Zu Mittag traf ich den CEO meiner ehemaligen Firma zum Lunch. Zwar wurde er vor mir gekündigt, aber er muss immer noch ins Büro, bis ein Nachfolger gefunden und eingearbeitet ist. Der Nachfolger ist mittlerweile gefunden, er hat am 1. Juli angefangen und soll beide unsere Themen übernehmen. Also CEO und CTO in einem sein. Das wird sicherlich lustig. Er weigert sich aber bereits am dritten Tag, gewisse Themen zu verantworten. Ausserdem raucht er in seinem Büro. Das kommt bei den Mitarbeiterinnen seltsam an. Ich kann mich einer gewissen Schadenfreude nicht erwehren, möglicherweise sehen wir beide den Neuen aber auch nur aus einer sehr kantigen Perspektive. Es ist besser, loszulassen.
Wir sassen im Essenza am Potsdamer Platz. Ich bestellte ein Vitello Tonnato als Vorspeise. Als ich das erste Mal in meinem Leben Vitello Tonnato ass, war ich dreizehn oder vierzehn Jahre alt, ich arbeitete damals zwei Sommer lang über den Ferien als Gehilfe des Hilfskochs in einem Restaurant in Corvara. Zwei Monate lang, sieben Tage die Woche, bei einem etwa 14-stündigen Arbeitstag in einem unheimlich stressigen Umfeld. Der Job hatte allerdings zwei Vorteile: Zum einen durfte ich Alkohol trinken wie die grossen Köche und mittags konnte ich so gut wie jeden Tag Vitello Tonnato essen. Vitello Tonnato löste Glücksgefühle in mir aus. Ich hätte mich damals von Käse, Vitello Tonnato und Tiramisú ernähren können. Gleichwohl wusste ich, dass Vitello Tonnato durchaus etwas Exklusives ist, das ich zu Hause sicherlich nicht jeden Tag zur Pastasciutta aufgetischt bekommen würde. Deshalb nutzte ich die beiden Sommer in jenem Restaurant richtig gut aus.
Anfangs wusste ich gar nicht, was das ist. Vitello Tonnato heisst wörtlich übersetzt „Gethunfischtes Kalb“. Ich dachte, das sei eine Wortschöpfung wie „Kalter Hund“. Erst nach einiger Zeit verstand ich, dass es sich tatsächlich um Kalbfleisch mit Thunfischpure handelt. Natürlich mit Kapern, Brühe und Majonnaise verfeinert, aber der Name bezog sich auf die beiden Tiere in der Speise. Kalb mit Thunfisch, das klang für mich ähnlich inkompatibel wie AC/DC und Iron Maiden. Aber auf der Zunge entfaltete es sich wie eine grüne Weide in der Frühlingssonne.
Gestern schmeckte es mässig gut. Für meinen Geschmack war das Thunfischpure etwas salzlos. Ausserdem war es in der Menge zu wenig. Ich mag es, wenn der Vitello im Tonno badet.
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Weil mein Vater auf der Reise nur Bargeld bei sich trug, zahlte ich den Grossteil auf unserem Trip. Zurück in Berlin sollte ich alle Kosten zusammenzählen und so glich er den Fehlbetrag in Bargeld aus. Jetzt laufe ich mit grossen Bargeldmengen durch die Gegend. Ich bin das gar nicht mehr gewohnt. Berlin ist da ja zweigeteilt. Es gibt die Läden, in denen Bargeld verpönt ist und jene Läden, in denen Kartenzahlung als der Untergang der Zivilisation gilt.
Ich trage nur noch selten Bargeld mit mir herum. Ich habe das Zahlen mit Karte sofort geliebt. Am besten wurde es vor wenigen Jahren mit der Einführung von Google Pay und der Möglichkeit, mit dem Telefon zu zahlen. Nie wieder klimpernde und ausbeulende Münzen in den Hosentaschen. Ich hätte mir in den Jahrzehnten davor sicherlich eine Brieftasche zulegen können, aber Brieftaschen fand ich noch schlimmer als Bargeld. Das Geld lag bei mir immer lose in der Hose. Bei näherer Betrachtung wundert es mich, dass ich nie Geld verloren habe.
Jedenfalls habe ich jetzt tausend Euro in Bargeld. Und wieder klimpern Münzen beim Gehen in meiner Tasche. Ich hasse es. Aber immerhin kann ich jetzt wieder mal Bettlern die eine oder andere Münze geben.
Ich blieb lange im Bett liegen. Checkout war erst um 12 Uhr. Eine sagenhafte Zeit. Um 11:51 machte ich mich auf dem Weg zur Lobby, um mich aus dem Hotel abzumelden. Der Flieger meiner Schwiegereltern würde erst nach 16 Uhr landen, ich hatte also viel Zeit. Diese nutzte ich vor allem, um meinen alten Kiez zu besuchen. Ich wohnte 4 Jahre lang im oberen Teil der Bernstorffstrasse, nahe der Schanze. Im kleinen Haus mit der Nummer 166. Ich kenne noch die Postleitzahl 22767, zwei-zwei-simm-sechs-simm, Zahlen sind ja immer ein rhythmisches Konstrukt. Am Klingelschild las ich, dass von den damaligen Bewohnerinnen niemand mehr da wohnte. Natürlich. Über der Strasse hing ein grosses Banner, das das Bernstorffstrassenfest ankündigte. Daran erinnere ich mich gerne. Das Strassenfest war immer lustig. Einmal schrieb ich in 2005 in einem etwas aufgeregten Blogeintrag darüber. Wie ich Vinyl und Bücher auf der dortigen Flohmarkt verkaufte und den Schlüsselnotdienst rufen musste. Der Text ist durchaus lustig, er liest sich aber seltsam altmodisch, wie ich mich über Genderklischees belustige, indem ich mich selber etwas auf die Schippe nehme, aber dennoch den stolzen Mann spiele. Das war damals lustig. Heute weniger. Vielleicht lag es an der Zeit. Es ist schliesslich zwanzig Jahre her. Wie sich die Wahrnehmung auch ändert. Ich fürchte, dass in den Tiefen dieses Blogs viele ähnlich altmodische, dem Zeitgeist entsprechende Dinge liegen, die mir inzwischen unangenehm sind. Besser nicht zu viel reinschauen.
Auch wurde der Hauptverteiler der Telekom in ein Hotel umgebaut. Ich frage mich, was man mit der Telekomtechnik gemacht hat. Ich war damals ungemein stolz, so nah an einen Hauptverteiler zu wohnen. Das war zu jener Zeit nicht unwichtig, als es mit der immer noch neuen DSL Technologie vorteilhaft war, eine kurze Kupferleitung zum Hauptverteiler zu haben. Ich arbeitete damals bei Hansenet, dem lokalen DSL Anbieter. Dort sah ich, dass meine Kupferleitung nur 147m lang war, damit hatte ich eine fantastisch saubere Leitung. Der Hauptverteiler befand sich in dem roten Backsteingebäude an der Ecke Stresemann- und Juliusstrasse. Ein grosser, fensterloser, mit Technik vollgestellter Bau.
Und tja. Da wohnen jetzt Touristen drin. Ich habe keine Ahnung, was man mit der Technik gemacht hat. Möglicherweise braucht man heute weniger Raum dafür.
Die ersten Monate wohnten wir im Eckhaus der Hein Hoyer / Simon von Utrecht Strasse. In den Seitenstrassen der Reeperbahn war es damals wesentlich abgefuckter als heute. Beim Verlassen unseres Hauses stiegen wir oft über schlafende Obdachlose und überall fand man Spritzbesteck. Ganz St. Pauli hat sich ziemlich rausgeputzt. Ich glaube, ich meine das positiv. Es scheint mir, als wäre es immer noch eine okaye Mischung. Und die Mischung ist ja immer wichtig. Wenn es kippt, dann kippt es. In der Hein Hoyer Strasse ist heute mehr los, früher waren da nur Copyshops, Massagesalons und schummrige Reisebüros sowie Eckkneipen. Heute sind Restaurants und Cafés hinzugekommen. Das gab es damals nicht. Dafür musste man schon ein Stück gehen. zB zur Trattoria Remo’s am Paulinenplatz. Die gibt es immer noch. Dort hat mir einmal eine Taube ins Essen geschissen. Die Aussentische waren alle an der Wand aufgereiht und irgendwo in dieser Mauer wohnte eine Taube. Tage später sah ich noch Taubenschiss an jener Stelle. Damals verstand ich den Sinn von Markisen. Komischerweise hat der Laden immer noch keine Markisen.
Hamburg hat etwas sehr Freudvolles. Ich habe es noch nicht richtig erfasst. Es fehlt dieser Stadt dieser ganze Ost-Mief, der in Berlin immer schlimmer und immer bedeutungsvoller wird. Diese graue, braune, immer grösser werdende AfD-Miesepetrigkeit, die sich vom Osten her ins Berlin voranfrisst. Auch die grünen- und SPD-Bezirke haben mittlerweile eine beachtliche AfD-Quote, ich bilde mir ein, das überall zu spüren. In Hamburg spüre ich nichts davon. Ich weiss, es ist alles subjektiv und ich kann es, ausser an der sehr niedrigen hamburger AfD-Quote, auch an keinen Fakten festmachen, aber es herrscht eine Geschäftigkeit überall in der Stadt, eine Offenheit, da kommt vielleicht die Kultur des Handels hervor, ich weiss es nicht. Ähnlich empfinde ich die Stimmung auch in Amsterdam, aber dort noch wesentlich stärker.
Hamburg ist allerdings auch wesentlich deutscher als Berlin. Graffitys bzw Sprüche an Wänden sind auf deutsch. Sticker auch. Das sieht man in Berlin kaum noch. Hier ist es meist auf englisch. Auf einen Telekomkasten in der Susannenstrasse wurde gesprüht: „Lass uns hier stehen und knutschen“. In Berlin würde stehen: „Lets lie down here and fuck“. Frei übersetzt.
Auch besuchte ich meinen früheren Buchladen am Schulterblatt. Dort hing ich eine Weile rum. Ich las in Mariana Lekys letztem Erzählband. Die Texte sind sehr kurz, oft nur vier oder fünf Seiten lang. Ich konnte mich aber nicht recht dafür begeistern. Auch wenn ich sie wirklich gerne mögen möchte, ihre Texte sind sehr zeitgenössisch und, wie soll ich sagen, modern. Ich kann die lobenden Kritiken immer gut nachvollziehen, damals hatte ich Liebesperlen gelesen und hatte auch den Roman „Die Herrenausstatterin“ angefangen, aber ihre Figuren interessieren mich nie. So stand ich da im Buchladen, las die ersten vier Geschichten und dachte wieder: die Figuren interessieren mich nicht.
Tja. So ist das manchmal.
Gegen drei Uhr fuhr ich zum Flughafen und holte meine Schwiegereltern ab. Ich war in den vier Jahren Hamburg nie am Flughafen. Eigentlich seltsam. Aber damals flog ich ja nicht. Ich kann mich erinnern, dass ich von Madrid aus mit dem Zug nach Hamburg kam. Zuerst den Nachtzug von Madrid nach Paris. Dann in Paris gefrühstückt und weiter nach Köln, wo ich in den Zug nach Hamburg umstieg. Das waren siebenundzwanzig Stunden. Pro Richtung. Und ich fuhr die Strecke vielleicht zehn Mal.
Heute machte ich mich also auf den Weg nach Hamburg. Ich werde morgen meine Schwiegereltern vom Flughafen abholen. Das klingt jetzt etwas hanebüchen, aber daran sieht man auch, wie schlecht die deutsche Hauptstadt an das Flugnetz angeschlossen ist. Die Schwiegereltern haben einen fixen Termin in Berlin und um den Aufenthalt einigermassen kurz zu halten und auch preislich nicht alle Budgets zu sprengen, gab es schlichtweg keine guten Optionen. Also erweiterte ich die Suche auf umliegende Städte. Der Hamburger Flughafen entpuppte sich für diesen Besuch als Alternative, also bot ich schlichtweg an, nach Hamburg zu fahren. In Hamburg bin ich immer gerne, ich würde am Vorabend anreisen, eine Freundin treffen, in einem schönen Hotelbett schlafen und lange am Frühstücksbuffet sitzen, wo ich die Nachrichten des Morgens lesen werde.
Am frühen Abend traf ich Amelie im Kraweel. Sie besucht jetzt einen Apnoe Tauchkurs und hatte ihre Ausrüstung dabei. Sie erzählte mir von der Magie des Luftanhaltens. Ich kann ihren Schilderungen gut folgen und die Begeisterung nachvollziehen. Nicht atmen zu können, löst bei mir allerdings eher Beklemmungen aus. Ich weiss aber auch, dass mir ziemlich alles Spass macht, wenn ich mich wirklich darauf einlasse.
Eigentlich kenne ich viele Menschen in Hamburg, schliesslich wohnte ich vier Jahre lang in dieser Stadt. Die meisten sind natürlich Freunde meiner Exfreundin, die ich aus ebenjenen Gründen nicht mehr treffe. Die Freunde aus Blogzeiten sind mittlerweile eher Bekannte geworden und keine richtigen Freunde mehr. Es ist meine Schuld, dass ich diese Freundschaften nicht pflegte. Als ich Hamburg vor 16 Jahren verliess, ging ich völlig in meine neue Heimat Berlin auf und schaute wenig zurück. Es ist nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Das ging mit meinem Weggang aus Südtirol, Niederlande und Madrid genau so. Ein Umzug löst bei mir eine sehr starke Euphorie oder auch Identifikation mit der neuen Heimat aus. Allerdings fällt es mir generell sehr schwer, Freundschaften über eine Distanz aufrecht zu erhalten. Irgendwann ist so viel Zeit vergangen, dass ich mich auch einfach nicht mehr traue, die Leute anzuschreiben. Erst recht nicht kurzfristig mit einem „Hallo, ich bin heute zufällig in Hamburg, hast du Lust auf einen Drink“. Mit Amelie geht das allerdings, mit ihr war die Freundschaft immer sehr geradlinig und auf eine unkomplizierte Weise echt. Was natürlich nicht bedeutet, dass die anderen Freundschaften nicht echt gewesen wären, aber mir fällt gerade keine bessere Beschreibung ein.
Später begleitete ich sie zu ihrem Tauchkurs in der Schwimmhalle am Millerntorstadion. Dann machte ich mich auf den Rückweg ins Hotel, vielleicht würde ich noch ein Bierchen im Brewdog an der Reeperbahn gönnen, einfach weil ich Lust auf ein Hazy Jane hatte und ich neugierig auf die Einrichtung war, ob dieser Bretterlook vom Frankfurter Tor auch in einem anderen Raum funktioniert. Auf dem Rückweg ins Hotel lief ich am Heiligengeistfeld vorbei. Dort hat man die Fanmeile aufgebaut. Es liefen gerade die letzten Minuten von Frankreich gegen Belgien. Ich hatte nichts mehr vor, eigentlich wollte ich mir keine Spiele dieses Turniers ansehen, aber dann zog mich diese Fanmeile irgendwie in sich hinein. Ich betrat das riesige Gelände und wollte mir die volle Dröhnung geben. Die riesigen Boxen, die riesigen Leinwände. Dodi in Übergrösse im belgischen Trikot. Die Meile war aber fast leer. Nur versprenkelte Menschen, die es mit Belgien oder Frankreich hielten. Nach dem Spiel standen Klaus und Klaus live auf der Bühne und sangen „An der Nordseeküste“. Ein Ohrwurm aus meiner Kindheit. Ich wusste gar nicht, dass die beiden noch lebten. Während ich den beiden lauschte, erinnerte ich mich an deren Performance im deutschen Fernsehen der Achtzigerjahre. Wie ich als Kind den beiden lustigen Matrosen zuhörte. Die beiden haben sicherlich meine positiven Gefühle zur Nordsee und Nordeuropa beeinflusst.
Ein kühler Sturm zog auf. Gestern war Berlin noch so warm, dass ich schlecht schlief und heute wehte ein kalter Wind, für den ich zu leicht gekleidet war. Also ging ich ins Brewdog an der Reeperbahn und bestellte mir ein Hazy Jane, mit dem ich eine Hälfte von Portugal gegen Slowenien schaute.
Diese Nächte, in denen es die 20 Grad nicht unterschreitet, schlafe ich immer schlecht. Und diese Hitze tagsüber lähmt mich. Heute wurde es immerhin nicht ganz so warm wie angekündigt und gegen vier Uhr zog ein seltsames Hexenwetter auf, das die ganze Stadt ein wenig herunterkühlte. Fünfundzwanzig Grad ist super und nachts wird es die 20 Grad wieder unterschreiten.
Die Hündin wollte heute aber nicht raus. Das war schon am Morgen so. Sie sträubte sich bereits auf der Treppe und vor der Tür verweigerte sie sich vehement. Dabei hob sie ihre rechte Pfote an, als wäre sie verletzt. Deswegen machte ich die Leine los und ging demonstrativ ohne sie weiter in Richtung Park. Nach etwa zwanzig Metern folgte sie mir schliesslich, dabei humpelte sie leicht. Irgendwas schien nicht zu stimmen. Dann machte sie immerhin Pipi, aber sie signalisierte mir, dass sie nicht mehr möchte. Wenn die Blase leer ist, habe ich ein Nachsehen, also kehrten wir um.
Zuhause überprüften meine Frau und ich ihre rechte Pfote. Allerdings konnten wir nichts Verdächtiges erkennen, dafür schnitten wir die Pfoten von Fell frei, vielleicht ist das einfach nur unangenehm. Beim Mittagsspaziergang das gleiche Bild: Sie wollte nicht. Und abends wieder. Obwohl sie sich dann immerhin für eine Runde um den Block überreden liess.
Was weiss ich. Morgen sind wir vielleicht schlauer.
Heute war ein sehr fauler Tag. Eigentlich wollten wir an diesem Wochenende etwas unternehmen. Wir hatten uns in den letzten drei Wochen wenig gesehen und kaum Zeit füreinander gehabt. Übermorgen kommen bereits ihre Eltern und am Wochenende darauf fährt sie nach Schweden. Wir unternahmen aber nichts. Wir hingen nur das ganze Wochenende zu Hause rum. Das ist aber auch schön.
Am Abend fand ich heraus, dass an diesem Wochenende das Wettlesen um den Bachmannpreis in Klagenfurt stattfand. Es hat sich durch die Reise völlig meiner Wahrnehmung entzogen.
Ab morgen muss ich mich jedoch wieder aufraffen, sonst werde ich noch träger. Morgen werde ich ausserdem nach Hamburg fahren, schon deswegen muss ich mich aufraffen. Vielleicht lasse ich mir unterwegs ein paar Texte aus Klagenfurt vorlesen.
Vor der Reise entschieden wir uns dafür, das Auto meines Vaters zu nutzen. Es sei noch neu, so sagte er, es täte dem Auto ganz gut, wenn es ein paar Kilometer abspulen könne. Mein Auto ist wesentlich älter, es hat aber auch wenige Kilometer, was vor allem damit zu tun hat, dass ich nicht so viel damit fahre. Ich habe aber wenig Interesse daran, Kilometer auf die Uhr zu bekommen. Das Auto hatte ich mir vor zwei Jahren hauptsächlich aus zwei Gründen gekauft: Ich wollte nicht mehr schalten und ich wollte einen Tempomaten. Das sind für mich die zwei wichtigsten Kriterien bei einem Auto. Nun stellte sich heraus, dass das Auto meines Vaters genau diese zwei Bedingungen nicht erfüllte: Es hatte keinen Tempomaten und kam mit einer Gangschaltung.
Es gibt wenige Sachen, die ich so schwachsinnig finde wie zu schalten. Ich will mich nicht mit solchen Routinen abgeben müssen, schalten kann auch die Maschine, das muss ich nicht selber machen, ich will mich aufs Steuern beschränken. Mein Vater hingegen bezeichnet Autos mit Automatikgetriebe als Spielzeug. Ihm ist es wichtig, zu jeder Zeit die Kontrolle über Motor und Fahrgestell zu haben. Ähnlich verhält es sich bei der Geschwindigkeit. Wenn irgendwo 80 km/h steht, dann stelle ich 80 ein und kümmere mich nicht weiter um die Geschwindigkeit, ausser es kommt eine enge Kurve oder es ändert sich die Geschwindigkeitsbegrenzung. Mein Vater hingegen weiss, wie schnell 80 km/h sind und drückt entsprechend auf das Pedal.
Wenn ich mit dem Fuss fahre, passe ich hingehen meine Geschwindigkeit meist den anderen Autos an oder ich schalte auf mein Gefühl um. So geschah es auch, dass ich auf den leeren norwegischen Hochplateaus meist mit 140 oder 150 Sachen dahinrauschte. Das passierte mehr oder weniger überall. Ich fuhr eigentlich überall mindestens 100, meine Gefühle liessen das zu. Natürlich ist das nicht gut, aber wenn ich den Tempomaten verwende, kann ich die Gefühle aussen vor lassen und fahre die vorgegebene Geschwindigkeit. Mir sind Emotionen ohnehin zuwider.
Irgendwann wird das rechte Gaspedal-Bein auch schlichtweg taub. Es verharrt immer in der gleichen Position und die Wade verschmilzt mit dem Plastik der Mittelsäule. Wir fuhren gemeinsam 6000 Kilometer, davon lehnte ich mindestens 3000 Kilometer lang mit meiner rechten Wade am Plastik der Mittelsäule an. Ich möchte wissen, ob männliche Autofahrerinnen an dieser Stelle überhaupt noch Beinhaare haben.
Mein Fahrverhalten führte öfter zu Diskussionen. Weil ich Schalten so geisttötend finde, verwende ich eigentlich nur die Gänge 1, 2 und 5. Ich starte mit dem ersten Gang, dann nehme ich den zweiten Gang, um ein bisschen Speed zu kriegen und schliesslich lasse ich das Auto in den fünften Gang einrollen. Weil ich Schalten aber nicht mehr gewöhnt bin, würgte ich das Auto regelmässig ab. Vor allem an stark befahrenen Kreuzungen sah das nicht immer elegant aus. Das Gefühl für den Schleifpunkt ist mir etwas abhandengekommen.
Entsprechend erleichtert war ich heute, als ich nach 3000 Kilometern Kupplung in mein eigenes Auto steigen konnte, um einen grossen Einkauf zu erledigen. Ich merkte jedoch ziemlich schnell, dass ich verdächtig oft zum Schaltknüppel griff. Es sind immer die Automatismen. Und nur 100 Meter weiter, bei einem Zebrastreifen passierte es dann: Ich wollte mit voller Wucht auf die Kupplung drücken. Weil es bei einem Automatikgetriebe an jener Stelle aber nur eine Bremse gibt, legte ich mitten auf der Strasse eine äusserst harte Vollbremsung hin. Das Auto hinter mir hatte rechtzeitig reagiert, es wäre aber fast in mir aufgefahren.
Es ist das erste, was man bei einem Automatikgetriebe gesagt bekommt: Das linke Bein ist ab sofort taub. Nur das rechte arbeitet.
Sobald wir in Berlin ankamen, waren wir beide kaputt. Da wir um 5 Uhr morgens starteten, kamen wir bereits um halb sieben Uhr abends an. Meine Frau hatte uns Pasta e Ceci gemacht. Nach dem ersten Teller setzte das postprandiale Koma ein und wir fielen ins Bett.
Berlin empfing uns mit 32 Grad. Wie sehr ich das hasste. Bereits in Schweden stieg die Temperatur stark an. In Östersund zeigte die Wetter-App 27 Grad an. Meine Schwester, die sich gerade in Sardinien am Strand befindet, berichtete, sie hätten dort nur 26 Grad.
Mein Vater wollte einen Tag Pause einlegen und in Berlin bleiben. Deswegen dachten wir, am Folgetag ein bisschen durch die Stadt zu spazieren, Museumsinsel besuchen, Reichstag etc., aber schon am Vormittag entschuldigte er sich und zog es vor, noch einmal zurück ins Bett zu gehen. Auch am Nachmittag zwei Mal. Ich nahm das dankend an, ich war zu kaputt für touristisches Programm, aber ich hätte es ihm zuliebe natürlich durchgezogen. Zwar konnte ich nicht schlafen, aber zumindest konnte ich auf dem Sofa rumdösen. Zehn Tage Autofahrt. Ich wusste nicht, wie anstrengend das ist. Auch wenn die Reise gut war und sehr speziell, will ich nie wieder so viel Zeit in einem Auto verbringen. Sollte ich in Zukunft einmal eine ähnliche Strecke zurücklegen, dann nur mit drei Wochen Urlaub und langen Aufenthalten an mehreren Orten.
Ich hätte gerne ein paar Tage mehr in Alta und Umgebung verbracht, sowie in Umeå und Luleå. Auch Östersund. Aber Östersund ist immerhin erreichbarer. Und natürlich fehlt mir jetzt Hammerfest, aber damals war ich einfach schon mental mit der Reise durch.
Über den letzten Reisetag gibt es nicht viel zu berichten. Es war vor allem ein dreizehnstündiger Marathon. Auf diesem letzten Abschnitt erzählte er mir viel über die Vergangenheit. Ich wollte ganz spezifische Dinge wissen, vor allem über meine Zeit als Kind und über seinen beruflichen Werdegang. Da kamen erstaunliche Dinge zum Vorschein, wovon ich einige sicherlich in den nächsten Wochen aufschreiben werde.
Unserer Beziehung hat die Reise möglicherweise gutgetan, auch wenn sich im Alltag oder im direkten Umgang miteinander vermutlich nichts ändern wird. Aber wir haben jetzt dieses gemeinsame Erlebnis, an das wir noch lange denken werden. Ich glaube, wir haben in diesen zehn Tagen mehr Zeit miteinander verbracht als in den 49 Jahren davor. Mein Vater wirkt oft wie eine groteske Version von mir. Alle meine schlechten Eigenschaften kommen in ihm vor, aber in einer verstärkten Form. Auch einige meiner guten Eigenschaften, diesen machen ihn wiederum sehr sympathisch.
Meine Frau wirft mir manchmal mangelndes Problembewusstsein vor. Das, was sie damit meint, nenne ich hingegen Optimismus. In den letzten zehn Tagen mit meinem Vater dachte ich oft: Dieser Mann hat ein krasses mangelndes Problembewusstsein. Wenn ich ihn in den Situationen darauf ansprach, sagt er, ich solle nicht immer so pessimistisch sein, er sei Optimist.
Was ich an der Reise mochte, ist, wie er mit der Hündin umging. Wir kommen aus einer tierfremden Familie. Wir hatten keine Haustiere, erst recht keine Hunde. Aber er liebte meine Hündin, tat ständig etwas mit ihr. Er wurde allerdings nicht müde zu sagen, dass er nie einen Hund haben möchte.
Was noch mehr: Skandinavien ist EM-freie Zone. Das war mir vorher gar nicht bewusst. Die einzige Berührung mit der EM war in Jokkmokk. Als wir die Unterkunft betraten, sass ein älteres Ehepaar im Aufenthaltsraum. Ich blieb kurz stehen, um Paarung und Spielstand zu checken. Es spielten Dänemark gegen England und es stand 1:1. Ich wechselte ein paar Sätze mit dem Paar. Die beiden waren Schweden und hielten zu Dänemark.
Mein Vater ist mittlerweile wieder zurück in Südtirol. Er fotografierte den Kilometerstand, das Display zeigte 7691 Kilometer. Wenn man die Strecke nach Berlin rausrechnet, dann bleiben für mich 6000 Kilometer übrig. Wir telefonierten kurz. Es war 19Uhr. Mein Vater wollte wissen, ob die Hündin schon gegessen hatte. Im Ernst. Er wollte wissen, ob sie schon gegessen hatte. Immerhin war es 19Uhr. Er weiss, wann sie zu essen bekommt. Das rührte mich sehr.
Die Nacht in Östersund war natürlich immer noch keine echte Nacht, sondern eine helle Dämmerung.
Heute fuhren wir wieder gegen 10 Uhr los. Das Tagesziel fanden wir im Laufe der Fahrt. Wir hatten jetzt ja eine Stunde gewonnen, dann konnten wir ja gleich auch das nächste Ziel um eine Stunde näher an Berlin verlegen. Nach langem Suchen fand ich endlich eine Stuga, also ein schwedisches Holzhäuschen mit zwei Schlafzimmern und einer Dusche für 80 Euro die Nacht in der Nähe von Mariestad. Von dort aus sind es noch einmal 12 Stunden nach Berlin, die wir diesmal durchfahren wollen. Das ist weniger schlimm, wie es sich anhört, da wir ja die Strecke auch zwei Fähren enthält.
Die Zeit der Rentiere war auf der heutigen Strecke vorbei. Südlich von Östersund verändert sich die Landschaft merklich. Es wird kontinentaleuropäischer. Die Wälder wieder dichter, die Siedlungen wieder grösser. In den letzten Tagen sind wir durch Gegenden gefahren, wo manchmal eine Stunde lang kein einziges Haus stand. Oft waren wir die einzigen auf der Strasse. Das begann sich ab Jokkmokk abwärts irgendwann zu ändern. In Östersund war die Zivilisation wieder in vollem Umfang da.
Weiter südlich begann Dalarna, diese hügelige Gegend, aus der die roten Holzpferde kommen. Die Rückfahrt hatte ich aber eher als Durchfahrtstrecke geplant, wir würden acht Stunden fahren, da gab es nicht viel Gelegenheit für einen Ausflug oder einer längeren Pause. Heute redeten mein Vater und ich sehr viel. Darüber, wie das damals vor vierzig Jahren alles so ging. Wie es dazu kam, dass unsere Familie ins Gadertal zog, warum er als Pommesverkäufer plötzlich eine Rettungsstation aufbauen musste. Undsoweiter.
Ausserdem rief uns wieder Onkel Konrad an, der uns mitteilte, dass Onkel Seppl in der Nacht verstorben sei. Tante Zita hatte neben ihm gelegen und es lange nicht bemerkt. Daraufhin telefonierten wir mit der ganzen Verwandtschaft. Das ging sicherlich zwei Stunden. Die Gespräche gingen über die Freisprechanlage. Die Nachricht des Todes kam aber nicht überraschend. Onkel Seppl wurde 91 Jahre alt und war in den letzten Monaten nicht mehr wirklich fit. Vor etwa zwei Wochen hatte er aufgehört zu essen.
Onkel Seppl war Kirchenmessner. Also der, der sich um alles kümmerte. Der, der das Weihwasser nachfüllte, derjenige, der die Gerätschaften wartete, und auch derjenige, der die Glocken läutete. Nun ergab es sich, dass der Glockenstuhl gerade saniert wird und alle sieben Kirchenglocken heruntergenommen wurden. Es sei ein seltsames Gefühl, dass die Glocken nicht mehr alle Viertelstunde läuteten. Es gibt die Glocke, die die Viertel angibt, dann die etwas wärmere Glocke, die die Stunden schlägt. Dann gibt es noch andere Glocken, von denen ich nicht weiss, was sie genau machen, ich was nur, dass sie eine Viertelstunde vor der Sonntagsmesse alle zusammen läuten. Das nennt man das Zusammenläuten. Spätestens dann muss man sich schnell in Richtung Kirche hasten. Ich habe jede einzelne dieser Glocken gehasst. Wir wohnten in der Nähe der Kirche.
Es gab allerdings noch eine Glocke, deren Existenz ich kenne. Und die ist vielleicht die Ausnahme. Das ist die Totenglocke. Die Totenglocke ist die kleinste der sieben Glocken. Und die läutet, wenn jemand stirbt. Nun ergab es sich, dass gerade beim Tod des Messners der Glockenstuhl saniert wird und die kleine Totenglocke nicht geläutet wird. Das sagte fast jeder am Telefon: Gerade wenn der Seppl stirbt, kann die Totenglocke nicht läuten.
# Zu mehr Inhalt reicht der heutige Eintrag nicht. Morgen gehen wir die lange Rückfahrt nach Berlin an. Ich habe den Wecker auf 4:30 gestellt. Es wird Zeit, ins Bett zu gehen.
Ich habe übrigens zu allen Einträgen der Reise die Strecke als Screenshot nachträglich hinzugefügt. Fürs Protokoll.
Ich muss meine negative Meinung zu Gällivare revidieren. Auf Wunsch der Rezeptionistin unserer kleinen Pension, in der wir diese Nacht schliefen. Sie war eine gut gelaunte, schwer tätowierte, kleine, etwas dicke Frau. Wir kamen schnell ins Gespräch und unterhielten uns über dies und das auf Englisch. Da ihr Akzent aber nicht skandinavisch klang, fragte ich sie, ob sie von hier sei, was sie verneinte, sie käme aus Italien und weil ich aus Südtirol kam, wechselten wir zu italienisch.
Ihre Geschichte: sie ist nahe Bari in Puglia geboren, ihr Vater ist Italiener und die Mutter Argentinierin. Als sie sechs Jahre alt war, zog die Familie nach Argentinien. Dort lebte sie 12 Jahre. Danach zog die Familie zurück nach Puglia. In Bari und Umgebung schlug sie sich jahrelang mit Hoteljobs herum, bei denen sie 12 Stunden pro Tag arbeiten musste und sich nie Geld beiseitelegen konnte. Vor zwei Jahren lernte sie über Instagram einen Mann aus Nordschweden kennen, ein Jahr später zog sie zu ihm und macht jetzt den gleichen Job nur ohne Überstunden und dafür mehr Geld. Sie kann jetzt sogar sparen.
Ich wollte wissen, wie sie mit dem Wetter klarkäme. Das sei nicht schlimm, sagte sie. Sie möge das. Und im Sommer ginge sie drei Wochen nach Puglia, um richtig Sonne zu tanken. Ich sagte, dass ich Gällivare seltsam fände. Eine zombiehafte Stimmung hinge hier in der Stadt. Das löste viel Emotionalität in ihr aus. Das stimme ja gar nicht. Heute sei ja nur Sonntag. Der Ort ist sehr lebendig, es gäbe eine bekannte Musikszene und zwei richtig gute Kneipen. Sie sagte, ich müsse meine negative Meinung revidieren.
Ich beschloss, es zu tun.
# Mein Schwiegervater erzählt manchmal diese Anekdote, wie er als junger Mann einmal ein Projekt in Lappland zugewiesen bekommen hatte. Dort traf er einen Bauern, mit dem er sich über die Kälte unterhielt. Der Bauer sagte, er fände den Süden jetzt nicht unbedingt wärmer als hier den Norden. Er sei schon mal im Süden gewesen, in Lulea, da war es aber genau so kalt.
Ich kann das mit dem Süden nachvollziehen. Aus der Sicht von Alta ist Gällivare eine ganz andere Welt.
# Von Gällivare aus fuhren wir weiter in Richtung Süden, wieder an Jokkmokk vorbei, auch am Polarkreisdenkmal und somit fuhren wir zurück in die Nacht. Nach drei Tagen Tageslicht war das ein lustiges Gefühl. Natürlich fuhren wir zuerst den ganzen Tag lang durch Tag, erst am Abend in Östersund würde die Sonne um 23:16 untergehen. Aber dennoch. In die Nacht zu fahren fanden wir lustig.
Auf der Rückreise hatte ich wesentlich längere Strecken geplant. Während ich für die Hinfahrt nie die sechs Fahrstunden überschritt, hatte ich bereits eine Vorahnung, dass man auf der Rückreise vielleicht etwas reisemüde ist. Jeden Tag Hunderte Kilometer fahren, jeden Tag eine andere Unterkunft aufsuchen, das ermüdet. Deswegen sollten wir heute eigentlich 7 Stunden bis nach Strömsund fahren. Da wir aber gut unterwegs waren, schlug ich meinem Vater vor, einfach eine Stunde weiter zu fahren. Das Hotel konnten wir kostenlos stornieren und wir würden uns wieder eine Blockhütte auf einem Campingplatz mieten. Das sei mit Hund ja wesentlich entspannter. Er fand das gut und so fuhren wir eine Stunde weiter bis nach Östersund. Dort mieteten wir uns in eine nicht ganz so nette Blockhütte ein, aber es war für die Essenssituation wesentlich einfacher und die Hündin konnte die ganze Zeit dabei sein.
Ich glaube, sie hat den Reiseblues. Gestern Abend im Hotel war sie sehr liebesbedürftig, suchte ständig Körperkontakt zu mir und wich kaum von meiner Seite. Hunde sind Gewohnheitstiere, sie lieben Routine. Hier weiss sie seit Tagen nie, was passiert.
Mein Vater ist aber weiterhin gut gelaunt. Und das macht mir viel Freude. Er möchte sogar eine Autoreise mit mir durch Afrika unternehmen. Ich liess das einfach mal stehen.
# Gestern und heute sahen wir viele Rentiere. Sie liefen einfach auf der Strasse. Es ist langweilig, sie zu filmen oder fotografieren. In echt sind das aber wirklich sehr schöne Tiere. Und sie haben ein pelziges Geweih.
Wir gingen den Morgen gemütlich an, weil und die Hütte so gut gefiel und wir es ja auch nicht eilig hatten. Zum Nordkap würde es noch mal 3,5 Stunden dauern, das ist nicht so weit. Danach würden wir einen Umweg nach Hammerfest nehmen und dort nächtigen.
Ab Alta fährt man auf ein Hochplateau hinauf, geradewegs auf den Norden zu und auf die Ostseite der Halbinsel, die zur Nordkapinsel führt. Der Nordkap ist nämlich gar kein Festland mehr, sondern eine Insel, die etwa 6 Kilometer von Festland entfernt liegt und mit einem langen Tunnel verbunden ist. Nordkap ist technisch gesehen auch nicht der nördlichste Punkt Europas. Zum einen wäre das geografisch ohnehin Spitzbergen oder Franz-Josef-Land in der Hocharktis, aber es gibt unweit westlich vom Nordkap eine Landzunge, die sich einige Hundert Kilometer nördlicher befindet. Der sogenannte Nordkap ist mit seiner 300m hohen Klippe aber ein wesentlich dramatischerer Endpunkt des Kontinents. Vermutlich ist er deswegen der Ort geworden, der er heute ist.
Es wurde ein richtig schöner Tag. Die Sonne strahlte und der Himmel war blau. Und es war angenehm mild. Je nördlicher wir kamen, desto niedriger wurden die Bäume. Es wuchsen fast nur noch Birken. In Alta waren sie noch so gross, wie man Birken kennt. Eine Stunde nördlich von Alta waren die Birken nur noch 30cm hohe Sträucher. Es waren wirklich Birken. Ich stieg aus dem Auto aus und fotografierte sie.
Wir sahen Rentiere. Einmal eine ganze Herde, die von einem Hirten auf einem Quadmobil und einem Bordercollie von einer Weide über die Strasse auf eine andere Weidefläche getrieben wurde. Wir erstarrten natürlich bei so viel Touristenglück und filmten die Szenerie. Aber auf Videos sieht das nie wirklich gut aus. Später sahen wir kleinere Herden und manchmal begegneten wir einzelnen Tieren auf der Strasse. Wie man auf den Fotos unter sehen kann.
Ab etwa einer Stunde vor dem Kap wurde die Landschaft arktisch. Sehr rau. Sogar Birken konnte ich nicht mehr erkennen. Nur Steine, Felsen und Geröll. Dazwischen Tundraboden, bräunlichgrünes Gras, Moose, Flechten. Die Landschaft sah aus wie auf dem Mars. Manchmal ging die Landschaft in Strände über, vor allem in den zahlreichen Buchten. In einer Bucht sahen wir zwei Männer bis zur Brust im Wasser. Sie schienen Spass zu haben. Das ist aber nicht mein Ding. Mein Vater staunte. Hin und wieder kam eine kleine Siedlung aus Holzhäusern. Manche am Wasser, manche auch einfach neben der Strasse. Es gab kleine Hütten, die verschiedene Sachen verkauften. Kaffee und Sämische Parafernalia. Ein Häuschen verkaufte Silber. Warum auch immer.
Um auf die Insel zu kommen, fuhren wir durch den 7km langen Tunnel. Ich wusste davon und hatte auch darüber gelesen. Dass er per Fahrrad durchfahrbar sei und dass er gegen Schneeverwehungen im Winter Tore hat, die sich automatisch schliessen und öffnen. Ich wusste auch, dass er am tiefsten Punkt 216 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Nur hatte ich den Tunnel in dem Moment vergessen. Es kam einfach ein Tunnel, wie so oft in Norwegen, aber dieser Tunnel ging ziemlich steil abwärts. Immer abwärts und weiter abwärts, fast 4 Kilometer lang. Ein komisches Gefühl kam in mir auf, mich in den Bauch der Erde hinabzubegeben. Als wäre das nicht genug, ging mitten im Tunnel auch die Warnlampe des Benzintanks mit einem lauten „Pling“ an.
Zwanzig Kilometer vor dem Kap kam noch die letzte Stadt, Honningsvag, mit 2500 Einwohnern. Die Stadt liegt in einer schönen, geschützten Bucht. Die bunten Holzhäuser stapeln sich an den Hängen des Hafens übereinander. In der Bucht selber lagen drei grosse Kreuzfahrtschiffe. Wir erschraken zuerst und dachten, es stünden riesige Bürohochhäuser im Hafen. Dann erkannten wir, dass es Kreuzfahrtschiffe waren. Wir blieben aber trotzdem erschrocken. Gerade deswegen. Eines der Schiffe hatte zwölf Stockwerke, es hiess Princess of irgendwas. Es lag da wie ein Ufo.
Offenbar werden von dort aus Touristen per Bus ans Nordkap gekarrt. Wir fuhren weiter. Wir hatten in der letzten Stunde kaum noch miteinander gesprochen. Die Landschaft liess uns ziemlich verstummen. Anfangs sagten wir noch schau hier und schau da. Irgendwann zeigten wir nur noch hier und da. Aber am Ende waren wir verstummt und fuhren ziemlich schweigend und verzaubert über den Mond.
Zwei Kilometer vor dem Ziel zog dann ein dichter Nebel auf. Ein richtig dichter Nebel. Man konnte zuerst etwa 20 Meter weit sehen, am Ende vielleicht noch 10. Ich musste vom Gaspedal. Dennoch fanden wir den Parkplatz und mithilfe von Googlemaps fanden wir sogar den Fussweg zum Kap. Ohne Maps hätten wir schlichtweg nicht wissen können, wo hin. Weil wir kaum Menschen erkennen konnten und erst recht nicht das Gebäude und die Monumente am Kap.
Dort war es sehr windig. Und sehr viele Menschen. Es wehte ein eisiger Wind bei zwei Plusgraden und wir beide trugen kurze Hosen. In Alta war es noch 18 Grad warm. Die Barentssee konnte man nicht sehen, auch nicht, wie hoch man sich befand. Man sah nur, wie das Land endete und dann dicker Nebel. Das fanden wir nicht unlustig. Kommt man einen so weiten Weg, um sich Nebel anzusehen. Dass Europa in einem düsteren, dichten Nebel endet, hat auch etwas Metaphorisches, mindestens aber etwas Dramatisches. Oder schönes. Oder schön Dramatisches. Wir fanden es nicht schlimm. Weil wir die einzigen mit kurzen Hosen waren, wurde uns auch bald etwas ungemütlich. Wir hätten in die Nordkaphalle gehen können, jedoch wurde ich gewarnt, dass das eine Touristenfalle sei. Bei 300 Kronen, also 30 Euro Eintritt, empfanden wir auch wenig Verlangen, das Gebäude zu betreten. Also kehrten wir zum Auto zurück und traten den Weg nach Hammerfest an.
Ich muss zugeben, dass ich ab dem Moment sehr müde wurde. Müde von der Reise. Das Ziel war erreicht, jetzt nennt sich das Ziel wieder Berlin. Und wenn ich an die lange Reise zurück denke, an die 3200km Asphalt, dann würde ich gerne einschlafen.
Wir wollten in Hammerfest schlafen. Das war ein zweistündiger Umweg. Ich wollte immer schon einmal in Hammerfest sein. Nie so dringend wie Longyearbyen oder am Polarkreis, aber der Name Hammerfest wirkte schon als Kind in mir und ich verbrachte als Kind sehr viel Zeit über Landkarten gebeugt. Hammerfest. Alles stimmt an diesem Namen.
Aber plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf diesen Umweg. Ich wollte den Heimweg antreten. Ich schlug meinem Vater vor, zurück nach Alta zu fahren und uns für eine weitere Nacht in diese Blockhütte einzumieten, die wir so gerne mochten. Wir könnten uns wieder einen Lachs braten und Tiefkühlgemüse dazu kochen. Mein Vater sagt immer „Wie du willst“ und nach einigem Hin und Her fragte ich telefonisch nach der Blockhütte Nummer 14, ob diese noch frei sei. Die Frau am Telefon sagte, es sei die einzige, die noch frei sei und so buchte ich sie, während ich das Hotel in Hammerfest kostenfrei stornieren konnte. Es war perfekt.
Dann verfuhren wir uns noch. Ich hatte auf mein Handy geschaut und wir hatten eine Kreuzung verpasst, damit kamen wir eine Stunde später als geplant in Alta an, aber das war nicht so schlimm. Schlimmer war, dass die Hütte Nummer 14 nicht die Hütte war, die ich gemeint hatte. Die schöne Hütte war Hütte 20. Ich war mit den Nummern durcheinandergekommen. Hütte 14 war zwar wesentlich günstiger, aber sie hatte auch nur ein Schlafzimmer sowie kein Badezimmer und auch kein Wasser. Das deprimierte mich ungemein, da ich mich wirklich auf diese gemütliche Hütte gefreut hatte.
Mit vielen Umständen gelang es uns dennoch, mit Pfannen und Geschirr aus der Campingküche ein Mahl zuzubereiten. Danach musste alles abgewaschen werden und da wir sehr weit von der Campingküche entfernt standen, lief ich an dem Abend sicherlich 100 Kilometer zu Fuss hin und her.
Aber der Himmel war blau und eine sehr angenehme Sonne schien über uns und Alta. Als mein Vater ins Bett ging, holte ich den Tagebucheintrag von vorgestern nach. Eigentlich wollte ich über beide Tage schreiben, ich sass lange am Tisch und schrieb. Sie Sonne schien zu mir herein. Irgendwann war es ein Uhr und ich musste mich zwingen aufzuhören. Ich hatte aber nur über einen Tag schreiben können. Es ist schon ärgerlich, in Verzug zu geraten, ich nehme diesen Reisebericht schliesslich ernst. Aber ich finde es auch ein bisschen lustig.
Bevor ich mich ins Bett legte, lief ich über den schlafenden Campingplatz zu den Badezimmern, um mir die Zähne zu putzen. Am Himmel leuchtete die Sonne, wie in Berlin um sieben Uhr abends, aber alles war ausgestorben, alles schlief. Ich stellte mich an den Eingang der Badeeinrichtung und putze mir die Zähne, während ich mir das Gesicht von der Mitternachtssonne wärmen liess. Seltsam unwirklich.
Tag 6
Da wir in Alta übernachtet hatten, sparten wir uns zwei Stunden Fahrt in Richtung Süden bis nach Gällivare. Aus einer 7,5 Stunden Fahrt wurden damit 5,5 das ist wesentlich erträglicher. Vor allem ist es bis Gällivare exakt die gleiche Strecke. Wir werden sogar bis nach Jokkmokk fahren, allerdings trennen sich dort die Wege der Hinfahrt von der Rückfahrt, da wir die Rückfahrt über das Inland fahren werden.
Das Wetter auf der Fahrt nach Gällivare war sehr sonnig. Sogar auf dem Hochplateau trugen wir nur ein Tshirt. Allerdings gerieten wir wieder in einen unfassbaren Mückenschwarm. Es ist erstaunlich, wie viele Mücken es dort gibt. Aber auch nur dort. Diese 100 Kilometer um der finnisch-norwegischen Grenze herum.
Auf den knapp 500 km zwischen Alta und Gällivare begegneten wir gefühlt zehn Autos. Vielleicht waren es zwanzig. Und Birkenbirkenbirken. Überall Birken. Oben auf den Pässen klein und unten in den Tälern gross. Dieses weite Hochplateau in norwegisch Lappland. Weite Täler, wilde, ungezähmt schlängelnde Flüsse, die sich immer wieder zu einem See ausbreiteten. Etwa auf der Hälfte der Strecke sahen wir uns einem Dorf nähern, der Ort wirkte einladend und je näher wir kamen, desto mehr fiel uns die markante Kirche auf. Ich sagte zu meinem Vater: Komm lass uns eine Pause einlegen, Kautokeino, hier schauts nett aus. Er stimmte mir zu. „Kautokeino“ wiederholte er. Ich schlug vor, bei dieser auffälligen Kirche zu parken. Ein Schild mit dem Denkmalzeichen zeigte uns den Weg von der Hauptstraße ab. Die Kirche stand etwas abseits auf einem Hügel. Eine kleine, schöne Holzkirche mit einem gezimmerten Zwiebelturmdach. Kein rundes Zwiebeldach sondern kubistisch vereinfacht. Wie sie dort auf ihrem Hügel trotzte, und ein bisschen nachdenklich über das karge Lappland schaute.
Um die Kirche herum befand sich ein verhältnismäßig großer Friedhof, der sich über den gesamten östlichen Hügel ausstreckte. Es war eher ein lichtes Birkenwäldchen mit verwinkelten Wegen und Felsen. Dazwischendrin immer wieder Gräber. Friedlich liegende Gräber, als wären sie willkürlich verstreut. Mein Vater und ich verloren uns. Ich schoss Dutzende Fotos der Kirche und des Friedhofes. Keines will aber wirklich diese magische Stimmung wiedergeben.
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Je näher wir an Gällivare kamen, desto mehr Fichten mischten sich zwischen die Birken, später auch auch Kiefern.
Gällivare also. Meine Frau warnte mich. Sie ist vor etwa zwanzig Jahren in Gällivare gewesen, das sei eine furchtbar langweilige und hässliche Stadt. Es ist eine Stadt mit mehreren Erzbergwerken und ausserdem ist es ein Eisenbahnknotenpunkt. Das Essensangebot besteht aus drei heruntergekommenen Pizzerie, einem Sushiladen und einem Chinarestaurang. Keines davon hat eine Aussenterrasse, wodurch wir auch nicht mit der Hündin irgendwo sitzen konnten. Also holten wir uns zwei Pizze und verspeisten diese in unserem Hotel.
Erwähnen möchte ich auch noch die Dorfjugend, die auch hier in tiefergelegten Autos und wummernden Bässen und offenen Fenstern mit 20 km/h durch den Ort cruist. Denen sind wir auf unserem kurzen Spaziergang mehrmals begegnet. Aber hey. Das würde ich hier vielleicht auch tun.
Allerdings liegt Gällivare in einer sehr schönen Landschaft, die offenbar bei Wanderurlaubern beliebt ist. Muss man ja auch erwähnen. Und es hat einen sehr schönen Bahnhof in Blockhausstil. Den sieht man auch auf den Fotos.
Mein Schreibtisch kurz nach MitternachtMama und Kalb auf ihrem FeierabendspaziergangBirkenBirkenBirkenMitternachtssonne von vorneFriedhof in Birkenwald bei einer HolzkircheDer Blockhausbahnhof von GällivareHündin zu Mitternacht in AltaKyrkaNordkaptunnelDas LochHonningsvagEisDas Ende EuropasNebelDie GefährtinNebel