Durch meine Gleitsichtbrille fühlt sich die Welt ein bisschen wie aus einem Aquarium heraus an. Das fiel mir besonders in Spitzbergen auf. Erst als ich eine Stunde ohne Brille herumlief, näherte ich mich der Realität. Vorher betrachtete ich alles aus einer gewissen Distanz, wie aus ein Aquarium eben. Ohne Brille sehe ich die Realität nicht mehr ganz scharf, aber ich erfasse davon mehr, also das Raumgefühl, die Perspektive ist weiter.
Vermutlich gewöhnt man sich daran. Es wird ja nicht so sein, dass Menschen mit Brille realitätsfremd werden.
Am Abend las ich T’s Text. Ich schaltete in LibreOffice den Korrekturmodus an, um Änderungen, Korrekturen und Vorschläge mit einzuarbeiten. Ich fremdle etwas mit dem neuen Korrekturmodus in LibreOffice/OpenOffice. Zum einen erkennt man die Änderungen im Text optisch nicht mehr gut, da die Korrekturfarbe hell-orange ist und am Schriftbildrand gibt es für Änderungen keine Möglichkeit mehr, die Änderung abzulehnen oder zu akzeptieren. Man erledigt das jetzt irgendwie in einem Batchmodus, aber verstanden habe ich das noch nicht. Es kann sein, dass das die Zukunft des Lektorats ist, aber für mich fühlt es sich sehr falsch an.
In diesem Zuge ist mir auch aufgefallen, dass OpenOffice nur noch träge weiterentwickelt wird und dem abtrünnigen LibreOffice hinterherhinkt. Nach dem langen Streit um die Lizensierung und den Namensrechten um OpenOffice finde ich das beachtlich, dass man da keine bessere Lösung findet. LibreOffice empfinde ich übrigens als einen doofen Namen, das „Libre“ weiss doch niemand, wie es ausgesprochen gehört, ausser im frankophonen Kulturkreis. Librö, Lyber, Lieber. Es fühlt sich ungelenk an. Man sollten sich bemühen, das vormalige „OpenOffice“ zurückzubekommen. Ich hätte auch OffenOffice gut gefunden. Das klingt fast wie ein Wortspiel und OpenOffice wurde ursprünglich ja von einer deutschen Firma in Hamburg entwickelt, damals als es noch StarOffice hiess, bis es durch SUN aufgekauft wurde, es wäre also auch eine Ode an die Wurzeln des Programms. Aber man kommt natürlich nicht auf die Idee, deutsche Wörter in internationalem Kontext zu verwenden.
Liest sich ein bisschen jammerig. Ist nicht so gemeint.
Ich hatte ein Meeting um 09:30. Für die anderen beiden Teilnehmer schien die Uhrzeit normal zu sein. Ich hatte seit Jahren kein Meeting mehr vor 11 Uhr. So fühlte es sich jedenfalls an, aber es stimmt natürlich nicht. Wegen der frühen Uhrzeit blieb ich gleich zuhause. Danach sass ich durchgehend in Meetings bis 17 Uhr.
Heute wäre Podcastaufnahmetag gewesen, weil meine Frau aber einen langen beruflichen Abendtermin hatte, sass ich heute mit der Hündin fest. Auf dem Olympiagelände darf man nämlich keine Hunde mitnehmen und die Geschäftststelle ist ja Teil dieses Geländes. Das ist eine Vorschrift des Senats, dem das Olympiagelände gehört. Aber Inis, Sabine und Saskia kriegen das auch ohne mich hin. Es ist für sie zwar weniger stressig wenn ich dabei bin, weil sie sich dann nicht um die Technik kümmern müssen, aber sie wissen, wie es geht, letztendlich muss man nur einen Soundcheck machen und darauf achten, dass die Anzeigebalken immer ein bisschen ausschlagen. Ich würde nach der Aufnahme die Audiodateien erhalten und sie dann zuhause zu einer Folge zusammenschneiden.
Als ich am frühen Abend mit der Hündin spazieren ging, sah ich eine Nachricht von T auf meinem Telefon. Wir wollten uns bereits vor einigen Wochen treffen, er hätte gerne über ein Textprojekt gesprochen, aber aus terminlichen Gründen war es nicht zu einerm Treffen gekommen. Ich antwortete ihm, dass ich heute spontan Zeit hätte, also trafen wir uns kurzfristig auf ein Bierchen im Brewdog.
Wir kennen uns eigentlich kaum. T is ein Herthafan um die 60 mit einem sehr aussergewöhnlichen Leben. Er war mal Mitglied in meinem Fanclub, hat sich dann aber aus verschiedenen Gründen, die ich hier nicht öffentlich ausbreiten möchte, dazu entschlossen, wieder auszutreten. Dennoch sind wir in Kontakt geblieben, weil ich ihn, nunja, mag. Er läuft schon seit längerer Zeit mit einer semifiktiven, autobiographischen Geschichte herum, die er in Teilen bereits auf Papier gebracht hat. Ich empfehle, die Arbeit an so einem langen Text immer durch andere Menschen begleiten zu lassen, vor allem, wenn man noch nicht viel Erfahrung mit Textarbeit hat. Man kann sich beispielsweise einer Schreibgruppe anschliessen, in der man die Texte der jeweils anderen bespricht. Mir hat das immer sehr geholfen, vor allem in handwerklicher Hinsicht und wir wissen alle, dass das Schreiben fast ausschliesslich Handwerk ist. Es hat mir auch sehr geholfen, mich von Passagen zu trennen, von denen ich mich alleine nicht trennen konnte.
Wir reden über die Neunzigerjahre, über Lebensläufe, Lebensentwürfe, er erzählt mir von Punk in Westberlin der Achtzigerjahre. Es ist ein netter Abend. Meine Hündin liegt unter dem Tisch und schläft.
Ich biete ihm an, die ersten beiden fertigen Kapitel zu lesen und Feedback zu geben. So verbleiben wir dann erstmal.
Gegen halb zehn Uhr gehe ich nach Hause, füttere sehr verspätet mein Tier und dann erhalte ich die Nachricht, dass die Podcastaufnahme im Kasten und downloadbereit ist. Also setze ich mich ans Schneiden. Leider ist die Qualität der Aufnahme in weiten Teilen sehr schlecht, einige Stimmen sind kaum hörbar, ich muss daher viel an den einzelnen Spuren arbeiten. Gegen Mitternacht bin ich aber fertig und bringe die Folge online.
Heute dann Twitter gelöscht. Nicht, dass ich auf Twitter je sonderlich aktiv gewesen wäre, aber die Platform stösst mich immer mehr ab. Ich achte sehr darauf, mich nicht in einer Blase zu befinden, die Massnahmen seit der Übernahme von Elon Musk haben aber nur alle möglichen, anonymen und destruktiven Kettenhunde losgelassen. Das hat nur noch wenig mit dem zu tun, was ich unter freier Meinungsäusserung verstehe.
Sonst war heute wieder der erste Arbeitstag nach dem Urlaub. Mental war ich noch nicht ganz da. Der Stapel an Themen ist schon wieder gross.
Abends las ich dafür mit einiger Verspätung die Texte von der Arktisreise ein. Das sind 47 Minuten Sprachaufnahme. Danach hatte ich lange keine Lust mehr zu reden. Kann man jetzt unten bei den einzelnen Einträgen, oder auch im Podcastplayer nachholen.
Beim Einsprechen der Einträge fiel mir auch auf, dass ich offenbar nie die vielen Kinderwagen erwähnte. Ganz Longyearbyen ist voll mit Kinderwägen. Oft auch auf einsamen Strecken, bei denen ich nur an Eisbären denken könnte. Zum Beispiel auch auf dieser einsamen Strecke im Schnee, die wir uns damals nicht getraut hatten zu laufen. Da spazierte einfach ein unbewaffneter Papa, seelenruhig mit seinem Kinderagen durch die Landschaft. Wollte ich nur gesagt haben.
Auf der morgendlichen Hunderunde das Frauchen von Paula getroffen. Es ist eine Frau etwa in meinem Alter, unsere beiden Hündinnen verstehen sich gut. Sie und ihr Mann kommen aus Israel. Als sie sich nähert begrüssen wir uns, ich frage sie, wie es ihr ginge, mit der Nachrichtenlage seit gestern. Sie sagt, sie könne gerade an nichts anderes denken, es sei furchtbar, sie sei froh, mit dem Hund aus dem Haus zu können um auf andere Gedanken zu kommen. Immerhin seien ihre beiden Familien nicht in Gefahr. Ich frage, ob wir über etwas anderes reden sollen, dann sagt sie: ja bitte. Dann reden wir aus Spass über das Wetter. Das funktioniert nur so mittelmässig. Wir reden auf englisch. Früher sprach sie oft deutsch, aber ihr deutsch ist sehr holprig, irgendwann schalteten wir immer auf englisch um. Mittlerweile reden wir von vorneherein englisch. Heute hat sie ihre beiden Töchter dabei. Die eine ist sieben oder acht, die andere ist sicherlich unter fünf. Die Ältere hat einen Zeichenblock dabei und zeichnet meine Hündin. Sie zeichnet auch die anderen Hunde auf der Wiese. Die Töchter reden deutsch wie berliner Gören. Das finde ich bei Eltern von ausländischen Menschen immer so lustig. Auch die Tochter eines iranischen Mitarbeiters. Als sie vor zwei Jahren nach Deutschland kamen, fand die fünfjährige Tochter keinen Anschluss bei anderen Kindern, weil sie kein deutsch sprach. Ein Jahr später traf ich sie im Büro wieder und sie klagte in perfektem und akzentfreiem deutsch darüber, dass sie ihrem Vater immer alles übersetzen müsse.
Ich glaube der Trick ist schlichtweg, dass Kinder sich keinen Kopf um Grammatik und Satzbau machen, sie reden einfach drauflos und machen die ganze Zeit Fehler aber durch das Drauflosreden machen sie irgendwann einfach alles richtig. Erwachsene Menschen trauen sich erst zu reden, wenn sie meinen, dass sie alles richtig beherrschen. Das ist natürlich quatsch. Und die Leute haben so Angst vor Artikeln. Das ist so unfassbar. Ich sage immer, dass sie sich keine Gedanken um Artikel machen sollen. Einfach den falschen Artikel verwenden, ein bisschen wie Lottospielen, man weiss immer was gemeint ist.
Aber Erwachsene und Fehler.
Ich verstehe die Lage in Israel immer noch nicht genau. Ich verstehe nicht, warum man es mit 9/11 vergleicht und es Zeitenwende nennt. Mir war als würde sich Israel vielen Staaten angenähert haben. Ich muss das noch weiterlesen.
Am Abend dann die ersten Hochrechnungen der Wahlen aus Bayern und Hessen. Die AFD ist überall zweistärkste Kraft.
Heute der erste routinierte Tag: aufstehen, mit der Hündin raus, zurück, frühstücken, Horrorfilm geschaut, dann ein Käsebrötchen mit Paprika gegessen und die ganze Zeit das Bedürfnis gehabt zu schlafen. Bei Horrorfilmen sind ja immer die ersten 20 Minuten die Besten. Die Nichtsahnenheit der Leute. Das Dahinplätschern des normalen Lebens. Wir haben vorher natürlich gelesen, dass da Horrorfilm drauf steht. Aber wenn das Monster kommt, wird es meistens langweilig.
Und plötzlich war Abend. Pesto gekocht, eine lustige Serie über eine Welt voller Superheldinnen geschaut. Extraordinary auf Disney+. Die Grundlage der Geschichte geht so: mit dem Erreichen der Volljährigkeit bekommen die meisten Menschen eine Superkraft. Mal nützlicher, mal weniger nützlich. Nur Jen ist Spätzünderin. Sie ist 25 Jahre alt und hat immer noch keine Superkräfte. Sie findet das nicht so schlimm, nur ein bisschen vielleicht, aber alle um sie herum finden es schlimm. Dann stellt sich heraus, dass ihre Katze eigentlich ein Mensch ist, der sich in eine Katze verwandeln kann. Er weiss aber nicht, wer er ist und wie man Mensch ist, dafür war er schlichtweg zu lange eine Katze. Undsoweiter.
So richtig happy war ich heute nicht. Zum einen liegt es an Berlin, aber vielleicht mehr noch allgemein an Deutschland, oder Mitteleuropa, oder Europa überhaupt, ach was weiss ich, ich habe einfach überhaupt keine Lust hier zu sein. Es wird vermutlich ein paar Tage dauern, es geht sicherlich wieder vorbei. Ich habe den Berlinblues ja schon länger. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ein Highlight gab es allerdings. Wir trafen unsere Hündin wieder. Gegen elf Uhr gingen meine Frau und ich die Hündin abholen. Wir waren die ganze Fahrt hin freudig erregt. Und sie freute sich unbändig.
Während der Arktisreise habe ich meine Socialmedia Kanäle sehr intensiv bespielt. Das war mir neu, aber eine lustige Erfahrung. Seitdem sind die Zugriffszahlen hier im Blog auch deutlich gestiegen. Ich fahre das aber alles wieder herunter, wenn man das Tagebuch also weiterlesen will, ist es ratsam, sich entweder das Weblog zu bookmarken (oldschool), oder einen Feedreader wie zB Feedly zu nutzen (praktisch, aber nur wenn man ihn auch für andere Seiten nutzt), oder als Email abonnieren, siehe rechts oder weiter unten.
Eigentlich wäre eine Integration in Socialmedia hilfreich, aber da gefiel mir bisher keine der Lösungen, ich muss mich nochmal aufschlauen.
Und sonst so:
Es gibt noch ein paar Dinge aus der Arktis, die ich mir notiert hatte. So muss ich korrigieren, dass Menschen aus Thailand die zweitgrösste ethnische Gruppe ausmacht. Das stimmt nämlich nicht. Es sind Menschen aus den Philippinen. Thailänder sind die drittgrösste Gruppe.
Dann hatte ich noch den irischen Kellner im Barentzpub notiert. Ich weiss aber nicht mehr, was ich darüber schreiben wollte. Er bereitete den zwei Frauen vor mir an der Bar zwei Cocktails zu und er erzählte dabei seine halbe Lebensgeschichte. Weil er aber so unfassbar langsam dabei vorging, dachte ich immer nur „du bist so unfassbar langsam, du bist so unfassbar langsam“, dass ich mich nur bruchstückhaft an seine Geschichte erinnern kann. Er wohnte jedenfalls seit zwei Jahren in Longyearbyen. Er kam zufällig hierher wegen eines Jobangebotes eines Freundes und jetzt ist er geblieben. Er überlegt, eine Cocktailbar zu öffnen.
Eine der beiden Frauen an der Bar war eine junge Frau aus Bayern mit auffällig roten Haaren. Ich traf sie zwei Tage später im Stationen, als ich am Tresen stand und auf die Rechnung wartete. Weil auch sie wartete und wir etwas unbeholfen voreinander standen, sprach ich sie an, dass ich sie im Barentzpub gesehen hatte, und neben ihr stand als der Kellner so unfassbar langsam Cocktails mixte. Sie sagte auch: „Unfassbar langsam!“. Das war lustig. Sie war gerade seit drei Tagen hier, sie würde morgen zusammen mit einer Frau und weiteren fünf Männern von der Uni auf eine Expeditionsfahrt an die Nordküste Spitzbergens fahren. Sie erklärte aber keine näheren Details. Sie sagte nur, dass sie das schon das dritte Mal mache. Dann kam auch schon der Kellner.
Was ich sehr auffällig fand, waren die vielen einzeln reisenden Frauen. Neben der kürzlich erwähnten Frau in Rosa, sah man sehr oft einzelne Frauen, entweder am Frühstückstisch im Hotel oder in Bars oder abends im Restaurant. Ich weiss nicht ob das ein Ding ist. Oder auch reine Frauengruppen. Drei oder vier Frauen, die gemeinsam auf Reise zu sein schienen. Männer nie. Männer waren nur im Paar- oder Familienverbund da.
Und dann die Hilfsbereitschaft der Leute. Sowohl bei Visit Svalbard oder die Expeditionshotline bei Hurtigruten, wie auch im Hotel oder überhaupt: die Leute machen schienen nie Dienst nach Vorschrift zu machen. Die Frau namens Rimante von Visit Svalbard kümmerte sich darum, dass meine Buchung der Bootstour umgebucht werden konnte obwohl die Leute in Oslo sie bereits storniert hatten und musste dafür einigen Aufwand betreiben, dann ging es darum, dass wir aufgrund der Verschiebung zwei Dinge an einem Tag hatten, also die Bootstour und den Abend in Camp Barentz. Das Boot würde um 19Uhr im Hafen anlegen, der Shuttle für Camp Barentz würde uns aber um 19Uhr schon im Hotel abholen. Sie kümmerte sich darum, dass der Shuttle einfach eine Extrarunde zum Hafen fahren würde um uns abzuholen. Mit Rimante schrieb ich noch eine Weile hinundher, dann rief sie mich auch noch einmal an, dass dies und das klappen würde.
Schon klar, die Shuttles in Longyearbyen sind nicht die BVG oder die Deutsche Bahn, aber Hurtigruten ist ein grosser, norwegischer Postschiff- und Touristikkonzern, so einen Service kriegt in Berlin nicht einmal eine Reederei hin, die sich nur um einen einzelnen Spreedampfer kümmern muss.
Das letzte Mal aufwachen mit Blick auf den Adventfjord.
Wir haben heute nicht mehr viel vor. Wir dachten noch ins Svalbard Museum zu gehen, das soll richtig gut sein, es hat sogar einen Preis gewonnen, aber ich weiss nicht wofür. Nach dem Frühstück packen wir und um elf Uhr checken wir aus. Das Gepäck verstauen wir, der Flughafenshuttle kommt um 12:30, bis dahin haben wir noch ein bisschen Zeit, für das Museum ist es zu stressig, wir hätten dafür gerne einen ruhigen Kopf, daher schlendern wir einmal ins Zentrum hoch, es ist heute eher warm, um die 0 Grad herum und so fühlt es sich auch an, ich laufe mit der dünnen Steppjacke, die ich in Oslo kaufte. Wir gingen noch in dieses Kunstcafè ein Stück die Strasse hinauf auf der linken Seite. Weil sich das Café im Obergeschoss befindet und man sich dort auch die Schuhe ausziehen muss, gingen wir da nie hinein. Meine Frau weigert sich mittlerweile in Lokale zu gehen, wo sie ihre schweren Wanderschuhe ausziehen muss. Aber heute taten wir es dann doch. Es ist ein nettes, kleines Café mit einem Kino und einem Shop, in dem lokale Künstlerinnen ihre Dinge zum Verkauf ausgelegt haben. Vor allem Prints von arktischen Landschaften, gemalt sowie fotografiert und auch Lyrikbücher und arktisbezogenes Kunsthandwerk.
Wir hatten uns gegen dieses Foodfestival, in dem wir um 11:15 Tacos essen könnten, entschieden, da wir gerade vom Frühstück kamen. Essen lag mir wirklich fern. Für das Foodfestival hatten sie ein grösseres Zelt neben Lompen aufgestellt. Es wird den ganzen Monat Oktober stehen. Wiggo nannte es das jährliche Oktoberfest, da könne man viel Bier trinken und freute sich schon darauf. Die Frau von den Tacos nannte es hingegen Foodfestival. Jetzt weiss ich nicht.
Dann war es auch schon 12:00 und wir gingen wieder runter zum Hotel. Als wir an Lompen vorbeigingen, sahen wir Cecilias Mann und ihren Hund Grimm davor auf einer Bank sitzen. Ihr Mann war mit einem anderen Mann im Gespräch. Meine Hündin kennt Grimm auch aus dem Fernseher, aber sie findet ihn nicht übermässig spannend. Ich sage das nur, weil ich meine Hündin vermisse. Eigentlich alle Tage schon. Wir reden ganz oft über sie. Seltsam ist das. Ich wusste nicht, dass man sich so sehr an einen Hund hängen kann. Frau Casino schickt uns täglich einiger Updates, am liebsten würden wir sie ständig darum betteln, aber wir halten uns zurück.
Der Flughafen von Longyearbyen ist eine zweigeteilte Halle, die wie ein überdimensioniertes Vereinsheim wirkt. Alles ist sehr mini. Aber natürlich mit riesigen Fenstern, die eine Aussicht auf den Adventfjord und Teile des Eisfjordes ermöglichen. Über den Bildschirmen wir gerade die Verleihung des Literaturpreises verkündet. Diesmal geht der Preis an den Norweger Jon Foss. Ich habe den Namen nie gehört, aber ich ahne, dass wir in 4 Stunden, wenn wir in Oslo sind der Name überall prangen wird.
Dann heben wir ab. Ich bin etwas wehmütig, schiesse die letzten eiligen Fotos. Ich kann die Wehmut noch nicht ganz einordnen.
Es waren fünf sehr intensive Tage. Ich weiss, dass ich wieder zurückkehren werde, vor allem auch, um verschiedene Jahreszeiten zu erleben, natürlich die Mitternachtssone im Sommer, oder auch die Mitternachtssone im späten Winter, oder in der blauen Jahreszeit, oder die orangene Jahreszeit im September und Oktober. Für Oktober war es diesmal offenbar ungewöhnlich kalt. Normalerweise liegt noch kein Schnee und die untergehende Sonne taucht die braunen Berge in ein permanentes, orangegoldenes Licht. Nunja. Es ist nicht so weit.
Byebye-Byen.
Wir landen in Tromsö zwischen. Eine sogenannte technische Zwischenlandung. Das liegt offenbar daran, weil Spitsbergen eine Sonderzone ist, die zwar unter norwegischer Verwaltung steht, aber technisch Ausland ist. Man steigt einmal aus, muss alles mitnehmen, sogar die eingecheckten Koffer und muss nochmal durch die Pass- und Sicherheitskontrollen. Auch die grossen Koffer. Dann kommt man aus diesem kleinen Spezialterminal wieder raus und steigt in den gleichen Flieger wieder ein. Teilweise aber mit anderen Passagieren und mit neuem Bordpersonal.
In Oslo haben wir nur ein sehr kleines Zeitfenster von 40 Minuten. Wir rennen von einem Terminal zum nächsten und erwischen den Flieger nach Berlin. Es geht so schnell, dass ich Nachrichten üüber Jon Foss nicht mitbekommen habe, falls es sie gegeben hat.
Spät am Abend landen wir in Berlin, dem fernen Süden.
Ich habe in den letzten Tagen keine Texte eingesprochen, weil das zu aufwändig war. Dennoch musste ich einen Audio-Platzhalter einfügen, sonst würde der Feed nicht funktionieren. Ich werde die Texte aber heute oder morgen nachsprechen.
Heute trafen wir zwei Berühmtheiten und wir fuhren auch bei Tageslicht durch das Adventstal. Aber der Reihe nach.
Am Vormittag gingen wir ins Dorf um einige Besorgungen zu machen. Zuerst bei „Visit Svalbard“, die Tourist Info, wo wir versuchten, noch eine Fahrt mit dem lokalen Taxi zu kriegen. Es gibt einen Taxidienst, der Touristen zwei Stunden lang durch Longyearbyen und die umliegende Gegend fährt und dabei darüber erzählt, was hier so los ist. Ein bisschen wie diese Hop-on-hop-off Busse in den grossen Metropolen. Online waren heute plötzlich keine freien Plätze mehr verfügbar, daher empfahl man uns, ins Visit Svalbard zu gehen. Die wissen immer über alles Bescheid. Der Ort ist so klein, die drei Frauen bei Visit Svalbard kennen schlichtweg jeden.
Eine der Frauen fand noch freie Plätze in dem Taxi und so konnten wir tatsächlich mitfahren.
Beflügelt von diesem Erfolg gingen wir ins Lompen Senteret und kauften ein paar lustige Sachen. Zum Beispiel einen Flachmann mit einem Eisbären drauf und Eiswürfelformen in Eisbärenform für Gintonic im kommenden Winter. Wir sassen in einem Durchgang zum Café Fruene, wir überlegten gerade zu Fruene zu gehen und einen Kaffee zu trinken, dann kam plötzlich Cecilia Blomdahl um die Ecke.
Cecilias Youtubechannel entdeckte ich vor etwa drei Jahren, das war in jener Zeit, in der ich das ganze Internet nach Podcasts und Filmen und Büchern und Clips über Longyearbyen und die Arktis leergesogen hatte. Sie war damals noch nicht so berühmt wie heute, aber ihre Clips halfen mir damals die körperliche Sehnsucht zu lindern, die die Arktis in mir ausgelöst hatte.
Meine Frau zieht mich immer ein wenig auf. Sie sagt, ich sei veriebt in sie. Das stimmt natürlich nicht. Das meine in wirklich. Wie gerne ich ihre Videos auch immer sah, so nahmen sie mir auch ziemlich viel von dem Zauber, mit dem mich diese kalte Gegend überfallen hatte. Ihre Videos sind dann schon etwas banal und inhaltsleer, sie handeln oft von Maniküre und vom Fitnesscenter oder davon wie sie ihr Häuschen aufräumt. Aber während Corona schauten wir so gut wie alle ihre Videos.
In diesen Tagen in Longyearbyen beschlossen wir, nicht den Namen Cecilia auszusprechen. Der Name könnte uns rausrutschen und da jeder in Longyearbyen Cecilia kennt, wollten wir nicht in der Verdacht geraten, Fans zu sein. Also einigten wir uns darauf, sie in diesen Tagen Traudi zu nennen.
Wir sassen jedenfalls im Lompen Senteret und überlegten ins Café Fruene zu gehen, dann kamen Traudi und ihre beste Freundin Linn um die Ecke. Uns beiden fror das Gesicht ein. Cecilia wohnt etwas ausserhalb und ist nur selten im Dorf, wir hatten irgendwie nicht damit gerechnet, sie zu sehen. Meine Frau drehte sich zu mir und ich drehte mich zu ihr. Wir nickten starren Blickes.
Cecilia und Linn gingen zu Fruene. Wir fanden es jetzt etwas komisch zu Fruene zu gehen. Wir wollten nicht in den Verdacht kommen zu starren. Dennoch war es ein wirklich sehr lustiger Moment. Wir haben so lange ihr Leben auf Youtube verfolgt, dass es sich anfühlt, als hätten wir eine Verbindung zu ihr. Aber diese Verbindung hat sie natürlich nicht zu uns.
Deswegen gingen wir in dieses andere Café, die Taqueria im Kulturhuset. Dort assen wir auch ein Chicken Teryaki Gericht, weil sie offenbar keine Tacos machten. Ich fragte daher erneut: seid ihr nicht eine Taqueria? Die Frau antwortete wieder belustigt, das habe sie mir doch schon gestern gesagt: die Leute hier verstehen das nicht. Aber es gäbe ab morgen dieses Food-Festival auf dem Platz vor dem Lompen, da könnten wir kommen, sie würden ab 12 Uhr Tacos zubereiten. Ich sagte, dass morgen um 2 unser Flieger flöge, wir kriegen das zeitlich nicht hin. Sie sagte, wir könnten auch etwas früher kommen, so um Viertel nach elf. Sie würde uns zwei Tacos machen. Ich glaube das machen wir so.
Heute war es nicht mehr so kalt. Etwa minus eins. Und die gefühlte Temperatur befand sich auch in dem Bereich.
Später kam dann das Touristentaxi. Am Steuer sass ein alter Mann mit einem riesigen Bart. Es war Wiggo Antonsen. Ich kannte den aus der 8-teiligen BBC Doku „Ice People“ aus dem Jahr 2015. Ich war nicht auf den Gedanken gekommen, dass Wiggo der Fahrer sein würde. Ich kannte ihn auch noch aus verschiedenen Podcasts, eigentlich dachte ich, dass er gestorben war. Aber hier war er. Er lebte und hatte gute Laune.
Es stiegen noch 4 Norweger und 4 Chinesen dazu und wir fuhren mit diesem Taxi, das eher ein Shuttle war, durch die Gegend. Zuerst durch das Dorf, dann durch das ganze Adventdalen hinaus bis zur Kohlemine 7. Das freute mich ungemein. Wie ich gestern bereits schrieb, wäre ich sehr gerne einmal bei Tageslicht durch dieses weite Adventsdalen gefahren. Das Tal ist 3 Kilometer breit, das möchte ich hier zu Protokoll geben. Wir fuhren hoch zur Mine, dann runter, zurück ins Dorf, machten eine Pause beim Eisbärenschild wo alle ausstiegen und das obligatorische Foto schossen, dann fuhren wir durch das Dorf hinauf zu den anderen Minen, bis zu Huset und dann in die andere Richtung zu Grube 3 und dem Global Seed Vault.
Weil auf Instagram viele nicht wussten, was es mit dem Seed Vault auf sich hat, poste ich hier den Link. Das ist ein ehemaliger Minenschacht in dem heute viele Millionen Samen aus der ganzen Welt im Permafrostboden aufbewahrt werden. Dies als eine Art Backup, falls die Welt untergeht. Um es plakativ auszudrücken.
Was ich auf der Taxifahrt von Wiggo lernte:
Das Lompen Senteret ist nach dem deutschen Wort „Lumpen“ benannt. Weil die Minenarbeiter dort ihre alte Kleidung ablegten und die deutschen Kumpels das immer „Lumpen“ nannten.
In Longyearbyen leben vor allem junge Menschen. Das war mir auch schon aufgefallen. Wiggo ist mit seinen… vermutlich 70 Jahren, der zweitälteste Mensch auf der Insel.
Und noch ein paar Sachen hatte ich gelernt, aber sie fallen mir nicht mehr ein. Er erzählte uns auch davon, dass es momentan einen Ort gäbe, wo man Eisbären sähe. Zwischen Longyearbyen und Barentsburg sei gerade ein toter Wal gestrandet. Seit Tagen fressen schon drei Bären an dem Wal. Das dauert bestimmt noch zwei Wochen. Aber das dürfe man nicht bewerben, weil es per Gesetz verboten sei, Eisbären aufzusuchen. Man käme aber daran vorbei wenn man mit dem Boot nach Barentsburg führe. Aber seit dem Krieg der Russen gegen die Ukraine will kaum jemand noch nach Barentsburg. Ausser die dort lebenden Russen. Ausserdem würden die Leute von Visit Svabard die russischen Siedlungen boykottieren und nicht mehr bewerben. Es gäbe allerdings noch eine Organisation, die die Route trotzdem befährt, aber man kann diese nur direkt über deren Seite buchen, nicht mehr über Visit Svalbard oder die norwegischen Kanäle. Er fand das blöd, er meinte, die Russen dort seien korrekte Leute. Wir lassen ihn reden. Er schimpft auch gerne über Politiker und da er weiss, dass wir in Deutschland leben, schimpft er auch über Merkel und überhaupt. Dafür mag er Paulaner Bier und das andere Bier, das im nicht mehr einfällt.
Die Fahrt war dennoch sehr aufschlussreich. Man bekommt einen schnellen und guten Überblick über die ganze Siedlung. Wie die Dinge funktionieren, wie sie entstanden sind. Die meisten Sachen weiss ich zwar schon, weil ich 4 Jahre lang das ganze Internet leergesogen habe, aber es ist dennoch super, das alles zu sehen und vor Ort zu sein.
# Danach ist Abend, wir gehen zuerst ins Karlsberger Pub, trinken dort zwei Svalbard Pale Ales und schreiben Postkarten. Das macht wirklich Spass, Postkarten schreiben. Wir machen das oft. Und als wir betrunken genug waren gingen wir nebenan ins Stationen und assen zwei Burger. Meine Frau sagte, das sei der beste Burger, den sie je gegessen hatte. Ich fand meinen auch sehr gut, hatte nach dem vierten Bier aber keine verlässliche Skala mehr, auf der ich den Burger einordnen konnte.
Das hielt mich nicht davon ab, dem Koch zu sagen, dass das der beste Burger sei, den meine Frau je gegessen hatte. Und bei mir rangierte er auch sehr weit oben, aber ich möchte dem Burger keine Platzierung geben. Den Koch freute das sichtlich. Er meinte, sowas höre er hin und wieder. Er glaubt es läge an der Sauce und daran, wie er das Fleisch mache, nicht zu rare und nicht zu done, genau dazwischen. Er sagte, das sei aber immer so beim Kochen, es ginge immer um die Balance.
Gras in der TUndraMinenarbeiterpantofflen beim TouristinfoAdventdalenGlobal Seed VaultDoomsday VaultHuskyschlitten auf Rädern
Morgens stehe ich wieder am Fenster und schaue über den Fjord. So könnte ich wirklich jeden Tag aufwachen.
Man begegnet hier ständig den gleichen Menschen. Das ist lustig. Vorhin im Supermarkt traf ich die Frau, die gestern die Führung in der Brauerei gegeben hatte. Sie sagte, wir seien eine sehr lustige Gruppe gewesen, ich sagte, ich hätte nach so viel gutem Bier auf dem Weg nach Hause keine Angst mehr vor Eisbären gehabt. Sie bedankte sich. Es wirkte, als sei es ein Kompliment.
Heute war allerdings der erste Tag, an dem wir die Frau in Rosa nicht sahen. Die Frau in Rosa sass vor uns im Flieger von Oslo nach Spitzbergen. Sie wohnte auch im gleichen Hotel wie wir. Sie frühstückte auch zeitgleich mit uns. Und wir sahen sie auch bei Cafe Fruene und in einem Restaurant. Immer alleine. Wir nannten sie die Frau in Rosa, weil sie immer rosa Kleidung trug. Wir glauben sie ist deutsche, wir wissen es aber nicht genau, wir hörten sie nur einmal mit dem Hotelpersonal reden und da klang ihr Akzent deutsch.
Heute sahen wir sie nicht mehr. Weil es unwahrscheinlich ist, sie heute nicht gesehen zu haben, denken wir, das sie vermutlich wieder abgereist ist.
In Cafe Fruene trifft sich die Thai Community. Menschen aus Thailand stellen die zweitgrösste ethnische Gruppe nach den Norwegern. Das ist, weil die Minenarbeiter sich jahrelang im Urlaub in Thailand verliebten und ihre Frauen mit in die Arktis nahmen.
Ich dachte immer, ich würde dem halben Dorf auf Insta folgen, erkannt habe ich bisher niemanden. Besser so. Sonst würde ich zu meiner Frau immer sagen, schau das ist der, und die ist die, und die macht das und das. Ich muss mich ohnehin schon zurückhalten, nicht alles immer zu erklären. Ich würde mich dafür hassen.
Wir gehen heute wieder zur Kirche. Diesmal kennen wir den Weg. Die Kirche ist sehr hell von innen. Vor dem Kirchenraum befindet sich ein weiterer Raum mit Tischen und Sitzecken. Es sieht aus wie ein Vereinsheim. Mitten im Gang zum Altar liegen drei Yogamatten. Dort steht eine Frau die aussieht als käme sie aus einer Berliner Yogaschule. Sie grüsst mich freundlich. Meine Frau bleibt draussen, sie will nicht schon wieder ihre Schuhe ausziehen, aber ich glaube, sie interessiert sich einfach nicht für Kirchen. Auf dem Weg zurück ins Dorf, laufen uns ein paar Rentiere über demn Weg. Uns erschlägt eine seltsame Freude über diese unwirkliche Begegnung. Wir zücken die Kameras um den Moment festzuhalten. Rentiere. Ich wunderte mich gestern bereits, warum wir noch keine Rentiere gesehen haben. Auf Youtube sieht man ständig Rentiere durch Longyearbyen laufen. Die sind total friedlich auch auch völlig furchtlos. Irgendjemand sagte, dass gerade einfach keine Rentierzeit sei.
Zurück im Dorf gehen wir in die Taqueria im Kulturhuset. Ich folge der Taqueria auf Instagram. Wir wollen aber nur einen Kaffee trinken, und das Lokal ist halb leer, also frage ich, ob man auch einfach einen Kaffee trinken kann, wir hätten noch keinen Hunger. Die Bedienung ist sehr freundlich und sagte Yes, sie würden ja nicht nur Tacos verkaufen, ich frage, ob das nicht eine Taqueria sei. Sie sagte: das würden wir gerne sein, aber die Menschen hier verstehen das Konzept einer Taqueria aber nicht, also verkaufen wir auch Erbseneintopf und Kaffee mit Kuchen. Sie sagt das lachend, sie findet das ganz offensichtlich lustig.
Ich bin erst seit gestern Nachmittag wirklich angekommen. Es hat etwas gedauert. Ich habe jetzt die Filter nicht mehr, ich kann alles aufnehmen, was ich sehe, rieche, höre.
Um drei Uhr holt uns ein Bus am Hotel ab und bringt uns zum Hafen. Gestern bekamen wir die Info, dass heute die Bootstour durch den Eisfjord nachgeholt werde. Uns freut das sehr. Bereits um drei hängt die Sonne dermassen tief, dass sie den Horizont rot erleuchtet. Der Sonnenuntergang zieht sich über mehrere Stunden hinweg und begleitet uns die ganze Bootstour lang. Erst vier Stunden später weicht der rote Himmel einem graublau. Am südlichen Horizont bleibt noch lange ein heller Streifen. Die Tour führte durch den Eisfjord hinauf zu dem Gletscher im Tempelfjord. Wir lernen viel über die alten Trapperhütten an den Ufern, die damals von den Bärenfelljägern erbaut wurden und heute von den Bewohnerinnen Longyearbyens als Wochenendhäuser benutzt werden. Es klingt schon seltsam, wenn du in einem abgelegenen Ort wie Longyearbyen wohnst, dass du dann noch ein Wochenendhäuschen auf irgendeiner velassenen, vereisten Landzunge besuchst. Wenn man hier wohnt, dann fühlt sich Longyearbyen wahrscheinlich wie eine dreckige, laute Metropole an.
Auf dem Boot treffen wir auch wieder die deutsche Familie. Sie waren heute schon auf einer dreistündigen Bergwanderung zum Plateauberg. Hey, wir waren immerhin schon bei der Kirche und hatten einen Kaffee. Das sagen wir natürlich nicht.
Um halb acht kehren wir in den Hafen zurück. Dort wartet ein Shuttle auf uns. Wir hatten noch einen Abend im Adventdalen gebucht. Ein Abend im sogenannten Camp Barents, einem Camp mit mehreren Holzhütten, wo wir (wieder) Rentiersuppe essen und Alkohol trinken werden, während man uns Geschichten über die Nordlichter erzählt. Mit etwas Glück würde es auch Nordlichter geben. Das Camp Barents liegt elf Kilometer taleinwärts in diesem, wie ich finde, phantastischen Adventdalen. Das Adventtal ist ein sehr weites und langes, baumloses Tal. Von Longyearbyen aus, überblickt man weite Teile des Tales und man sieht es die Farben und Schattierungen verändern, je nachdem, wie die Wolken die Sonnenstrahlen niedergehen lassen. Es ist von Tundraboden und feinem Gestein bedeckt. Es erinnert mich an die Unendliche Geschichte. Dieses baumlose Tal, in dem Atreju durch das südliche Orakel schreitet. Das war doch ein weites, baumloses Tal, war es das nicht? Zumindest in meiner Erinnerung war es das.
Es ist bereits dunkel, wenn wir in Camp Barents ankommen. Am Samstag hätte man um acht Uhr noch wesentlich mehr erkennen können. Die Tage verkürzen sich momentan um etwa 20 Minuten, pro, öhm, Tag. Ich wäre gerne bei Tageslicht durch das Adventdalen gefahren, aufgrund des Lichtes im Bus sieht man nur die Lichter der Grube 7 der letzten aktiven Kohlegrube und die Lichter einiger Huskyhütten, also Hütten von Leuten, die Huskys für Schlittenfahrten züchten und halten. Es gibt mehrere davon im Adventdalen verstreut, dieses weite, flache Tal eignet sich natürlich vortrefflich für solche Fahrten.
In Camp Barents sind wir etwa 30 Besucherinnen. Wir werden am Eingangszaun von einem Mann mit einem Gewehr begrüsst. Er stellt sich als Stanislav aus Slowenien vor. Er wohnt seit sechs Jahren auf Spitzbergen und wird uns heute alles über die Arktis und Nordlichter erzählen. Der ganze Abend ist natürlich nur touristische Unterhaltung. Als wir bei der Buchung überlegten, ob wir sowas machen wollen, entschieden wir uns genau aus diesem Grund dafür. Man sitzt irgendwo kuschelig in einer Hütte weitab der Zivilisation und jemand unterhält uns einen Abend lang. Kann man auch mal machen.
Wir werden durch drei jungen Menschen durch den Abend geführt. Zum einen Stanislav aus Slowenien, dann ein junger Mann aus Japan und Merle. Merle ist 23 Jahre alt, sie sagt allerdings nicht woher sie kommt. Sie nennt nur ihren Namen und erzählt, warum sie lebt. Sie hat einen deutschen Akzent. Später am Abend müssen wir aufs Klo, das ist ein Aussenklo etwa zweihundert Meter abseits des Hauses. Sie begleitet uns mit einem Gewehr. Auf dem Weg zum Klo frage ich sie, ob sie aus Deutschland kommt. Sie sagt, sie käme aus Leipzig. Das ist oft so mit Deutschen im Ausland. Sie verheimlichen, dass sie deutsche sind. Das sage ich ihr natürlich nicht. Wir sagen aber auch nie, dass wir in Deutschland wohnen, wir sagen, wir leben in Berlin.
Den Tisch teilten wir mit vier weiteren Leuten. Ein schwules Paar aus Frankreich, wobei einer der beiden aus der französischen Karibik kam. Sie wohnten beide in Oslo, aus Sicherheitsgründen, wie sie sagten. In Frankreich würden sie als verheiratetes Paar oft angefeindet werden. Die anderen beiden waren ein heterosexuelles Paar aus Italien. Der Mann war zwar in Mannheim geboren, sprach aber kein Wort deutsch, da er in jungen Jahren bereits nach Sizilien umgezogen sei. Die Frau kam aus dem Piemont. Beide wohnten seit drei Jahren in Äthiopien in einem internationalen Camp in der Savanne, wo sie gerade einen Staudamm errichteten. Sie wollen jetzt aber wegziehen und eine Familie gründen und dafür, entweder nach Piemont oder nach Meran in Südtirol zurückkehren (der Wunsch des Mannes) oder nach Skandinavien (der Wunsch der Frau).
So ist das.
Morgen ist der letzte volle Tag. Am Donnerstag fliegen wir wieder zurück. Jetzt möchte ich noch ein paar Tage dranhängen.
Gestern hatte wir aufgrund der ausgefallenen Bootstour den langen Tag in Longyearbyen. Dieser Tag war eigentlich für heute geplant. Jetzt habe ich ein bisschen Angst, dass uns der Ort langweilt. Longyearbyen ist nicht New York oder London, wo man eine ganze Woche lang von Aufregung zu Aufregung hoppst. Longyearbyen hat man in einem halben Tag gesehen. Dennoch bin ich vor allem wegen diesem Ort hier. Natürlich interessiere ich mich auch für die Natur, für Wanderungen, Expeditionen und Bootsfahrten, aber zum Teil fallen Aktivitäten wie Wanderungen und Expeditionen aufgrund der Jahreszeit schlichtweg aus. Was mich an Longyearbyen anzieht ist diese Zivilisation am Ende der Welt. Natur, jaja, alles schön und so, aber diese Gesellschaft am nördlichsten Ende der Welt, aufzusaugen wie die Menschen in dieser Eiswüste leben und dabei gute Laune zu haben scheinen, das ist der Grund warum ich hier bin. Ich will wissen, wie sie sich versorgen, wie sie sich bei Laune halten, Wie sie den Fluss überqueren, welchen Jobs sie nachgehen, wie die Kinder hier leben. All das und noch viel mehr. Und ich will natürlich auch die eisbedeckten Landschaften sehen.
Wir wollten heute runter zum Wasser und danach durch ein Wohnviertel und dann rüber auf die andere Seite des Flusses zur Kirche. Das Dorf ist in fünf Teilen aufgeteilt.
1) Das Zentrum mit den Hotels und den Bars am rechten Flussufer 2) Die Wohnviertel am Hang des rechten Flussufers, das sich um die Ecke mit Aussicht über Fjord und Adventdal zieht 3) Das ältere Wohnviertel im finsteren Longyeartal 4) Das alte Longyearbyen auf dem linken Flussufer, mit der Kirche und wo sich heute eigentlich nur nich die Verwaltung befindet 5) Der Hafen und das Gewerbegebiet am Wasser
Wir wollten heute den Hafen und das alte Longyearbyen ansehen. Wir nehmen eine Akürzung über den Tundraboden, sonst hätten wir den langen Umweg auf Asphalt nehmen müssen. Wir sind gestern schon den ganzen Tag auf Asphalt gelaufen. Ich laufe alles mit meinen weissen Nike Air, dafür trage ich warme Socken, das reicht vollkommen. Unten am Wasser laufen wir über etwas Geröll. Es ist graubraunes Gestein. Das Gelände ist aber nicht zu abwegig. Das ist die Gegend, in der der grosse Fluss aus dem Adevntdalen in den Fjord mündet, es ist ein seltsames Gelände aus Eis, Geröll, Felsen, Schnee und Wasser, unfassbar schön. Tausende Töne aus grau, braun, und blau. Durchsetzt mit weiss und schwarz. Es sind die ersten Fotos die einigermassen gelingen.
Danach steigen wir in das Wohnviertel unter dem Sukkertoppen hinauf. Sukkertoppen heisst Zuckerspitze, oder Zuckerhut, es ist dieser kleine, spitze Berg an dessen Fuss sich dieses neue, schönere Wohnviertel räkelt. Wir streifen das Viertel aber nur kurz, weil wir auf die andere Seite des Flusses zur Kirche wollen. Zuerst wärmen wir uns im Lompen Senteret in einem sehr netten Café namens Fruene. Wir essen eine Rentiersuppe mit Butterbrot. Wir besuchen diesmal auch die Shops, die wir aufgrund des gesrtigen Sonntags nicht besuchen konnten. Meine Frau findet einen superschönen, gelben Wollpulover, ich kaufe mir Handschuhe mit abnehmbarer Kappe, damit man in der Eile ein Telefon bedienen kann ohne die Handschuhe auszuziehen. Ich ziehe die Handschuhe natürlich trotzdem jedes Mal aus. Es ist ein Reflex, ich werde das noch lernen müssen.
Übrigens gibt es an den Eingängen zu sämtlichen Geschäften immer Schilder, die das Mitführen von Waffen untersagen. Sollte ich erwähnen. Weil Menschen hier regelmässig Schiessgewehre bei sich tragen, die sie zur Abwehr von Bären bei sich tragen. Es gilt hier die Pflicht, gegen Eisbären ausgerüstet zu sein. Es gibt ein Protokoll, wie man sich bei Begegnungen mit Eisbären zu verhalten hat. Der letzte Schritt, der nur in einem absoluten Notfall getätigt werden darf, ist der Schuss mit dem Gewehr. Andererseits darf man die sogenannte Safetyzone um Longyearbyen gar nicht ohne eine Waffe, oder jemandem, der eine Waffe bei sich trägt, verlassen. Ausser man befindet sich in einem Auto.
Um auf die andere Seite des Dorfes zu kommen, nehmen wir die kürzeste Route über eine Brücke, die uns auf Googlemaps angezeigt wird. Als wir uns der Brücke nähern, sehen wir riesige Felsen, die darauf abgelegt sind. Sie sollen wohl Autos davon abhalten, die Brücke zu überqueren. Als wir auf der Brücke stehen, wissen wir auch warum. Die Brücke gibt es nämlich nicht mehr. Es sieht aus, als wäre sie von einem starken Wasserschwall mitgerissen worden. Der Fluss ist gefroren, mit einigem Geschick, könnte man ihn vielleicht passieren. Wir beschliessen allerdings, die sichere Route zu nehmen und zwar die nächste Brücke, etwa einen Kilometer taleinwärts.
Wir laufen eine ganze Zeit auf diese Brücke zu und sehen den langen Weg durch den Schnee auf der anderen Seite des Tales. Wir haben viel Zeit um über diesen langen Weg nachzudenken.
Es ist nämlich so: in Longyearbyen sperren die Menschen ihres Autos und ihre Wohnungen nicht ab. Das tun sie zum einen, weil es kaum Kriminalität gibt, aber der wichtigste Grund sind Eisbären. Weil diese hungrigen Tiere immer und überall plötzlich auftauchen können. Auch wenn das selten passiert. Im Dorf gab es den letzten Eisbären vor fünf Jahren. Vor drei Jahren wurde allerdings ein junger Mann auf dem nahegelegenen Campingplatz gefressen. Das ist kein guter Tod. Eisbären töten nämlich nicht vorher, sondern sie fressen während man stirbt. Ich merke, dass ich mich hier mit einer gewissen Nervosität durch die Gegend begebe. Ich scanne die Umgebung eigentlich laufend nach weissen Tieren ab. Dummerweise läuft hier im Dorf ein weisser Golden Retriever herum, der aus der Entfernung immer ein kurzes, nervöses Gefühl auslöst.
Mit diesem Gefühl des Scannens laufen wir also auf diese Brücke zu und sehen auf der anderen Seite des Flusses, auf die wir gleich laufen werden, eine lange, leere Strasse im Schnee, an der keinerlei Autos und keine Häuser stehen. Wir beginnen,über diese lange leere Strasse zu reden. Wir reden uns ein, dass die Statistik eher gegen eine Begegnung mit Eisbären spricht, wir haben aber auch beide eine blühende Phantasie. Von den vielen Horrorfilmen, die wir immer schauen, sollte ich gar nicht beginnen.
Auf der Brücke beschliessen wir umzukehren. Wir können auch hinunter ins Dorf, ganz unten bei der Uni gibt es schliesslich die grosse Brücke, wir könnten auch von dort aus über die Nordseite hinauf zur Kirche. So machen wir das dann. Wir laufen hinunter zur Uni. Etwa auf halbem Wege dorthin passieren wir diese hohen Holzhäuser, es ist ein Studierendenwohnheim. Dort sehen wir Menschen über einen Weg durch den Schnee auf uns zukommen. Der Weg führt an Rohren entlang, die über den Fluss führen. Dabei muss man wissen, dass ganz Longyearbyen mit offenen Rohren durchzogen ist. Das hat mit der Beschaffenheit des Bodens zu tun. Es ist Permafrostboden, das Wasser in der Rohren würde frieren. Man müsste die Rohre also beheizen, was wiederum den Permafrostboden zum schmelzen bringen würde, was die Infraktuktur destabilisiert. Also laufen alle Rohre überirdisch. Warmwasser, Kaltwasser, Abwasser. Zwei solche dicke Rohre führen auch über diese Stelle des Flusses, von der die Menschen herkommen. Ich ahne, dass es dort einen Überweg für Personen gibt. Als die Leute bei uns ankommen, frage ich, ob an den Rohren entlang ein Fussgängerinnenüberweg führt. Ein Mann bejaht es und sagt: von da aus kommt man dann überallhin. Ich verstehe nicht ganz, was der Mann mit „überallhin“ meint, aber es überallhin klang gut.
Die Überführung ist ein schmales Holzgestell, das für Fussgänger an die Brücke für die Rohre angebaut wurde. Sie ist so schmal, dass man nur hintereinander drüberlaufen kann. Am Ende der Brücke landet man auf einer Fläche mit Geröll. Es gibt dort keine Wege. Man könnte schlicht überall hingehen. Das meinte der Mann vielleicht damit: man kommt von da aus überallhin. Entweder rechts runter über eine Schotterfläche zum Gewerbegebiet, oder am steinigen Flussufer in das Tal hinauf. Oder auch über eine sehr steile, vereiste Böschung hinauf zur Kirche. Weil wir zur Kirche wollen, versuchen wir die Böschung, aber das Eis ist Teil der Böschung. Wir würden uns die Knochen brechen. Nach einer längeren Diskussion entscheiden wir uns für das Gewerbegebiet. Wir könnten diesen vielleicht zwanzigminütigen Umweg nehmen, aber es reicht uns und wir gehen zurück in das Hotel.
Dort entspannen wir uns. Es gäbe im Hotel einen Whirpool und eine Sauna. Für den Whirlpool bräuchte man aber Badesachen. Die haben wir natürlich nicht mitgenommen, für unseren arktischen Strandurlaub.
Die Haut wird hier sehr strapaziert. Unsere Fingerkuppen trocknen schnell aus. Warum auch immer gerade die Fingerkuppen. Es ist ratsam sich mit Creme einzudecken.
Um halb sechs gehen wir los zur Svalbard Bryggeri. Ich habe uns eine Brauereiführung gebucht. Es ist die nördlichste Brauerei der Welt. Sie befindet sich etwas ausserhalb, an der Strasse zum Flughafen, zwar noch innerhalb der Safety Zone, aber man läuft etwa 20 Minuten lang an Container vorbei, eingepfercht zwischen Wasser und einem Bergrücken. Immerhin stehen dort mehrere Autos, in die man flüchten könnte. Ausserdem sehen wir mehrere kleine Menschengruppen, die sich möglicherweise auch auf dem Weg zur Brauerei befinden.
Ich mag diese Gewerbegebiete. Es ist ein bisschen schäbig. Es erinnert mich an diese schäbigen Orte in Krimis über Alaska.
Die Brauerei befindet sich in einem schlichten Gewerbebau in diesem Gebiet am Hafen. Sie stellen ein sehr gutes Pils und ein phantastisches Pale Ale her. Das Weissbier ist auch OK, aber Weissbier ist generell nicht so mein Fall. Die anderen Biere sind auch gut, ich bin aber nicht so der Fan von Rotbieren oder von Stouts. Guiness ist das einzige Stout, das ich mag, weil es sich so trocken anfühlt, normale Stouts sind mir immer zu schokoladig, das passt für mich nicht so.
Ich weiss natürlich alles schon über diese Brauerei. Wie es eigentlich verboten war, auf Spitzbergen Alkohol herzistellen, wie der Gründer, ein Mann, der 12 Jahre lang in einer Kohlemine im Adventdalen arbeitete, 5 Jahre lang die Behörden in Oslo nervte, damit sie das Gesetzt ändern würden. Und wie es dann in 2015 die Behörden und der Innenminister Norwegens zur Eröffnungsfeier in die Arktis kam.
Bei der Verkostung sitzen wir neben drei Menschen aus Freiburg. Es ist eine Familie, die 15 Jahre in der Nähe von Stockholm lebte. Der Vater ist ein älterer Mensch, der immer mit einer etwaa professorialen Haltung über die Dinge redet. Die Mutter und der Sohn sind aber eher sympathisch. Die drei sind unglaublich aktiv, sie waren in zwei Tagen bereits auf zwei langen Bergwanderungen im Schnee. Wir beschliessen, kein Wort über unsere nicht getätigten Wanderungen zu verlieren. Morgen werden wir sie auf der Bootstour treffen, wenn sie denn stattfindet.
Auf dem Weg zurück ins Dorf haben wir einen im Tee und haben natürlich keine Angst vor Eisbären mehr. Wir spazieren hinauf bis ins Restaurant Kroa, dort esse ich ein Rentierfilet, auch diesmal wieder mit einem phantastischen Karottenpuree. Wahrscheinlich gibt es hier einen Karottenpureekoch, der Karottenpuree für das ganze Dorf herstellt.