Heute war die Welt ein bisschen anders als sonst.
Ich speise jeden Tag zu Mittag in Michelinas kleinem Restaurant. Üblicherweise betrete ich Michelinas kleines Restaurant und höre Michelina schon lange bevor ich sie sehe. Michelina kommt aus Sizilien und sie ist so laut wie Palermo im Feierabendstau. Ich höre sie rufen, dass Tisch drei noch drei Espressi haben will, oder dass die Spaghetti gut scharf sein sollen, und wenn sie mich sieht, dann ruft sie mir die Tagesempfehlung über vier Tische hinweg zu, und wenn sie Risotto mit Meeresfrüchten hat, dann brüllt sie, Mek, ich habe heute Deinen Lieblingsrisotto. Und wenn sie mal nicht weiß was sie hat, dann brüllt sie ebenso laut, ich solle zum Koch gehen, zu Franco, und fragen was er-für-mich-so-habe. Manchmal brüllt sie Franco auch quer durch das Lokal hindurch zu, er solle mir diesen Steinpilzrisotto machen. Michelina kennt mich eben, Michelina weiß was ich mag. Und deshalb fügt sie noch hinzu: eine große Portion.
Michelina reicht mir bis zum Nabel. Ungefähr. Überdies vermute ich, dass sie keine Leber hat. Und keine Eingeweide. Ich glaube nämlich, dass Michelina nur ein großes Herz hat und der Rest ist Klangkörper. Klangkörper mit integrierten, reißfesten Stimmbändern. Ein Klangkörper mit Ärmchen und Beinchen dran.
Wenn ich bei Franco über den Tresen zur Küche bestelle, dann fragt mich Franco freundlich, ob er mir einen Risotto machen solle, und ich sage jaah, mit einem langen aa und Dehnungs-Ha. Auch fragt er immer ob ich großen Hunger habe, aber auf die Antwort wartet er nicht. Man kennt mich eben bei Michelina, man weiß was ich mag.
Man kennt auch meine kleinen Unpäßlichkeiten. Wenn ich beispielweise Spaghetti alla Bolognese bestelle, dann ruft Sara in die Küche: einmal Bolognese für den Mek, aber mach sie mit kurzen Nudeln. Weil sie weiß, wie ich mich immer bekleckere.
Sara kommt aus Marokko, aber Michelina sagt Sara käme aus Sizilien, das sei eh da um die Ecke, und so wie Sara Carbonara koche, muß Sizilien in ihren Adern fließen.
Es ist immer laut bei Michelina, es ist immer geschäftig. Teller scheppern, Gläser klirren, die Kaffeemaschine mahlt ununterbrochen, Michelina delegiert, Franco klingelt die Kellnerinnen herbei und die Gäste versuchen sich über den sizilianischen Feierabendverkehr hinweg zu unterhalten. Man gewöhnt sich daran, beim Anblick der Pasta Amatriciana nur das Rauschen des Meeres im napoletanischen Archipel zu hören. Manchmal höre ich schöne Nixen singen und ich stelle mir vor wie sie, auf einem Stein sitzend ihr langes Haar kämmen, und mich ansehen und singen: Mek, mein ganzes Leben habe ich auf Dich gewartet.
Bis mir Michelina einen Klaps gibt. Ich solle essen, nicht träumen. Sonst werde nichts aus mir.
Michelina ist manchmal besorgt, dann setzt sie sich zu mir an den Tisch, und fragt mich auf italienisch lauter geheime Sachen. Neulich wollte sie wissen was ich von dem Mann im Anzug an Tisch vier fände, ob der was für Sara wäre, oder eher für Martina. Ich sagte für Martina sei er zu gepflegt und für Sara zu nett. Und sie stimmte mir zu und seufzte, dass sie doch so kompliziert seien, ihre Frauen. Dabei suchte der schon seit zwei Jahren eine Frau. Michelina kennt eben ihre Gäste.
Ich wage es nicht zu beurteilen ob das Essen dort gut ist, ich weiß nur, dass es fantastisch ist. Wenn ich zu Michelina gehe, dann ist das ein bisschen wie nach hause zu kommen. Und Mutters Essen gehört eben immer mein Herz. Wenn ich meinen Teller beiseite schiebe und Michelina danach greift, fragt sie jeden Tag, ob es geschmeckt habe. Und jeden Tag nicke ich und sage: Si, fantastico!
Aber heute war die Welt ein bisschen anders als sonst. Heute gab es in der Firma Pizza, und als es Ein Uhr schlug und ich die Zeitung unter den Arm klemmte um zu Michelina zu gehen, merkte ich, dass ich schon gegessen hatte. Die Welt war nicht nur anders, sie schien für einen Moment stillzustehen. Ich mußte einsehen, dass es keinen Sinn hatte zu Michelina zu gehen. Nach langem zögern und Umplanen meines ganzen Lebens, beschloß ich einfach in ihr Restaurant zu gehen und einen Kaffee zu trinken. Das was viele andere sonst auch tun.
Als ich ihr kleines Restaurant betrat hatte sie natürlich meinen Lieblingsrisotto auf der Tageskarte, und als sie dazu ansetzte zu Franco in die Küche zu rufen, hielt ich sie entsetzt fest: No!
Ich merkte, dass Michelina mich ungläubig ansah. Wiewas no?, fragte sie, und schien dabei empört. Ich erklärte die Sachlage. Sie zeigte Verständnis. Ohne Hunger zu essen, das sei nichts, fand auch sie.
So saß ich am Tisch, las meine Zeitung und vor mir — eine Tasse Kaffee. Alles war wie nie zuvor.
Es beruhigte mich sehr, dass auch Michelina nicht mit dieser neuen Situation umgehen zu können schien. Als sie die leere Kaffeeschale wegräumte, tat sie das, was sie jeden Tag zu tun pflegt: Hat es geschmeckt? Und ich nickte, und sagte, wie jeden Tag: Si, fantastico!
[von den Ängsten ein unstetes Leben zu führen]
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