin zu faul jetzt danach zu suchen. Es gab eine einzige freie Parkbank und es war genau jene Parkbank, auf der wir damals gesessen hatten.
Das fanden wir so lustig, dass wir uns hinsetzten.

Das Gute an Parkbänken ist, dass man das Gleiche machen kann, wie wenn man aus dem Fenster auf die Strasse schaut, aber es sieht nicht aus, als wäre man alt und ohne ein eigenes Leben, sondern man sitzt halt cool auf einer Bank. Punkt.

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Ich nehme zur Zeit wieder zu. Von den 18 Kilos die ich abgenommen habe, sind 7 wieder unter die Rippen gekrochen. Seit der Schwedenreise habe ich mein Essensverhalten nicht mehr im Griff. Das macht mich fertig. Heute habe ich wieder vorsorglich Kohl und Haferreis für die ganze Woche gekocht. Ende nächster Woche fahre ich nach Südtirol, das erste Mal seit fast zwei Jahren. Eigentlich wollte ich da als schlanker Bergbursche auftauchen und alle so woah, bist du dünn geworden. Jetzt sieht man mir es nicht mehr an.

[Brautführung]

Meine Schwester wollte, dass ich ihr Brautführer sei. Es ist mir eine große Ehre, meine Schwester bis zum Altar zu begleiten.

Weil ich bereits seit vielen Jahren nicht mehr in Südtirol lebe und ich in meiner Jugend auch nie sonderlich ein Freund der Traditionen gewesen bin, weiss ich allerdings nicht genau, was ein Brautführer ist. Ich weiss, was ein Trauzeuge ist und ich weiss, was ein Pfarrer ist, beim Brautführer bin ich mir nicht ganz so sicher. Aber alle sagten: oh du bist der Brautführer, schön. Zwinkerzwinker.

Das Zwinkerzwinker beunruhigte mich ein wenig, ich wollte aber nicht als Unwissend dastehen und beschloss, ruhig zu bleiben, ich würde es schon im Laufe der Zeit erfahren.

Ich nehme meine Pflicht als Brautführer selbstredend ernst und fragte daher Monate im Voraus, was ich dafür tun müsse. Ich erfuhr, dass ich drei Aufgaben hätte:

– den Brautstrauß bewachen

– die Braut beschützen

– die Braut dem Bräutigam übergeben

Die Aufgaben klangen einfach. Von der Nachbarin meiner Mutter erfuhr ich beiläufig, dass auf Hochzeiten oft diese bescheuerten Traditionen ausgeführt würden. Dass Freunde, Bekannte oder Kollegen Hindernisse aufstellen würden, wo das Ehepaar Aufgaben zu erfüllen hätte. Eine andere Tradition sei beispielsweise die Entführung der Braut. Da werde einfach die Braut entführt und der Brautführer müsse sie wieder finden, um sie dem Bräutigam zu übergeben. Blöde Spässchen. 

Ich hob meine Augenbrauen und schaute etwas besorgt meine Schwester an. Sie holte weit mit dem Arm aus und sagte: Weg mit dem traditionellen Scheiß, ich will heiraten!

Meine Schwester wohnt seit Jahren in Wien, sie kennt die Traditionen ja selber nicht mehr.

Ich liebte meine Schwester und war beruhigt.

Als mein Vater davon erfuhr, dass das Ehepaar nichts mit diesen Traditionen zu tun haben wollte, regte er sich auf. Was für eine Hochzeit das denn bitte sei. Keine Böller, keine Straßensperren, er schüttelte den Kopf, und nicht mal eine Entführung. Er fragte, wofür sie dann überhaupt heiraten wollten.

Am Tag der Hochzeit bin ich ständiger Begleiter meiner Schwester. Wir gehen zur Stylistin Renate. Meine Mutter ist dabei, meine kleinere Schwester, auch die Trauzeugin. Es ist unterhaltsam. Auch mein Vater kommt vorbei. Ich begleite ihn auf eine Zigarette vor dem Salon. Dort steckt er mir die Info, dass auf den anderen Teil der Familie Verlass sei, es werde nämlich für eine Brautentführung gesorgt. Er hält sich den Finger vor dem Mund, ich solle darüber aber schweigen. Ich sagte: aber eine Entführung sei ja auch schlecht für mich. Er sagte, ich müsse nur die Braut finden und alle Rechnungen zahlen. Ich frage, wie meinst du, ich muss die Rechnungen zahlen?

Er erklärt mir den umständlichen Part, dass die Braut und die Entführungsgesellschaft in die Kneipen und Bars ginge, sich betrinke und dann die Zeche prelle. Die Rechnung müsse dann ich begleichen.

Was? Ich?

Ja genau. Der Brautführer. 

Warum der Brautführer?

Weil das so ist.

Im Salon der Frisörin erzähle ich meinen Verbündeten, vom vermutlich bevorstehenden Akt. Die Braut greift sich an die Stirn. Wie furchtbar das doch sei. Sabine schlägt vor, die Entführung selbst in die Hand zu nehmen und mit der Braut ein paar Schnäpschen zu trinken. Die Braut säße schließlich bei uns im Auto und könne daher nicht von Dritten entführt werden. Den Frauen gefällt die Idee und mir sowieso. Ich bin richtig begeistert.

Es wird Nachmittag. Die Ringe werden getauscht, es wird gesungen, geweint und es gibt Vorfreude auf das Essen. Auf dem Weg von der Kirche ins Gasthaus spricht mich der Trauzeuge des Bräutigams an, offenbar hätten sich die Frauen zusammengetan um die Braut zu entführen. Er wolle mich nur warnen, ich sei ja der Brautführer. Zwinkerzwinker. Ich zwinkerzwinkere siegesgewiss zurück und verrate ihm, es sei schon vorgesorgt, die Braut werde von ihrer Trauzeugin und mir persönlich entführt. Er lacht, und sagt, das sei auch nicht schlecht.

Etwas später kommt die Trauzeugin Sabine und ich schlage vor, mit der Entführung bis fünf zu warten, damit wir noch in Ruhe ein paar Grappas nehmen könnten. Sie sagt das ginge nicht, und ich frage, warum das denn nicht ginge und sie sagt, weil sie gleich nach dem Essen mit den anderen Frauen die Braut entführe.

Ich bin zuerst verwirrt, also frage ich, wie meine Rolle darin aussähe. Das wüsste sie auch nicht, aber das sei dann wohl so, dass ich sie suchen müsse.

Ich glaube der Sache noch nicht so recht, belächle die Situation und erzähle es meiner Schwester, der Braut. Sie ist sehr beschäftigt, umringt von Menschen, die mit ihr reden wollen, ich bin aber etwas beunruhigt und drängle mich dazwischen. Ja, davon habe sie auch gehört, ja, schon verrückter Plan, sie lächelt Tanten an und nimmt Geschenke entgegen. Ich setze mich erstmal an den Tisch, trinke ein Bier.

Zwischen dem dritten und dem vierten Gang hole ich mir Hilfe vom Bräutigam und seinem Trauzeugen. Ich weihe sie ein. Ich würde natürlich alles dafür tun, dass die Braut erst gar nicht verschwände, aber es erschleicht mich das Gefühl, dass wir zu dritt gegen zwei Dutzend Frauen ziemlich machtlos sind. Und die Braut nähme die Situation nicht sonderlich ernst. Falls wir es nicht verhindern können, soll mich der Trauzeuge fahren und der Bräutigam soll im Wagen sitzenbleiben bis ich ihm seine Holde bringe.

Sie nicken beide. Sie nicken ein bisschen nachdenklich, aber sie nicken immerhin.

Nach dem Essen werde ich von meiner zukünftigen Schwippschwägerin Eva eingeweiht. Eva ist der Kopf der Entführung. Sie senkt ihre Stimme und sagt, in einer Viertelstunde ginge es los. Ich müsse dann ein bisschen wegschauen.

Wiewas wegschauen? 

Sie lacht mich aus, das ist so.

Alles ist immer so. Ich bin der Brautbeschützer und nun sagt man mir, in jenem kurzen Augenblick, in dem ich meiner Pflicht als Brautführer nachkommen muss, einfach wegzuschauen.

Ich bin stinkig. Ich gehe zu den Männern. Sie wissen auch nicht so genau, wie mit der Situation umzugehen sei. Sie kennen aber die Regeln.

Was ich mir diesmal merke: Es geht eigentlich nur um den Brautstrauß.

Eine Braut ohne ihren Strauß ist praktisch wertlos. Ich bin erleichtert.

Ich kann mich erinnern, dass die Bewachung des Brautstraußes zu den der drei wichtigen Regeln gehörte.

Weil sich alle an der Schnapsbar und in der Raucherecke tummeln, betrete ich den leeren Speisesaal und im leeren Speisesaal sehe ich den Brautstrauß auf dem Tisch liegen. Kurz überfliegt mich ein Schuldgefühl: der Brautstrauß, Du hast den Brautstrauß aus den Augen verloren. Doch der Überflug ist von kurzer Dauer, ich lasse den Brautstrauß hinter der Gardine verschwinden.

Danach bestelle ich an der Bar einen Verdauungsschnaps.

Beim zweiten Verdauungsschnaps betritt meine Mutter das Wirtshaus und verkündet stolz, die Braut sei entführt. Eigentlich hatte ich erwartet, dass die Frauen aufgeregt den Strauss suchen. Die siegessichere Verkündung meiner Mutter überrascht mich allerdings. Daher checke ich im Speisesaal die Gardinen. Die Brautstrauss ist nicht mehr da. Ich rufe den Bräutigam und seinen Zeugen. Wir müssen los. Doch die anderen Männer weisen mich an, mich zu setzen. Man müsse ihnen eine Viertelstunde Vorsprung geben.

Eine Viertelstunde Vorsprung?

Ja, eine Viertelstunde Vorsprung.

Ich lasse mir wieder von den Männern die Regeln erklären.

Was ich mir merke: Das müsse so sein.

Ich schaue aus dem Fenster und sehe einen Konvoi mit weißen Blumen und Schleifen auf den Autos vorbeirasen.

Mein Vater springt aufgeregt von der Terrasse in den Schankraum: sie sind Richtung Andrian gefahren!

Er ist aufgeregt wie ein Zwanzigjähriger. Er will wissen, wer mich fährt, und erwähnt, wie lächerlich das sei, ein Brautführer ohne Führerschein, was für eine lächerliche Brautentführung. Er schüttelt den Kopf. Ich antworte ihm, der Trauzeuge des Bräutigams würde fahren und der Bräutigam käme mit.

Das ginge ja gar nicht, sagt Vater. Der Bräutigam hat bei der Entführung nichts zu suchen. Der muss warten bis ihm die Braut gebracht werde, basta.

Dem Bräutigam scheint diese Idee zu gefallen. Ich beobachte wie mein Vater geschickt meinen mühsam aufgebauten Rettungstrupp demontiert. Seine jugendliche Aufgeregtheit läßt mich schlimmes ahnen. Er fragt den Trauzeugen nach seinem Auto. Dieser nennt den Hersteller.

Langsame Blechbüchse, sagt mein Vater, damit kommt man doch nirgendwo hin.

Er fuchtelt mit den Händen und sagt: Komm Sohn, ich fahr dich.

Mir graut es. Ich hebe meinen Arm, um dem Trauzeugen feierlich auf die Schulter klopfend zu sagen: Neinnein, wir beide machen das schon.

Doch als ich dazu ansetzen will, strahlt dieser erfreut und sagt, das sei schön, dann könne er ja noch einen Schnaps trinken.

Also formt mein Vater das Team. Ich soll die Rechnungen bezahlen und Marco, der Freund meiner anderen Schwester soll mitfahren. Aufs Auto aufpassen oderso. Marco, Sizilianer, spricht kein einziges Wort deutsch, sagt sicherheitshalber: Ja.

Der kleine Jakob ruft aufgeregt: darfichauchmitdarfichauchmit?

Dann ist die Vorsprungsviertelstunde auch schon vorbei und wir steigen in Vaters Auto. Er tritt aufs Gaspedal und wir quietschen in Richtung Andrian. In Andrian gibt es das Wirtshaus “Zum Schwarzen Adler”, dort wo wir uns nachher zum Kuchenschneiden und Schnapstrinken treffen sollen. Der Bräutigam und die anderen Männer, würden uns später dort erwarten. Die Männer scheinen sich nicht sonderlich für die entführte Braut zu interessieren. Sie nippen am Bier.

Mein Vater trägt einen großen, schwarzen Hut. Das sieht bei ihm total daneben aus. Er flucht über die Entführerinnen: keine Anhaltspunkte haben sie gegeben… was für eine dämliche Entführung… die können jetzt ja überall sein… ja gar bis nach Bozen gefahren… Na-Na… die sollen es sein lassen, wenn sie nicht wissen wie das geht…

Ich sage, der Hut sähe komisch aus. Er hört es nicht. Und dann tritt er auf die Bremse.

Am Ortsausgang steht ein Gasthaus, ich muss hineingehen und fragen ob die Braut dagewesen sei. Der kleine Jakob ist schon aus dem Auto gesprungen und wartet auf mich bei der Gasthaustür. Ich steige aus, fühle mich ein wenig seltsam mit meiner Blume am Revers und betrete das Gasthaus. Jakob folgt mir. Am Tresen stehen ein gutes Dutzend halbleerer Sekt- und Schnapsgläser. Die Wirtsfrau kommt, lächelt müde und sagt zu mir: das macht einundvierzig Euro. Und fügt hinzu: ich müsse alle halbleeren Gläser austrinken bevor ich weiter dürfe. Das habe sie als Auftrag bekommen. Austrinken ist leicht. Der kleine Jakob ist sieben und fragt mich ob er die Sektgläser mit austrinken darf. Seine Mutter gehört zu den Entführerinnen. Deshalb sage ich: ja.

Zurück im Auto fragt mein Vater als erstes ob sie einen Tipp hinterlassen haben. Ich sage: Nein. Ich sage das, weil ich keine Lust habe noch einmal hineinzugehen.

Er schimpft wieder über die miserable Qualität der Entführung und gibt Gas. Wir lassen Nals hinter uns und jagen mit dem Wagen die Kurven ins Tal hinunter Richtung Andrian.

Mitten im Wald kommt eine Kreuzung. Er fragt mich, links oder rechts? Ich sage links und er fährt rechts. Ich frage ihn, wo er den Hut eigentlich her habe.

In einer Kurve stehen drei vier Häuser. Eines davon ist ein Gasthaus. Der kleine Jakob aufgeregt von hinten: Hierhier, Evas Astra!

Ich weiß nicht, wie ein Astra aussieht, aber auf dem Parkplatz vor dem Gasthaus stehen mehrere Autos mit weißen Blumen und Schleifen an der Scheibe. Mein Vater ruft: Volltreffer!

Ich steige aus, Vater steigt aus und der kleine Jakob rennt zur Gasthaustür. Marco bleibt im Wagen. Er schaut auf die schönen Lichter im Tal.

Das Gasthaus ist voll. Ganz hinten sehe ich die bekannten Gesichter der Damen aus der Brautgesellschaft. Ich drängle mich durch die Menschenmassen an der Bar und plötzlich gibt es einen lauten Aufschrei. Ein Sektglas geht zu Bruch. Das Entführungskommando rennt auf mich zu und hält mich fest. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll, als ich aber meine Schwester sehe, die Braut also, bin ich ziemlich glücklich und rufe: Schwester! Hier bin ich! Ich komme! Halte durch!

Doch meine Schwester schaut mich entsetzt an und ruft dem Entführungskommando zu: Kommt Mädls! Folgt mir! Durch die Küche!

Wie eine Seppelwurzel bleibe ich stehen. Ich schaue dem Frauenhaufen zu, wie er sich hinter die Bar drängt und mit lautem Getöse in der Küche verschwindet. Die Gäste an der Bar sind amüsiert und Jakob zieht an meiner Krawatte. Was los sei, will er wissen. Ich bin der Böse, sage ich. Jakob grinst breit und sagt begeistert: Ja. Und ich bin auch böse.

Draußen herrscht große Aufregung. Mein Vater liegt bäuchlings auf der Motorhaube eines gasgebenden Autos und schreit: Wo ist die Braut?

Weiter hinten auf dem Parkplatz jagen vier Autos mit Blumen und Schleifen an der Scheibe in Richtung Parkplatzausgang. Marco kurbelt die Scheibe herunter und zeigt auf die jagenden Autos. Er ruft: La! La! Le macchine!

Mein Vater lässt das Auto los und sprintet zu seinem eigenen Auto. Jakob springt dazu. Bei mir dauert es ein bisschen länger. Mein Vater schreit.

Wieder im Auto sage ich zu meinem Vater, dass mir sein Hut scheißegal ist. Er beschwert sich, dass wir jetzt wieder nicht wissen, wo sie hingefahren sind. Wir fahren erst in Richtung Andrian weiter, nach einigen Weggabelungen beschließen wir links nach Lana zu fahren, doch dann merken wir, dass Lana zu weit ist und wir kurven dann wieder mit mörderischem Tempo durch die Apfelwiesen Richtung Andrian. Ich sage zu meinem Vater, dass wir aber schon ein bisschen schnell unterwegs seien. Und er sagt, ich solle die Frauen (Scheißweiber, die sollen das Entführen sein lassen wenn sie nicht wissen wie das geht) anrufen, weil sie uns schon wieder keinen Tipp hinterlassen haben. Bevor ich ihn nach seinem Mobiltelefon fragen kann, nimmt er es selbst in die Hand und wählt die Nummer meiner Schwester.

“(Ma porcohittneini) Wo seid ihr denn? (…) Blauer Kirchturm (…) aha (…)”

Er legt wieder auf und sagt: Ein blauer Kirchturm, sie sind in Vilpian.

Ich sage, Terlan habe aber auch einen blauen Kirchturm, und übrigens, der in Vilpian sei doch eher gräulich.

Wir fahren natürlich nach Vilpian, ans andere Ende der Talsohle. Das Etschtal ist kein typisches Alpental. Das Etschtal ist sozusagen eine weite Ebene mit steilen Wänden an den Seiten. Und dazwischendrin eine Art Autobahn, eine Zugstrecke und unzählige zwei Meter breite Asphaltstraßen die die Apfelwiesen durchschneiden. Wir durchschneiden die Apfelwiesen bei Tempo achtzig während mein Vater telefoniert. Ich fange wieder an, seinen Hut daneben zu finden.

In Vilpian gibt es weit und breit keinen Hochzeitskonvoi, also fahren wir in Richtung Süden nach Terlan. In Terlan, auf dem Dorfplatz vor dem bläulichen Kirchturm stehen mehrere blumenverzierte Autos. Alle steigen aus, sogar Marco. Ich bleibe kurz sitzen, erinnere mich aber daran, dass jemand die Rechnung bezahlen muss, nein, nicht jemand, sondern ich, und steige auch aus. Ich latsche über den Platz am Glühweinstand vorbei zum Gasthaus. Am Glühweinstand verrät mich meine Blume am Revers. Die Leute lachen und prosten mir zu. Das ganze Dorf weiß Bescheid.

Ich betrete das Gasthaus, die Gäste machen mir Platz. Das Entführungskommando wurde natürlich längst von meinen männlichen Begleitern verscheucht. Ich gehe zum Tresen und frage nach der Rechnung. Ich setze mich hin, schaue ein wenig betrübt und bestelle einen Schnaps dazu. Die Wirtin lächelt, sagt, dreiundvierzig Euro und fragt, ob ich der Bräutigam sei. Ich nicke, stelle dann aber fest, dass ich nicht der Bräutigam bin sondern der Brautführer, korrigiere mein Nicken und frage ob sie mir den Schnaps doppelt machen könne. Sie macht ihn doppelt und sagt: der geht aufs Haus.

Dann verlasse ich das Gasthaus und auf dem Platz rennt mir der kleine Jakob in die Arme: Wo! bleibst! du! denn!

Dann sehe ich meinen Vater mit mörderischem Tempo quer über den Platz fahren. Der Platz der eigentlich Fußgängern vorenthalten ist. Vor uns hält er und schreit: Wo! bleibst! du! denn!

Ich steige ein. Die Frauen seien vorne links abgebogen, sie seien also unterwegs nach Andrian. Andrian ist gut, denke ich, das Endziel sozusagen. Ich drehe mich zu Marco um und frage ihn auf italienisch, ob er den Hut meines Vaters auch albern fände. Er sagt: Si. Das freut mich.

Die Äpfelbäume verschwimmen bei hoher Geschwindigkeit zu einer grauen Wand. Ich mag das. Es erinnert mich an früher, als es immer so viel geschneit hat, als an der Straße immer die hohen schmutzigweißen Schneewände standen.

Kurz vor Andrian tritt mein Vater voll in die Bremse. Es quietscht. Und als wir stillstehen, stehen wir quer vor einem Parkplatzausgang. Der Parkplatz gehört zu einem Wirtshaus. Mein Vater hat sehr geschickt gebremst, da der Ausgang der einzige Ausgang ist, kann niemand mehr raus. Das Entführungskomitee samt Braut ist sozusagen gefangen. Sozusagen nur. Weil eines der Entführerautos die Situation sofort erkannt hat und dabei ist das eingemauerte Blumenbeet, das den Parkplatz auf der hinteren Seite von der Straße abschneidet, umzufahren. Der kleine Jakob wirft sich auf ein willkürliches Entführerauto, mein Vater versucht das flüchtende Auto aufzuhalten und Marco läuft den Parkplatz ab.

Ich reiße die erste Wagentür auf. Es sind Sabine und ein paar andere Frauen. Wertlos. 

Doch beim nächsten Wagen habe ich Erfolg. Es ist Evas Auto und die Braut sitzt drin. Der gesamte Wageninhalt schreit auf. Da die Braut hinten sitzt und die hinteren Türen verschlossen sind, tauche ich vorne über die Eva in den Wagen ein und greife nach der Braut.

Sie schreit Vokale. Später fügt sie den Vokalen Konsonanten hinzu und plötzlich verstehe ich, was sie zu sagen versucht: sie habe den Strauß gar nicht.

Ich überprüfe sie und stelle fest, dass sie die Wahrheit spricht.

Die Braut ohne ihren Strauß, auf diese Situation bin ich nicht vorbereitet. Ich liege wie ein Torpedo in einem Auto, quer über verschiedene Menschen hinweg, halte die Braut fest und realisiere, dass ich eigentlich gar nicht die Braut brauche, sondern den Strauß. Ich frage, ob das die Regeln sind, woraufhin mir die anwesenden Frauen die Regeln erklären.

Was ich mir merke: die Braut ist gar nicht so wichtig.

Dämlicherweise wusste ich das eigentlich schon, somit überlege ich, was nun am besten zu tun sei. Dann fällt mir auf, dass ich ziemlich unbequem liege, also kämpfe ich mich wieder nach draußen. Eva ist erleichtert.

Dann weiß ich nicht genau was geschieht. Was ich registriere, ist Sabine, die versucht Vaters Auto aus der Auffahrt wegzufahren, weil mein Vater die Schlüssel stecken lassen hat und gerade auf der Motorhaube eines anderen Autos liegt. Marco hindert Sabine daran, das Auto von der Einfahrt wegzuparken.

Die Mutter des Bräutigams rennt von einem Auto über den Parkplatz zu einem anderen Auto und hat eine dicke Beule unter ihrem Kleid was verdächtig nach einem versteckten Brautstrauß aussieht. Und Vater liegt später auf der Motorhaube eines anderen Autos.

Als ich wieder koordinierter wahrnehmen kann, steht der kleine Jakob vor mir. Er hält mir grinsend den Brautstrauß entgegen und sagt: jetzt noch die Braut.

Die Braut ist einfach. Der Beifahrersitz im Auto der Braut ist aus irgendeinem Grund frei, ich setze mich hinein und sage der Fahrerin sie solle nun zum Schwarzen Adler fahren. Der Bräutigam warte. Ich hebe den Strauß und alles verstummt. Der kleine Jakob ruft mein Team zusammen und alles scheint sich zum Ende zu neigen. Ich habe es geschafft und die Öffentlichkeit nimmt daran teil. Schön ist das. Ich muß allerdings dreimal wiederholen, dass die Fahrerin jetzt losfahren solle, bis sie mich endlich ernst nimmt.

Irgendwie scheint jetzt alles ruhig geworden zu sein. Die Braut ist unter Dach und Fach, wir sind auf dem Weg zum Bräutigam und es hat keine Toten gegeben. Die Entführung hat ein gutes Ende genommen. Doch dann geschieht die Katastrophe. Die Katastrophe für meine Ehre jedenfalls.

Wir kommen endlich beim Schwarzen Adler an. Auf dem Parkplatz halten wir. Neben uns parkt Sabine. Die Braut steigt aus — und steigt in Sabines Wagen wieder ein. Sabines Auto brummt laut auf und fährt los, talabwärts.

Bevor ich das alles richtig verstanden habe, startet auch Eva den Wagen und fährt los. Jedoch talaufwärts.

So sitze ich in Evas Wagen, hinten lachen die Frauen, und ich versuche vorsichtig ein Bild dieser neuen Situation zu formen. Die erste Sache ist klar, die Braut ist wieder weg. Die zweite Sache ist schwieriger zu verstehen, deshalb frage ich bei Eva nach. Ob sie jetzt umkehren würde und der Braut nachfahre, wenn ich es ihr befehle. Sie prustet und schüttelt den Kopf. Sie fährt achtzig. Den Berg hoch.

Ich bin also ein Gefangener. Ich wäre lieber eine Geisel.

Wir sind schon ein ganzes Stück gefahren, mir fällt keine neue Taktik ein. Es ist nicht einfach, die Aussicht hier oben ist schön, man kann fast das ganze obere Etschtal überblicken, zudem läuft im Radio Schrammelmusik. Doch dann bittet mich Eva, kurz das Lenkrad festzuhalten, sie müsse ihre Jacke ausziehen. Nichts lieber als das, und hier wittere ich meine Chance, ein bisschen Macht über mein eigenes Schicksal wiederzuerlangen. Doch ich traue mich nicht, gefährliche Manöver mit dem Lenkrad zu vollbringen, ich bin ein miserabler Autofahrer.

Doch das bessere Erpressungsmittel bietet sich gleich, als Eva mir verächtlich ihre Jacke auf meinen Schoß wirft.

Sie kehrt abrupt um. Und sie schreit, da sei ihr Handy drin, da sei ihr Geld drin, während ich die Jacke aus dem Fenster halte. Und ziemlich grinse.

Wieder zurück beim Schwarzen Adler befehle ich der Fahrerin anzuhalten. Sie gehorcht. Ich halte den Strauß hoch und sage, dass ich den Strauß habe und ich jetzt reinginge, zum Bräutigam, um ihm den Strauß zu überreichen. Ein bisschen merkwürdig scheint mir das schon, so will er doch die Braut haben und nicht ihren Strauß, aber ging es nicht letztendlich um den Strauß?

Ich lasse mir wieder die Regeln erklären.

Was ich mir diesmal merke: Braut und Strauß sind mir wurscht.

Mit dem zerfledderten Brautstrauß betrete ich das Lokal. Die Männer stehen an der Bar und prosten mir lachend zu (Ein Prosit auf den entführten Brautführer!), ich beschließe sie zu ignorieren, gehe in die Wirtsstube und sehe das glückliche Brautpaar. Die Braut sitzt mit einem strahlenden Lächeln bei ihrem Bräutigam.

Ich setze mich neben sie und verschränke die Arme. Ich bekomme ein Bier.

Nachher kommt mein Vater rein. Die Braut sagt zu mir: Sieht unmöglich aus, der Hut, gell?

(dieser Text ist ursprünglich in einer anderen Fassung, im Dezember 2007 hier im Blog erschienen)