Ausserdem traf ich in Meran meinen Jugendfreund Haimo. Er war zu Besuch und wir redeten über meine erste Tätowierung. Ich war damals sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Haimo war etwas älter als ich und hatte sich in London von Punks ein Tattoo stechen lassen. Daraufhin hatte er unserem gemeinsamen Freund Hello das Wort „Hass“ auf den Oberarm gestochen. Ich fand Tätowierungen gut und bat ihn deswegen, mir das Wort „Sehnsucht“ auf den Oberarm zu tätowieren. Das war in ’91 oder ’92, es gab damals in Südtirol noch keine Tattoostudios. Für eine Tätowierung musste man entweder nach Verona oder nach Innsbruck fahren. Als Druckerlehrling hatte ich ein sehr schmales Budget. Das meiste Geld ging für Bus, Zigaretten und Alkohol auf. Immerhin durfte ich noch bei meinen Eltern wohnen und essen. Zumindest wenn ich den letzten Bus um acht Uhr auf den Berg hinauf erwischte. Was mir oft nicht glückte.
Tätowierungen konnte man auch selber stechen, dafür wollte ich kein Geld ausgeben. Man braucht nur schwarze Tusche und eine Nadel. Mit der Nadel sticht man so lange in die Haut, bis die Fläche ausgefüllt ist.
Haimo wusste, wie das geht.
Wir haben beide noch vage und teils übereinstimmende Erinnerungen daran, wie die Tätowierung entstand. Es war spätnachts in der Sparkassenstrasse in Bozen und wir sassen in Sabines Ente, also einer 2CV von Citroën. Eigentlich sollten wir beide bei Sabine schlafen, aber es gab eine Unstimmigkeit (meine Erinnerung), also wichen wir in die Ente aus, die in der Sparkassenstrasse geparkt war und er dafür den Schlüssel besass. Ich hatte schon seit einigen Tagen Sicherheitsnadel und Tusche dabei, weil ich nur auf einen ruhigen Moment wartete, an dem er mich tätowieren konnte. Als wir in der Ente sassen, waren wir beide sehr betrunken, aber noch nicht müde genug, um zu schlafen, und so sagte ich ihm, dass es jetzt an der Zeit sei. Ich hatte auch Faden dabei, weil ich gehört hatte, dass man die Nadel mit einem Faden umwickeln soll, damit sich die Tusche besser festsaugt. Dann fing er an.
Das Wort „Sehnsucht“ ist sehr lang, also musste er weit vorne ansetzen. Hygienische Massnahmen gab es keine. Die Tusche würde die Wunde schliesslich ausfüllen. Es war dunkel und es dauerte ewig. Beim dritten Buchstaben waren wir beide müde, also hörten wir auf. Ich zog den Pullover über und schlief ein. So lief ich ein paar Wochen mit einem „Seh“ auf dem Oberarm herum. Es bildeten sich Krusten und Teile entzündeten sich. Der Grund dafür war mir nicht ganz bewusst, Krusten und Entzündungen gehören bei Wunden ja dazu. Wie bei Lippenherpes oder so.
Der untere Teil des „h“ krustete so sehr, dass sich das Gewebe stark vernarbte und es in späteren Versuchen keine Tusche mehr aufnahm. So blieb der Buchstabe ein wenig blass.
Weil wir nicht so schnell eine neue Möglichkeit fanden, das Werk zu beenden, arbeitete ich selber daran weiter. Schliesslich wusste ich jetzt, wie es geht. Aber schon beim zweiten „S“ in „Sehnsucht“ wurde es schwierig, weil es sich bereits auf der hinteren Seite des Armes befand und ich nicht mehr gut sehen konnte, was ich da vor mich hin stach. Also bat ich verschiedene Leute, daran weiterzustechen. Es dauerte sicherlich ein halbes Jahr, bis das Ganze fertig war.
In Haimos Erinnerung stammten die letzten drei Buchstaben von ihm. Er sagt, das sei sein Stil gewesen. Aber ich weiss noch sehr gut, dass er mit „Seh“ anfing und nicht mit „ucht“.
Fast zehn Jahre später, als ich in den Niederlanden lebte, lernte ich einen jungen Polen kennen, der für einige Monate im besetzten Haus am Utrechter Ganzenmarkt wohnte. Er logierte im Gästezimmer, das war ein notdürftig eingerichteter Raum mit zwei Matratzen und einer Steckdose. Der Raum mass vielleicht 5 Quadratmeter an Grundfläche und wenn ich mich richtig erinnere, konnte man darin nicht stehen. Während ich das so aufschreibe, dann kommt mir vor, ich erzähle Märchen, aber der Raum war über eine wacklige Bretterkonstruktion erreichbar, die man von der Treppe aus hinübergebaut hatte. Da das Haus vor der Besetzung und dem Brand ein Matratzenlager gewesen ist, vermute ich, dass es sich früher um ein Versorgungsraum gehandelt haben musste. Immerhin besass der Raum ein Fenster. Aber keine Tür. Stattdessen hing eine schwere Decke im Türrahmen.
Ich kann mich nicht an hygienische Bedingungen erinnern. Im Gästezimmer am Ganzenmarkt wohnten ständig andere Leute. Allerdings halte ich es für unwahrscheinlich, dass jemand den Raum aus hygienischer Perspektive pflegte. Gäste hausierten dort üblicherweise in Schlafsäcken, die Matratzen dienten nur als weicher Untergrund.
Der junge Pole wollte professioneller Tattoo Artist werden und besass eine professionelle Maschine. Als ich ihn am Tresen im ACU kennenlernte, fanden wir schnell zu einem Termin. Er sollte mir das Tattoo etwas nachschärfen. Vor allem die Ränder mit ordentlichen Linien versehen. Und vielleicht hier und da die eine oder andere Serife hinzufügen.
So sassen wir dann in dem staubigen Gästezimmer am Ganzenmarkt und er besserte mein „Sehnsucht“ ein wenig aus. Ich bin mir nicht sicher, ob mir das Ergebnis gefiel, aber immerhin waren die Ränder jetzt weniger ausgefranst. Ich war da bereits 28 oder 29 Jahre alt. Das Konzept Hygiene war mir immer noch nicht ganz geläufig.
Aber so geht die Geschichte mit meiner ersten Tätowierung.