[Sa/So, 22./23.7.2023 – Rückfahrt, True Classic, Podcast]

Die Fähre in Dänemark, die ich eigentlich nehmen wollte, war überbucht, deshalb buchte ich eine Fähre zwei Stunden später. Dass eine Fähre ausgebucht wäre, ist mir in all den Jahren noch nie passiert, ich fürchtete, dass die Strassen in Schweden und Dänemark verstopft sein würden. Es ging aber.
Wir kamen um 20 Uhr in Berlin an, das ist immer noch einigermassen früh. Wir setzten uns auf den Balkon, öffneten uns ein Bier und schenkten uns einen Whisky ein. Damit bekommt man die Vibrationen des Motors aus dem Körper raus.
Berlin ist angenehm temperiert bei 22 Grad.

Fürs Protokoll: das neue Auto kann mit einer einzigen Tankfüllung die gesamte Strecke fahren. Zumindest wenn ich in Deutschland nicht die 130 Kmh überschreite. Laut Anzeige hätte ich sogar noch 50 weitere Kilometer fahren können. Das hat mich sehr überrascht.

Tscha.

Sonntag. Was ist am Sonntag passiert. Ich habe das Paddel in Schweden vergessen. Ich Trottl. Ich vergesse immer etwas. Immerhin habe ich diesmal an die Zahnputzmaschine und den Rasierer gedacht. Mein Schwager wird mir das Paddel Ende August mitbringen, aber August ist eigentlich ja Kayakzeit in Berlin. Und in September bin ich oft in Amsterdam. Ich bin ein Idiot. Möglicherweise kann man sich aber Paddel ausleihen.

Auch sind die korrigierten Tshirts von True Classic angekommen. Letzten Monat schickten sie mir ja zwei Paare in „Large“ und eines in „XLarge“. Ich bat sie, das „XLarge“ durch ein „Large“ auszutauschen, jetzt schickten sie mir 3 in „XL“. Die falschen darf ich aber behalten.

Ich habe also 4x „XL“ von diesen Instagram-Dadbod-Tshirts zu verschenken. Wer will, bitte DM.

Die Hündin hat sich sofort an Berlin gewöhnt. Sie trägt halt wieder öfter Leine, es scheint sie nicht zu stören, aber mittlerweile läuft sie so gut ohne Leine, dass ich sie nur an der grossen Strasse festmache oder wenn wir mit den Bahnen fahren, wo es ja Pflicht ist. OK, auf der Strasse ist es eigentlich auch Pflicht, aber sie ist dermassen entspannt und aufmerksam, dass es nie zu Zwischenfällen kommt. Ich mag das. Ich mag das ungemein, mit der unangeleinten Hündin zu spazieren. Wir sind dann so ein Team.

Am Abend arbeitete ich am technischen Unterbau für den demnächst erscheinenden Podcast über Herthas Frauenabteilung. Es ist ein Projekt von Mitgliedern meines Fanclubs. Ich freue mich sehr darauf, ich werde das Projekt technisch begleiten.

[Do/Fr 20./21.7.2023 – Max, alte Scheren]

Wir besuchten Max. Max und meine Frau kannten sich als Kinder. Danach vergingen viele Jahre, bis sie sich letztes Jahr im Mai wiedertrafen, als er uns damit half, ins Haus zu kommen. Wir mochte Max damals sehr und wir beschlossen in Kontakt zu bleiben, da er von Lappland wieder in den Süden gezogen war, also in den Süden von Schweden, da wo er herkommt, da wo wir auch immer sind. Letztes Jahr sagte er, dass er ein Tattoostudio eröffnen wollte, wir schrieben ihn deshalb an, ob es geklappt habe, ich liess ihn wissen, dass ich mir nämlich ein schwedisches Motiv von einem schwedischen Tätowierer stechen lassen wollte.

Er lud uns spontan zu sich ein. Er wohne jetzt in einem Haus zur Miete, das er sich demnächst kaufen wolle. Das mit dem eigenen Studio habe noch nicht funktioniert. Er arbeitete gerade in einem Werkzeugladen und sei sonst eher mit Kunst beschäftigt, er richte sich das Haus gerade als Atelier ein, in dem er dann auch privat tätowieren würde. Es klang alles etwas chaotisch, aber auch lustig.

Er wohnt etwa 15 Minuten von uns entfernt, ziemlich abseits in einem Haus an einem offenen Hang mit einer wunderbaren, weiten Aussicht über Hügel und in der Ferne sieht man sogar einen See. In unmittelbarer Nachbarschaft gibt es drei weitere Holzhäuser, in zwei davon leben Freunde von ihm, ein Stück weiter unten der Vermieter, der ihm das Haus verkaufen wird.
Das Haus ist eher klein, es hat eine Gesamtwohnfläche von etwa 80 Quadratmeter, auf zwei Etagen verteilt, aber es sind vier Räume und es ist gross genug.

Neben seinem Haus hat er eine Downhill-Fahrbahn gebaut. Eine Downhill Fahrbahn ist eine wilde Farbahn mit Sprungschanzen und Hindernissen, die man in hohem Tempo bergabwärts befährt. Ziel ist es, schnell zu sein und heil unten anzukommen. Er hat dort Schanzen, Kurven und Rillen in Beton gegossen. Die Fahrbahn beginnt ein paar hundert Meter oberhalb seines Hauses, streift unmittelbar seinen Gartenzaun und soll am Ende eine Gesamtlänge von etwa einen Kilometer betragen. Die Nachbarn finden das gut.

Wir trinken Kaffee und essen Haferkekse. Wir reden über seine Pläne, über Kunst, Graffitiys, über Mexiko und über Berlin. Er liebt Mexiko und Berlin. Er fragt was mit diesem Löwen in Berlin passiert sei. Die Nachricht über die freilaufende Raubkatze ist bis nach Schweden durchgesickert. Wir machen nur blöde Witze darüber und zeigen im irgendwelche Memes zu dem Thema, die in den letzten Stunden entstanden waren.

Ich bin mir nicht so sicher, ob er mich überhaupt tätowieren will. Er sagt, er könne erst ab nächsten Monat wieder tätowieren, er empfiehlt mir einen Freund aus Göteborg, ich sagte aber, dass ich es nicht so eilig hatte, ich hätte eher an Mai oder Juni nächstes Jahr gedacht. Dann zeigt er mit Motive, die er entwirft und die er gestochen hat. Ich sagte, ich möchte diese altmodischen, schwedischen Scheren als Motiv. Ich weiss nicht, ob sie explizit schwedisch sind, aber man sieht sie hier öfter, zB im Wappen der Stadt Boras und sie hängen auch bei uns im Häuschen, die hingen da immer schon, vermutlich wurden sie von den Grosseltern aufgehangen. Ich zeigte ihm ein Foto auf meinem Telefon.

Darafhin zeigte er mit seiner Hand hinter mich und sagte: schau da. Ich drehte mich um. Auch da hing eine dieser altmodischen Scheren. Sie waren vor seinem Einzug schon da.

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Freitag war Packtag. Der letzte Tag ist immer ein merkwürdiger Tag des Aufbruchs. Ich habe nichts zu berichten.

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Nachtrag von gestern. Meine neue Frisur und das Filmchen von der Rehkuh.

[Mi, 19.7.2023 – Rehe, Sickergrube, Plumsklo]

Es ist richtig kühl geworden. Heute betrug die Höchsttemperatur 16 Grad. Dazu wehte ein stürmischer Wind. Ich trug über dem Tshirt ein dünnes Jäckchen. Das trug ich im Juli schon lange nicht mehr. In meiner Kindheit war das im Sommer oft so, ich bin ja auf 1500m Meereshöhe aufgewachsen, im Sommer stieg das Quecksilber selten über 25 Grad und abends kühlte es immer schön aus. Hier ist es ähnlich. Wenngleich die letzten Sommer hier immer sehr heiss gewesen sind. Vor zwei oder drei Jahren betrug es im Juli durchgehend über 30 Grad.

Beim Morgenspaziergang mit der Hündin traf ich eine Rehkuh mit drei Kitzen. Wir spazierten über die Flussaue hinaus zu unserer Badestelle. Die Hündin und ich machen das jeden Morgen. Wir spazieren hinter die Scheune hinunter über den von mir freigemähten Weg, dann laufen wir über die Wiese zu dem neuen Ufer, auf dem ich die Brennnesseln entfernt habe, dort geht sie mit den Pfoten in den Fluss uns trinkt daraus, danach gehen wir weiter über die Flussaue zur Badestelle und dort schauen wir beide ein bisschen über den Fluss. Fast sowas wie ein Kontrollgang. Die Hündin trägt ein Ordungsamt-Gen in sich. Sie liebt diese Kontrollgänge.
Wenn wir fertig sind, schnüffelt sie die Gegend ab und springt im hohen Grass herum.

Als ich in den Flussauen stand und der Hündin beim Schnüffeln zuschaute, sah ich rechts von mir eine Rehkuh. Auch sie sah mich und blieb erstmal stehen. Ihre Aufmerksamkeit widmete sie aber eher meiner Hündin, die etwas weiter weg den Boden abschnüffelte, sie wusste wohl, dass von dem kleinen Raubtier die wesentlich grössere Gefahr ausging. Als ich die Kamera zückte um es zu filmen, sprangen auch drei kleine Rehkitze aus dem hohen Gras hervor.

Bevor die Hündin das mitbekommen würde, beschloss ich sie zu mir zu rufen und wir gingen zurück hinauf in den Wald zum Haus. Sie hatte von all dem nichts mitbekommen.

Am Nachmittag sassen wir zusammen und gingen alle Unterlagen zum Haus durch. Alles muss umgeschrieben werden. Strom, Müll, Versicherungen, Internet. Die Bankdaten und Postadressen müssen geändert werden. Möglicherweise werden wir die Sickergrube irgendwann stilllegen müssen. Das Plumsklo können wir zwar weiterverwenden, aber das normale Abwasser, also das Grauwasser, darf nicht mehr in eine gewöhnliche Sickergrube einfliessen. Die neue Gesetzeslage sieht vor, dass alle Häuser, die nicht an die Kanalisation angeschlossen sind, ein 3-Kammer-System bauen lassen müssen, das dann alle paar Jahre durch einen LKW geleert wird. Das betrifft sicherlich hunderttausende solcher Häuser im ganzen Land bis hinauf nach Lappland. Das macht uns ein bisschen Angst. Ein 3-Kammer-System, das von LKWs geleert werden muss, das klingt als würde man eine Kanalisation für ein kleines Rom bauen müssen. Aber eine schnelle Recherche im Netz beruhigt, es sind überschaubare Kosten. In der Regel bezahlt man 3000 EUR, manchmal etwas mehr, vielleicht 5000.
Ein 3-Kammer-System hätte auch den Vorteil, dass wir ein normales Wasserklosett einbauen könnten. Auch eine charmante Idee. Ich komme mit dem Plumsklo zwar ausreichend zurecht, aber ehrlicherweise hatte ich bisher noch keine wirklichen Notsituationen zu meistern. Ich will mir nicht vorstellen, eine Magen-Darm-Seuche auf einem Plumsklo austragen zu müssen. Oder wenn man dringend, nachts, bei Regen und Kälte mit Bauchkrämpfen die hundert Meter hinunter zum Klo laufen muss. Letzteres ist mir vor ein paar Jahren mal passiert. Fand ich nicht gut. Aber es ist eben nur einmal passiert.
Für die Nacht habe ich sonst einen Nachttopf. Ich muss ständig nachts die Blase leeren.

[Mo/Di, 17./18.7.2023 – Haarschnitt, Kayak]

Heute fuhren wir in die Stadt. Ich bestand darauf, das Tier mitzunehmen. Man muss als Hundehalterin wissen, dass Schweden nicht so hundefreundlich ist, wie beispielweise Deutschland. Man kann Hunde so gut wie nie in Geschäfte oder Malls mitnehmen, in Restaurants auch nicht, in kleineren Lokalen wie Cafes nur in Ausnahmefällen.

Mir war es egal, ich würde mit dem Tier einfach meine Runden drehen. Während meine Frau und ihre Mutter in ein paar Geschäfte gingen, setzte ich mich vor das Espresso House. Heute fand ich heraus, dass im Espresso House Hunde willkommen sind. Letztes Jahr im kühlen Mai sass ich mit einer zu dünnen Jacke auf den Tischen davor und fror. Es hatte mich aber niemand hereingebeten, ich dachte nur, Scheissland, dass man nirgendwo mit Hunde hineindarf. Jetzt weiss ich es besser.

Dann überfiel mich ein starkes Gefühl. Das Gefühl, etwas gegen meine Frisur unternehmen zu müssen. Auf der Oberseite des Kopfes hatte sich bereits eine seltsame Welle geformt. Zusätzlich zu meiner eingesetzten Verwilderung der letzten Tage, fühlte ich mich etwas zivilisationsfremd, wie ich da vor dem Espesso House sass.

Also googelte ich nach Friseuren in der Gegend. Etwa 200m von mir, in einer kleinen, etwas muffeligen Mall, gab es einen Frisurladen. Die Bewertungen waren okay, aber ich interessiere mich vor allem für die negativen Bewertungen, wenn man die ein bisschen kritisch selektiert, findet man ein gewisses aussagekräftiges Muster, sowas wie eine Essenz der Kritik. Und anhand dessen beschliesse ich immer, ob mich die entsprechenden negativen Dinge stören oder ob sie mir gleichgültig sind. Diese ausgewählte Friseurin hatte nur zwei 1-Sterne Bewertungen. Das waren zwei Beschwerden von Kunden, die verletzt wurden. Einmal ein kleiner Junge, der nach dem Friseurbesuch rote Streifen im Nacken hatte und ein anderer Kunde hatte geblutet. Das ist aber alles nichts, das mich abschreckt.

Ich rief an und wollte fragen, ob ich sofort kommen könne und ob es gestattet sei einen Hund mitzubringen. Ich fragte als erstes auf schwedisch, ob sie englisch spräche. Sie sagte: nein.
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich kann mit Händen und Füssen einen gewünschten Haarschnitt beschreiben, aber ich wusste nicht wie ich telefonisch um einen Soforttermin fragen sollte. Von der Hundefrage will ich noch gar nicht anfangen. Also sagte ich: „oh, Okay, hm. Hej Da.“
‚Hej Da‘ mit dem Kringel heisst tschüss. Auch sie sagte: Hey da.

Das konnte ich so nicht sitzen lassen. Später traf ich meine Frau und übergab ihr den Hund. Ich hatte sie darüber unterrichtet, dass ich jetzt zum Haareschneiden müsse. Sie fand das gut.
Ich fand den Laden. Er war leer. Eine ältere, etwas konservativ gekleidete Frau kam aus einem Personalzimmer hervor. Ich sagte in sehr ungelenkem Schwedisch, dass ich der Anrufer von vorhin sei, der mit dem englisch. Sie lachte. Ich schaffte es zu fragen ob ich jetzt sofort einen Termin bekäme. Sie nickte. Und so sass ich kurz darauf vor dem Spiegel.

Sie war etwas grob. Sie stiess mit der schweren Rasiermaschine eigentlich ständig an meine Schädelknochen. Auch mit der Schere hantierte sie übermässig schnell und etwas grobmotorisch. Sie nahm ihr Fach unfassbar ernst. Sie musterte jeden zweiten Scherenschnitt von allen Seiten, achtete ständig auf die Symetrie, ihren Mund hatte sie zu einer konzentriert wirkenden Schnute verzogen und die Stirn zu einer kritisch prüfenden Faltenlandschaft aufgeworfen.
Ich liebe es, wenn Menschen ihre Kunst ernst nehmen. Sie hielt mit beiden Händen an meinem Kiefer immer wieder meinen Kopf fest, prüfte die Symetrie, dann schnipselte sie hier einen zehntel Milimeter weg und da einen halben Milimeter. Sie kniff die Augen zusammen und zog Augenbrauen hoch.

Irgendwann konnte ich mich nicht mehr einhalten. Als sie mich wieder mit beiden Händen an meinen Kiefern begutachtete, rief ich in meinem besten schwedisch: SKULPTUREN!

Sie schien sich über meinen Ausruf zu freuen. Als hätte ich ihr Handwerk, das sie so ernst nahm, verstanden.
Am Ende schien sie happy. Ich auch.
Sie sagte, das sei ein anderer Style als ich bisher hatte. Das war mir auch aufgefallen. Es schien mir, als sei sie überrascht darüber, fast als wäre es gar nicht ihre Absicht gewesen. Ich weiss nicht, ob das von ihrem Können zeugt, oder von ihrer Virtuosität.

Aber mit gefiel es.

Gegen vier Uhr fuhren wir zurück in den Wald. Dann kochten wir uns eine Shakshuka und gegen acht Uhr fuhr ich zum Flughafen in Göteborg um Schwiergvater und Schwager abzuholen.
So war das heute.

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Gestern vormittags gab es mehrere Wellen mit Sturzregen. Gegen 3 Uhr lichtete sich der Himmel und die Sonne brannte auf uns herab. Also assen wir eine Kleinigkeit und dann war es plötzlich 4 Uhr. Ich ergriff die Gelegenheit des stabilen Wetters und ging mit dem Kayak auf den Fluss. Ich fuhr 2 Kilometer flussaufwärts bis zum Wasserfall und dann wieder zurück. Das Faltkayak ist nicht ganz so stabil wie das richtige Kayak, das ich in Berlin gemietet hatte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich darauf einen unruhigen Hund mitnehmen würde.
Aber wenn ich darauf ruhig sass und paddelte, war es sehr angenehm zu fahren.

Die Hündin fand es überhaupt nicht lustig, was ich da machte. Sie sollte mit meiner Frau am Ufer warten. Meine Frau hatte sie an einen alten Zaun festgebunden, damit sie nicht unbedachte Dinge täte. Sie war so aufgebracht davon, wie ich mit einem Schwimmkörper auf den Fluss hinaus schipperte, dass sie in der Aufregung den Zaun mitriss. Sie ist nur ein kleiner 14 Kilo Hund, für ihre Grösse fand ich das eine erstaunliche Leistung. Es schien als hätte sie sich selber darüber erschreckt und fast wäre sie mit dem Zaun über die Böschung in den Fluss gestürzt. Aber meine Frau wusste das mit einem schnellen Handgriff zu verhindern.

[So, 16.7.2023 – Schneisen, Mähen]

Ich bin ja kein Naturbursche. Wirklich nicht. Auch wenn das vielleicht nicht so erscheinen mag. Ich hasse Natur, ich hasse Insekten, ich hasse Schlangen, ich hasse vor allem hohes Gras. Ich bin voller Hass.

Meine Lieblingstätigkeit hier im schwedischen Wald ist es, Gras zu schneiden. Im kurzen Gras streife ich keine Zecken mit, es verstecken sich keine Schlagen darin und wenn doch, dann sehe ich sie gleich. Ich will die Wildernis zähmen, ich beseitige Gestrüpp und gehe jeden Morgen dort hin, wo ich Gestrüpp beseitigt habe und trete es fest, oder auch am Ufer, wo ich hohes Gras, Farne und Brennesseln gerodet habe, beim Morgenspaziergang gehen meine Hündin und ich das Ufer ab und treten die gerodeten Nesseln platt. Muss man jeden Tag machen, damit sie nicht nachwachsen.

Ich hasse Natur. Naja. Zumindest Schlangen. Aber auch Insekten. Wenn sie auf mir kriechen. Vielleicht ist es noch nicht Hass, vielleicht eher eine sehr starke Abneigung, oder vielleicht nur Abneigung, nicht sehr stark, fehlende Liebe. Fehlende Liebe vielleicht.

Unterm Haus, unweit des Flusses ging früher eine Waldstrasse, die unser Häuschen umfährt. Es sind etwa zweihundert Meter, die seit den achtziger Jahren nicht mehr genutzt werden, entsprechend verwachsen ist die Strasse. Vorgestern fand ich heraus, dass die Frau des Cousins meiner Frau diesen Weg nutzt, wenn sie mit dem Fahrrad ins nächste Dorf fährt. Das tat mir ein bisschen leid. Diesen verwucherten Schotterweg kann man eigentlich nicht mit dem Fahrrad befahren. Also nahm ich mein Mähgerät und mähte eine Schneise. Jetzt dürfte sie es leichter haben.

An einer Stelle des Flusses habe ich eine Sandbank entdeckt. Bereits letztes Jahr, als ich da mit der Drohne entlangflog. Ich suche immer noch eine geeignete Stelle, an der man einen kleinen Steg bauen kann. Unsere jetzige Badestelle befindet sich in einer Kurve, dort ist das Ufer steil, wir haben eine kleine, steile Holztreppe, die ins Wasser führt. Aber ich bin kein guter Schwimmer. Heute mähte ich deswegen an jener Stelle, an der ich die Sandbank entdeckt hatte, eine Schneise durch Brennnesseln und hohem, dichten Gras. Dahinter tat sich eine sehr schöne Uferstelle auf.

Ansonsten ist das Wetter sehr unstet. Zehn Minuten Sonne, zehn Minuten Gewitter, undsoweiter.

Ich verwildere.

[Sa, 15.7.2023 – Wetter und Perfektheit, Nachbarn, Kayak]

Es war heute etwas wärmer. 24 Grad. Am späten Nachmittag kam die Sonne raus, in der direkten Sonne wurde es schon unangenehm. Ich stellte mich in den Schatten und baute endlich das Faltkayak auf. Morgen würde es den ganzen Tag nicht regnen, das wird der Tag sein, an dem ich das Rudegerät testen werde. Bei 18 Grad auf dem Wasser. Alle beschweren sich über diesen kalten und verregneten Sommer, ich hingegen sage ständig: es ist perfekt. Ich komme mir wie eine alte Leiher vor, deren Gebete endlich erhört wurden, aber trotzdem nicht aufhören kann zu leihern.

Meine Frau war um 4 Uhr bei ihrem Cousin verabredet. Der wohnt mit seiner Frau 2 Kilometer flussaufwärts. Früher wohnten dort Tante und Onkel. Da sie jetzt beide verstorben sind, hat der eine Cousin das Haus übernommen. Neben dem alten Holzhaus hat er sich mit seiner Frau ein moderneres, kleines Hölzhäuschen gebaut. Direkt am Waldrand, genau an dem Ort wohin die Sonne am längsten scheint.
Ich begleitete meine Frau diesmal nicht, da sie ein paar Themen zu besprechen hatten, es gilt gerade viel bezüglich der Wege-Vereinigung und des Wasserwerks zu besprechen, das lässt sich am besten auf schwedisch klären, ich stünde da nur als gutaussehendes Beiwerk daneben. Ich werde sie nächstes Jahr, oder ein andermal besuchen.

Sie wohnen dort von März bis einschliesslich November. Für die ganz harten Wintermonate reicht die Isolierung nicht aus. Sie würden durchgehend heizen müssen und das ist nicht sehr ökologisch. Ausserdem verfügen sie, anders als wir, über kein fliessendes Wasser. Sie holen das Wasser eimerweise aus dem Fluss. Wir haben immerhin einen kleinen Brunnen, aus dem wir das Wasser ins Haus hochpumpen können.

Nun.

Es ist abend. Meine Schwiegermutter und ich sind alleine und plaudern. Es ist sehr nett.

Den ganzen Tag über meldete meine berliner Instagramblase von 36 Grad. 36 Grad rufen Beklemmungen in mir hervor.

[Do/Fr 13./14.7.2023 – Mühle, Tischler, Rot, Gestrüpp, die Sinnhaftigkeit des Seins]

Der letzte Eintrag wurde gegen Ende hin schlampig. Ich sah es regelrecht unter meinen Fingern geschehen, aber ich konnte es nicht einfangen.

Mir kommt vor, dass ich nicht deutlich genug zum Ausdruck bringen konnte, wie glücklich mich dieser Regenspaziergang mit Hund gemacht hatte. Und wie viel Energie es mir gab, als ich trotz Regenjacke halb durchnässt zur Dachtraufe stieg und die Regenrinne von Schlamm und Moos befreite.
Deswegen muss ich es hiermit noch einmal nachreichen, nachdrücken.

Heute spazierten wir die Strecke noch einmal, aber ohne Regen und noch etwas weiter, etwa zwei Kilometer flussabwärts, bis zu der baufälligen Brücke wo früher die Mühle stand, da wo jetzt der Damm gebaut werden soll. Ich wollte einfach die Gegebenheiten vor Ort sehen, es gibt dort diese natürliche Stromschnelle, fast schon ein Wasserfall, deswegen stand dort früher auch die Mühle. Das Gefälle will sich der Unernehmer jetzt für sein Kraftwerk zunutze machen. Wie schon vor einigen Monaten geschrieben, stehen wir der Sache eher gleichgültig gegenüber, aber im Zweifelsfall stellen wir uns an die Seite der Nachbarn.

Ich war noch immer müde von der fehlenden Nacht, ich hing ein bisschen in den Tag hinein, schlief ein paarmal ein.

Heute am Freitag kam frühmorgens der Tischler. Meine Frau hatte ihn bereits letzte Woche bestellt, da zwei der Fenster sich als morsch herausgestellt haben. Er sah es sich an, sagte, dass das relativ unkompliziert auszutauschen sei. Vermutlich kann er das aber erst nach dem Sommer reparieren, aber auf jeden Fall vor dem Winter. Im Vorbeigehen verwies er auf den Anstrich des Hauses, er merkte an, dass man durch die rote Farbe hindurch schon wieder das Holz sähe, das müsse nachgestrichen werden. Er hatte recht, das war uns gar nicht aufgefallen, ich hatte die Südseite des Hauses erst vor sechs oder sieben Jahren gestrichen, wir waren nicht auf die Idee gekommen, dass es wieder an der Zeit sei. Er sagte, die Farbe, die wir verwendeten sei gut, aber man müsse sie alle 5 Jahre erneuern. Das ist die traditionelle rote Farbe der schwedischen Holzhäuser. Das ist in Wirklichkeit gar keine Farbe, sondern ein Holzschutzmittel, ein Nebenprodukt des Kupferbergbaus und wurde vor einigen hundert Jahren eher zufällig beliebt und wurde irgendwann zum nationalen Symbol erhoben.

Ich hätte mir vor einigen Jahren nicht gedacht, dass ich mich mit der Qualität der roten Schwedenfarbe auseinandersetzen muss. Es gibt jedenfalls höherwertiges rot, das kostet ungefähr zehnmal so viel, hält aber bedeutend länger. Zehnmal so viel klang nach sehr viel Geld und aus dem Grund verfolgten wir das Gespräch nicht weiter, vor allem, weil wir noch mehrere Eimer von dem traditionellen Falunrot in der Scheune stehen haben. Er bot auch an, das Haus gleich mitzustreichen, wenn er schon wegen der Fenster vorbeikäme.

Nebenbei mitstreichen. Pft. Ich brauchte damals für zwei Wände ungefähr eine halbe Woche. Der will das nebenher mitmachen. Ich hasse Profis. Wir haben noch nicht zugestimmt, aber je länger ich darüber nachdenke, desto sinnvoller erscheint es mir.

Als der Tischler gegangen war brachte ich den Schwiegervater und den Schwager zum Flughafen in Göteborg. Sie würden für einen Kurztrip nach Irland fliegen.

Auf dem Rückweg fuhr ich ins Dorf zum Eisenwarenhandel und kaufte diese zackigen Plastikklingen für den Rasentrimmer. Ich wollte an der Südseite das Gestrüpp zurücktrimmen. Es gibt dort zwei schöne Birken und eine grosse Kiefer, aber alles drumherum ist verwachsen und verstruppt. Vor vierzig Jahren hatten die Kinder dort einen Sandkasten, man ahnt nur, dass dort einmal etwas war. Alles ist dschungelartig überwuchert und eingewachsen. Mich stört das schon seit Jahren.

Es gibt die Geschichte, dass die Jungs, die heute meine Schwager sind, im Sandkasten mit einem grossen Wurm spielten. Als die Mutter das sah zeigten sie stolz den Wurm, den sie gefunden hatten. Es stellte sich heraus, dass es sich um eine Kreuzotter handelte. Ist aber nichts passiert. Während ich da so im hohen Grass zwischen den archäologischen Überresten eines Sandkastens die Wucherungen zerschlug, musste ich an den grossen Wurm denken und wurde ein bisschen nervös. Es hielt mich aber nicht davon ab.

Nebenher habe ich natürlich noch sinnvolle Dinge gemacht. Zumbeispiel ein Fenster renoviert. Wir wollen in den nächsten zwei Jahren alle Fenster einmal durch haben. Es wurde sich lange nicht mehr um sie gekümmert. Ich komme mir ungemein sinnvoll vor, wenn ich Unterhalt an einem Haus tätige.

[Di/Mi 12.7.2023 – Gamle Apothek, kein Schlaf, Regen, Futterkomas]

Ich fuhr am Nachmittag los und erreichte gegen 22Uhr das kleine Hotel „Det Gamle Apothek“. Das Hotel sieht aus der Entfernung wie ein Landhaus aus, es steht etwas einsam, von Bäumen umgeben auf einem Hügel fernab des Dorfes. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das früher wirklich eine Apotheke gewesen sein soll, was der Name suggeriert, wer reiste damals schon so weit zu Fuss oder mit dem Pferd um Medizin zu kaufen. Ich habs aber nicht recherchiert, warum das Hotel so heisst.

Als ich ankam wirkte das Anwesen etwas verlassen. Zwar standen einige Autos herum, aber ich sah keine Menschen und nirgendwo brannten Lichter. Auf der Suche nach der Rezeption lief ich mehrmals über das Gelände, ich fand sie aber nicht. Also schaute ich nochmal in meine Mails. Mittlerweile hatte ich mehrere Mails von der Hotelbetreiberin erhalten. Das Hotel funktioniert offenbar komplett autonom über Codes an Hotel- und Zimmertüren. In der Mail fand ich auch meinen Code und so kam ich in mein Zimmer.
Ich muss zugeben, die Sache mit wenig Planung angegangen zu sein. Ich hatte mich nicht um Wasser und Essen gekümmert. Das Hotel war offenbar auf Selbstversorgerinnen ausgelegt, es gab nicht einmal Duschgel oder Seife. Aber immerhin Badetücher. Zu allem Überfluss hatte ich auch noch meine Zahnbürste in Berlin vergessen.

Also fuhr ich schnell ins Dorf und kaufte etwas Wasser, ausserdem einen Becher Fertigcappuccino und ein Brötchen, Weil ich im Hotel sicherlich kein Frühstück bekommen würde. Nur das Duschgel vergass ich.

Und dann versuchte ich zu schlafen. Mir war zu warm und alles war unangenehm und überhaupt und auf meinen Zähnen lag ein Belag, den ich die ganze Zeit mit meiner Zunge betastete.

Ich glaube, gegen 2 Uhr nickte ich einmal kurz weg. Aber um vier Uhr lag ich schon wieder eine ganze Weile wach. Meine Uhr behauptete, ich hätte 39 Minuten geschlafen. Das kann sein, ich glaube, das war aber mindestens eine Stunde. Als ich dann um vier Uhr schon eine ganze Weile dalag, Instagram Reels aufsog und der Horizont sich zu lichten begann, entschloss ich, einfach ins Auto zu steigen und weiterzufahren. Das Liegen war Zeitverschwendung.

Noch in Dänemark geriet ich in ein Gewitter. Im Osten sah ich den Sonnenaufgang, während über mir das Unwetter niederkam, das war ein sehr schöner Anblick. Ich fahre wirklich gerne bei Regen. Mir kommt es immer vor, dass dann alle wesentlich aufmerksamer und rücksichtsvoller fahren. Und das Niederprasseln des Regens, dazu die Lieblingsmusik aus den Boxen, das ist ein Gefühl unterwegs zu sein und ein Gefühl der Heimat zur gleichen Zeit.
Um Kopenhagen herum war um diese Uhrzeit herum schon richtig viel los. Die Autobahnen sind dort zum Teil fünfspurig auf jeder Seite und trotzdem war um 5 Uhr schon sehr dichter und langsamer Verkehr. Ich weiss nicht, was ich damit sagen will, aber ich dachte mir: das musst du ins Blog schreiben, das ist erstaunlich.

Auf der Öresundfähre frühstückte ich. Filterkaffee mit einem Fischbrötchen. Auch deckte ich mich mit Schokolade ein um mir bei Müdigkeit Zuckerschübe zu geben. Ich ahnte, dass ich nach 30 Minuten Schlaf müde werden würde.
Die ganze Fahrt durch Schweden fand im Regen statt. Irgendwann, irgendwo im schwedischen Wald wurde ich schlagartig müde. Ich hatte meiner Frau eine Telegram geschrieben, dass ich kaum geschlafen hatte und nun losgefahren sein, dabei versprach ich ihr aber, bei Anzeichen von Müdigkeit sofort anzuhalten.
Ich nahm daher eine Parkbucht und versuchte etwas zu schlafen. Aber das funktionierte nicht. Ich war zu aufgedreht. Nach 20 Minuten in denen ich krampfhaft meine Augen zugekniffen hatte, liess ich das mit dem Schlafen sein, stieg aus, schüttelte meine Gelenke und Gliedmassen frei und fuhr weiter.

Ich kam schliesslich unversehrt an.

Meine Hündin war sehr happy. Meine Frau war sehr happy.

Ich blieb aber sehr müde. Nach dem Kaffee und ein paar Brotscheiben mit Käse, legte ich mich ins Bett und schlief eine Stunde. Danach ging es mir etwas besser. Nachher gingen wir im Regen spazieren. Es regnet hier seit zwei Wochen. Bei 17 Grad Celsius. Ich hatte eigens meine Regenjacke mitgenommen und mich auf Regenspaziergänge gefreut, ich war gerade den tropischen Temperaturen in Berlin entkommen.

Nach dem Regenspaziergang war ich voller Energie. Ich sah, dass die Regenrinne am Haus mit Moss verstopft war und daher an mehreren Stellen herabregnete. Ich war so nass und gutgelaunt und mir war alles so egal, dass ich in die Scheune ging, die Leiter holte und zur Traufe hinaufstieg um die Regenrinne vom Moos und vom Schmutz zu befreien. Ohne Handschuhe und Werkzeug, einfach hineingegriffen und herausgefischt.

Danach war ich so glücklich.

Plötzlich war Bier o‘ Clock und es gab Oliven mit Käse und mein gebliebtes, leichtes Session IPA, dazu einen Whisky. Davon bekam ich ein Futterkoma und musste mich hinlegen. Daraufhin schlief in zwei Stunden lang einen tiefen, traumlosen Schlaf. Zwei Stunden später weckte mich meine Frau fürs Abendessen. Während des Essen hielt ich mich einigermassen wach, es folgte aber ein weiteres Futterkoma und ich stürzte mich ins Bett für den Rest der Nacht.

[Mo, 10.7.2023 – morgen Reisetag]

Am morgigen Dienstagabend werde ich ja verreisen. Ich fahre immer gerne nach Feierabend los, damit ich die weite Strecke nicht an einem einzigen anstrengenden Tag befahren muss. Ich werde bis fast nach Kopenhagen fahren, das ist ungefähr die Hälfte der Reise. Dort habe ich neben der Autobahn ein billiges Hotelzimmer gebucht.

Vor zwei Wochen buchte ich ein kleines Hotelzimmer gleich hinter der Fähre in Dänemark. Ich weiss aber von den letzten Malen, dass ich nach der langen Fährfahrt noch genug Energie habe um noch ein Stückchen zu fahren. Und jede Stunde, die ich am ersten Tag schaffe, geht mir von der Reise am Mittwoch ab. Also buchte ich ein anderes Zimmer kurz vor Kopenhagen.

Der Fehler: ich buchte das neue Zimmer bevor ich das alte Zimmer stornierte. Beim Stornieren schien nun auf der Seite auf, dass ich das Zimmer zwei Tage vor der Reise nicht mehr stornieren kann. Und das neu gebuchte Zimmer natürlich auch nicht mehr.
Das hätte ich eigentlich wissen können.
Mehrere Hotelzimmer auf der Reisestrecke zur Verfügung zu haben, hat was, muss ich zugeben.

Heute also Packtag. Ich weiss nicht, ob es morgen einen Eintrag geben wird. An Reisetagen kommen ich neuerdings nicht mehr gut zum Schreiben, wobei das vor allem mit der Hund-Logistik zu tun hat und die Hündin habe ich dieses Mal ja nicht dabei.

Auf jeden Fall werde ich Stories auf Insta posten. Ich weiss nicht, warum ich das immer mache. Ich poste immer Stories auf Insta, wenn ich in den Urlaub fahre. Vermutlich ist das ein unbewusster Reflex, weil ich dann andere, optische Motive vor Augen habe. Mal was anderes, als das ständige Berlin.

[Fr-So, bis 9.7.2023 – Burlesque, Pegelindikator weg, Moby Dick]

Am Freitagabend trank ich dermassen viel, dass ich das ganze Wochenende lang völlig ausserstande war, einen Text zu verfassen. Es ist jetzt Sonntagabend, langsam kehren die Lebensgeister in alle Gliedmassen zurück.

Am Freitag traf ich mich mit meinem Fussbalfreund B. Wir gingen in den Starken August an der Schönhauser Allee. Ich besuche die Bar schon seit vielen Jahren, weil sie eine der ersten war, in der man gutes Bier kultivierte. Die Bar zum Starken August wird von einer Rockabilly- und Burlesque Szene frequentiert. Manchmal gibt es Burlesque Shows, in der sich Frauen, Dragqueens und auch Männer genüsslich ausziehen. Das war auch heute der Fall. B und ich beschlossen kurzhand eine Karte zu kaufen.
Die Stripshows sind politisch, die Moderatorin hält flammende Reden über Selbstbestimmung, nachher kommt eine als Witwe verkleidete, übergewichtige Frau auf die Bühne und lässt ihre Korsage fallen. Es ist ein guter Mix.

Nach der Show setzten wir uns an die Strasse, danach kamen einige unserer Fussballfreundinnen dazu, die vorher beim Testspiel von Hertha gegen den BFC im Jahnstadion waren. Auch B und ich hatten zuerst überlegt zum Spiel zu gehen, aber weil sich beim BFC Dynamo so viele Nazis tummeln, entschieden wir uns dagegen.

Und dann wurde es eben sehr spät. Und ich hatte meinen Pegelindikator für den Alkohol verloren. Als ich zuhause ankam, wurde es am Horizont wieder hell. Normalerweise fahre ich ja gerne betrunken Fahrrad, aber diesmal konnte ich mich kaum an die Fahrt erinnern.

Am Samstag wachte ich dann mit einem Schädel auf, der den Raum des gesamten Schlafzimmers füllte. Den Rest des Tages döste ich in einem Dämmerzustand. Ab und zu musste ich mich übergeben, dann setzte ich mich wieder auf das Sofa, dann legte ich mich ins Bett, ab und zu trank ich etwas und so rotierte ich den ganzen Tag.

Am Sonntag ging es ähnlich, allerdings döste ich weniger. Dafür schaute ich zwei ganze Filme. Einmal die Hintergrundgeschichte zu Moby Dick. In dem Film wird die wahre Geschichte über Herman Melville erzählt, wie er den letzten Überlebenden des gesunkenen Walfängers „Essex“ interviewt und ihm die Geschichte entlockt, woraus er später „Moby Dick“ stricken wird. Die Odyssee der „Essex“ ist eine historisch belegte Geschichte, in der ein Walfänger von einem riesigen Potwal angegriffen wird. Danach treibt die Besatzung monatelang in kleinen Booten über den Pazifik. Die meisten sterben, als die Übriggebliebenen entdeckt und gerettet werden, findet man verstörte Menschen mit brüchiger, grauer Haut vor, die an den Knochen der verstorbenen Mitfahrer nagen, von denen man sie kaum trennen kann.
Der Film ist okay, ein bisschen zu viel Action vielleicht. Er gilt als der beste Film, der sich mit der Moby Dick Thematik auseinandersetzt. Alle anderen Verfilmungen sollen eher enttäuschen.

Mich interessierte der Film hauptsächlich deswegen, weil ich schon seit vielen Jahren immer wieder mal Moby Dick zu lesen versuche, aber stets nach etwa 100 Seiten den Faden und das Interesse verliere. Vermutlich stellte ich mich immer zu sehr auf ein Seeabenteuer ein und weniger auf einen Text der vielleicht etwas ganz anderes ist als ein Seeabenteuer, zumindest interpretiere ich das so, wenn ich Sekundärliteratur zu Moby Dick lese, die aus dem Buch ein rätselhaftes Kunstwerk macht, das es zu analysieren gilt. Wenn ich das Wort Analyse bei Texten schon lese, dann vergeht mir meist die Lust den Text zu lesen. Ich hörte auch mit Ulysses auf, als ich las, wie James Joyce sich darüber amüsierte, dass er dermassen viele Rätsel in Ulysses versteckt habe, die man selbst in 5000 Jahren noch nicht fertig entschlüsselt hätte. Woah, wenn ich rätseln will, dann lade ich mir eine App im Playstore herunter, dafür lese ich keinen Text.

Trotzdem: Seeabenteuer entfachten immer schon die Faszination in mir. Wäre ich als Bauernkind im Südtirol 1820 grossgeworden, wäre ich vermutlich ausgewandert und hätte als Matrose in London oder Hamburg angeheuert. Vermutlich als Walfänger. Ein Leben ohne Perspektive und ohne Weitsicht in einem engen Tal in den Alpen, das hätte mich fertig gemacht. Ein Leben als Matrose wäre zwar auch ein Scheissleben gewesen, aber immerhin ein Scheissleben, bei dem die Gedanken nicht von Bergkämmen beschränkt sind.
Andererseits wäre ich im Südtirol von 1820 vermutlich Analphabet gewesen, ich wüsste gar nicht wo ich Geschichten über die Südsee hätte aufschnappen sollen.