Heute spielte Herthas Frauenmannschaft ihr erstes Spiel seit dreiundvierzig Jahren. Da mein Fanclub den Antrag dafür eingereicht hatte und an der Gründung der Frauenabteilung aktiv mitwirkte und ich ausserdem das Projekt mit dem Podcast zur Frauenmannschaft technisch umsetze, ist mir das Thema natürlich eine Herzensangelegenheit und freute mich schon seit langem auf dieses erste Spiel. Es sollte auch gleich das Derby gegen Union aus Köpenick sein. Die Unionerinnen würden unseren Frauen weitaus überlegen sein, da sie dieses Jahr eine Profimannschaft zusammengestellt hat und also richtige Gehälter zahlt. Davon sind wir noch weit entfernt. Bei Hertha machen wir jetzt die kleinen Schritte. Auch bei der Männermannschaft.
Während der gestrigen Niederlage der Männer gegen Hamburg dachte ich eine Weile daran, das heutige Spiel der Frauen zu schwänzen. Wir würden sehr sicher verlieren, es waren in den letzten beiden Jahren einfach zu viele Niederlagen. Jetzt nach dem Abstieg in die zweite Liga, knüpfen die Niederlagen nahtlos an. Diese ständigen Niederlagen ziehen mich runter. Irgendwann ist es ja Selbstschutz, wenn man sich keinen Niederlagen mehr aussetzen will, vor allem, wenn sie zu erwarten sind, wie beim heutigen Spiel. Das Niederlagentief hält meist ein paar Tage lang. Ab etwa Mittwoch schöpfe ich dann wieder Hoffnung, die Vorfreude steigt, am Samstag bin ich dann voller Zuversicht im Stadion und wir kriegen wieder auf den Deckel. Es ist ein Kreislauf.
Ich ging natürlich trotzdem. Ein Ticket kostete 2€. Das Spiel fand nicht im Olympiastadion statt, sondern daneben im Stadion am Wurfplatz, das sogenannte Amateurstadion. Ich traf mich mit Benny und seiner Frau am Westkreuz. Wir wollten früh da sein, es war unklar, wie voll es werden würde, das kleine Stadion fasst nur 5000 Zuschauer, auch die anderen vom Fanclub würden da sein, da es keine Zuordnung von Plätzen gab, wollten wir schon einigermassen zusammenstehen, zumindest im gleichen Block.
Es kamen ganze 1500 Menschen. Davon handgezählte 27 Unionfans. So eine Kulisse sind Spielerinnen in der dritten Frauenliga nicht gewohnt. Die meisten Spielerinnen sind selbst Herthafans, intern äusserten sich viele Spielerinnen sehr emotional darüber, endlich im richtigen Trikot spielen zu dürfen. Nach 2 Minuten fällt dann das erste Tor. Führung für unsere Mannschaft, durch eine gewisse Svenja Poock. Die komplette Mannschaft fällt mit einer Freude übereinander her, die man aus dem Männerfussball gar nicht mehr kennt.
Danach drehte sich das Spiel und unsere Mannschaft verlor dann 6:1. Etwas zu hoch vielleicht, aber durchaus verdient. Aber wie gesagt, das war auch so zu erwarten gewesen. Nach dem Spiel verlasse ich ziemlich bald das Gelände und fahre zurück nach Hause.
Der Bericht ist seltsam belanglos. Aber ich lasse ihn trotzdem da.
Jörg Kachelmann hatte mal gesagt, das beste Mittel gegen die Hitze dri eine zirkulierende Luft, also ein Ventilator. Das ist offenbar wesentlich effizienter als kalte Luft, wie sie beispielsweise eine Klimaanlage herstellt.
Weil ich das damals noch nicht wusste, kaufte ich vor einigen Jahren eine kleine, portable Klimaanlage. Sie kostete etwa 400€, aber weil ich ganz furchtbar unter Hitze leide, war mir der Preis völlig egal. Ich kann gut mit Kälte umgehen, aber wenn ich die Wohnung sich auf 27 oder 28 Grad aufwärmt, dann bekomme ich Beklemmungen und wenn es nachts nicht mindestens auf 20 Grad hinunterkühlt, dann kann ich nicht schlafen. Also musste die kleine, portable Klimaanlage her.
Zuerst bekam ich Stress mit einer Nachbarin, die in meiner Abwesenheit das Paket nicht annehmen wollte, da Klimaanlagen das Klima zestören würden. Deutschland und der Hass auf Klimaanlagen, es könnte der Titel einer Spiegel Reportage sein. Ein bisschen berechtigt ist es natürlich schon, aber genau so dogmatisch. Glücklicherweise nahm ihr Mann das Gerät an, sonst hätte ich die Maschine einen Kilometer entfernt aus der Postfiliale herschleppen können.
Was den Betrieb von Klimaanlagen so kompliziert macht, ist der Abtransport der Warmluft, die bei der Kälteproduktion entsteht. Diese portablen Klimaanlagen haben ein flexibles Abluftrohr, über das man die warme Luft dann irgendwie an die Aussenwelt übergeben muss. Ich hatte mir dafür eine Blende aus festem Karton gebastelt, das genau in eines der kleinen Erkerfenster passte, und mitten in diese Blende schnitt ich ein Loch heraus, in das dieses Abluftrohr passen würde.
Ich wollte das Gerät im Wohnzimmer betreiben. Das Wohnzimmer liegt nämlich strassenseitig und das Gerät macht einen ordentlichen Lärm. Das wesentlich kleinere Schlafzimmer liegt hofseitig, da wo die meisten Menschen schlafen und wo man im Sommer die Menschen hört, wenn sie für den Beischlaf die Zahnschiene auf den Nachttisch legen. Ich traute mich nicht, die Klimaanlage hofseitig betreiben. Ich hätte halb Deutschland gegen mich aufgebracht. Für die sehr heissen Tage wäre ich fürs Schlafen einfach ins Wohnzimmer gezogen.
Das Ergebnis war aber sehr enttäuschend. Das Gerät ist zu schwach, um das grosse Zimmer zu kühlen.
Aber weil Kachelmann sagte, dass ein Ventilator wesentlich effizienter ist, kaufte ich einen Ventilator und bin zufrieden. Die Luftbewegung kühlt die Haut wirklich ab.
Heute, an diesem furchbtaren warmen Tag, lief ich ständig mit diesem etwas klobigen Standventilator herum. Ob ich im Arbeitszimmer sass, ich Wonzimmer oder in der Küche abends das Herthaspiel gegen den Hamburger SV schaute, es gab immer angenehm zirkulierende Luft neben mir. Meine Frau hingegen braucht das alles nicht. Sie hat immer Sommer eine Sommerdecke und im Winter eine Winterdecke. Und tagsüber ein leichtes Kleid.
Jetzt steht aber dieses Klimagerät seit ein paar Jahren in meinem Schrank, ich werde es mal auf Ebay anpreisen, ich habe es genau ein Mal verwendet, ich denke, ich kriege noch was dafür.
Heute Firmenausflug im Spreewald. Es gibt sie noch, diese Orte ohne Internet und ohne Empfang. Weite Teile des Spreewalds sind so ein Ort. Unser Fährhaus samt Restaurant und Schankraum hat nirgendwo Empfang. Weder Telekom, noch Vodafone noch O2. Wir verbringen dort mehrere Stunden und ständig kommt dieser Trigger auf, das Telefon rauszunehmen und Benachrichtigungen zu checken. Nur um dann festzustellen, dass nichts passiert ist, nichts, gar nichts, das durchgestrichene Empfangssignal auf dem Display als verschlossenes Portal zum Rest der Zivilisation. Viele Leute erwähnen diesen Reflex, das Telefon zu zücken. Das Fährhaus hat allerdings WLAN, es steht jedoch nicht den Kunden zur Verfügung. Vielleicht ist es auch nur Sadismus. Das Personal scheint stolz auf die Empfangslosigkeit zu sein.
Auch paddeln wir fast 3 Stunden durch den Wald auf den hunderten Seitenarmen der Spree. Auf dem Wasser kamen ab und zu Signale aus der Zivilisation zu uns. An einer Kanalkreuzung gibt es 4G. Wir halten alle an und machen eine Pause. Wir sitzen in unseren Booten und schauen gespannt in unsere Telefone.
Diese Hitze. Sie lähmt mich. Während der Pause stecke ich die Arme bis zum Ellbogen ins Wasser. Ich spüre, wie mein Kreislauf langsam heruntergekühlt wird.
# Die Hauptspree im Spreewald ist ungefähr 6m breit. Dann gibt es da noch die Kleine Spree, die neue Spree, die sind auch so breit. Es gibt aber auch den Nordumfluter und den Südumfluter. Dann gibt es den Kleinen Fließ, den Stillen Fließ, den Stauenfließ, den Soldatenfließ, den Buschgraben, den Rohrkanal, den Weidengraben, das oder den oder die Große Rinzena, den Buschgraben Süd, aber keinen Budschgraben Nord, es gibt Koals Graben und die Alte Trotzke, und einen Dlugybuschfließ auch einen E-Kanal. Wirkt wie hineingeschummelt. Und eine Spolla, und einen Durchstichkanal. Und viele, viele mehr.
# Die Betreiber des Bootshauses kennen unsere Firma. Sie wissen, dass wir „etwas schwules“ machen. Sie sind alle sehr nett und entspannt. Aber der alte Mann, der die Boote zuweist muss unbedingt erwähnen, dass er auch Boote in Regenbogenfarben hat. Er meint es nicht böse, aber er würde wahrscheinlich ersticken, wenn er den Witz nicht machen kann. Er sagt das ja nicht nur mir, sondern wiederholt es auch bei den anderen.
Ich war ja mit Markus Lanz zusammen in einer Klosterschule. Die Klosterschule bezeichnete sich als katholisches Knabenseminar Vinzentinum, eine Internat-artige Schule in Brixen, einer südtiroler Kleinstadt. Ich war freiwillig zwei Jahre dort, ich mochte das wirklich gerne und hatte als elfjähriger Knabe meine Familie darum gebeten, ins Internat ziehen zu dürfen.
Das waren zwei sehr unterhaltsame Jahre, im zweiten Jahr geriet ich allerdings in die Pubertät und da ich etwas frühreif und neugierig war, tat ich ständig dumme Dinge, woraufhin man meinen Eltern in einem Schreiben mitteilte, dass man mich für das dritte Jahr nicht mehr aufnehmen würde. Das empfand ich als eine ungemein starkte Ablehnung meiner Person. Ich kann mich noch genau an die Gefühle erinnern, als ich mich im Badezimmer einsperrte um diesen Brief zu lesen.
Jedenfalls war ich auch Sänger im Knabenchor und im Knabenchor sang auch Markus Lanz. Da ich noch keinen Stimmbruch hatte, sang ich Alt, ich konnte aber auch Sopran, wenn man mich brauchte, so war das auch später im Erwachsenenchor, allerdings setzte man mich da immer als Tenor ein, weil es an Tenören immer mangelte, aber lieber stehe ich beim Bass, weil ich finde, dass meine Bassstimme besser rauskommt als beim Tenor, schliesslich war ich als Knabe ein Alt.
Markus Lanz ist aber sechs Jahre älter als ich, er stand hinten und war bereits ein richtiger Mann. Ich weiss nicht mehr, welche Stimme er sang, aber ich weiss noch, dass er damals schon eine auffällige Person war. Es war ein Typ, den auch wir jungen allgemein kannten und respektierten. Er war der Lanz. Wir wurden immer mit unserem Familiennamen angesprochen. Auch wir Knaben sprachen einander mit den Artikel und Familiennamen an. Der Peratoner, der Lamprecht, der Tschurtschenthaler. Ich war der Pfeifer. Der Lanz hiess Markus mit Vornamen. Genau wie ich. Das ist mir in Erinnerung geblieben. Sonst habe ich wenig über Markus Lanz zu sagen. Ausser, dass er auf der Wikipediaseite des Vinzentinums vermerkt steht. Darauf bin ich schon ein wenig neidisch. Aber gut, ich habe ja nichtmal einen Wikipedia Eintrag.
Ich merke schon, dass die Erinnerungen hochkommen. Aber heute habe ich keine Zeit. Morgen ist Firmenausflug, ich muss früh aus dem Bett.
Ich war schon auf dem Weg ins Büro. Dann bekam ich ein paar Gedanken.
Meine Hündin war heute nämlich mit der Dogwalkerin unterwegs. Wie jeden Mittwoch. Die Dogwalkerin warnte mich, dass sie das Tier aufgrund der Hitze früher zurückbringen würde. Also schon um 12 statt um eins oder halb zwei. Normalerweise kommen entweder meine Frau oder ich um vier Uhr zurück, dann ist sie vielleicht drei, höchstens vier Stunden alleine. Meine Frau würde heute aber erst sehr spät kommen und ich erst gegen fünf Uhr. Ich nahm die Info der Dogwalkerin entgegen und verschlagwortete diese Info mit „Trotzdem Büro“, „Bisschen länger alleine“, „Ah, wird sie schon machen, grosses Mädchen“ und alles war gut.
Ich wollte sie ohnehin wieder einmal in unserer Abwesenheit filmen, da sie neuerdings etwas wachsamer geworden ist, das letzte Mal, dass wir sie filmten ist schon über ein Jahr her, da war sie noch ein Welpen. Weil sie so lange alleine sein würde, bot sich das als gute Gelegenheit an. Also stellte ich zwei Laptops auf, einen im Arbeitszimmer und einen in das Kallax-Regel im Flur. Das sind die beiden Räume in denen ich erwartete, dass sie sich aufhalten würde. Den Laptop im Kallax-Regal musste ich ein bisschen quetschen, wegen des Kabels an der Seite. Dann drückte ich auf Aufnahme und fuhr los.
Ich fuhr los und dachte an diesen gequetschten Kabel. Das alleine war gar nicht so schlimm, aber dann dachte ich daran, dass de Laptop auch an der linken Seite in dieses Regal gequetscht war und möglicherweise das Abluftgitter verstopft. Während des Fahrens versuchte ich mir zu vergegenwärtigen, an welcher Seite sich der Lüfter befand. Das war doch rechts beim Kabel, oder war das links, oder war das auf beiden Seiten, ein Laptop entlüftet ja ganz anders als ein PC. Es wird heute 31 Grad messen, auch die Wohnung wird sich erhitzen. Wenn der Laptop in Brand geraten würde, dann würde das Feuer auf die Bücher im Regal übergreifen, keine gute Sache, aber die Bücher sind in eigenen Fächern, beim Laptop steht nur ein Tongefäss, aber dennoch, man weiss ja nicht, wie sich das Feuer verbreitet. Dann sah ich meine Hündin, wie sie versuchte den Flammen zu entkommen, ohne eine Ahnung was um die herum passiert, in ihrem Zuhause, wo sie sich sicher wähnt, wo sie von ihrem Herrchen und Rudelführer in vollem Vertrauen einschliessen liess.
Ich würde mir das nie verzeihen können.
Meine Frau nennt so etwas Catastrophizing. Ähnlich geht es mir, wenn ich in den Urlaub fahre und an den Herd denke. Aber für den Herd habe ich mittlerweile innere Mechanismen entwickelt.
Nach zwei Kilometern stieg ich vom Fahrrad und googelte nach meinem Laptop, um herauszufinden, an welcher Seite sich der Lüfter befindet, aber die Laptopmodelle unterscheiden sich immer wieder, ich wusste auch nicht genau welches Modell ich zuhause stehen hatte. Also drehte ich um und fuhr nach Hause. Ich würde das Meeting im Büro nicht mehr schaffe, also blieb ich den ganzen Tag zuhause.
Fürs Protokoll: der Lüfterschlitz befindet sich an der Unterseite.
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Etwas russisches. Gestapelte Pfannkuchen. Cremig, vegan, schweinisch. Noch nie so einen leckeren Kuchen gegessen.
Dieses Gewitter in der Nacht zu Dienstag! Ich wurde wach davon, weil es durch meine Augenlider hindurch aufblitzte. Ich wurde schnell wach, schloss das Fenster und stellte es auf Kipp. Die Blitze waren so nahe, dass auf dem Blitz sofort der Donner folgte.
# Der fünfzehnte August. In Italien heisst der Tag „Ferragosto“. Als ich dreizehn und vierzehn Jahre alt war, arbeitete ich zwei Sommer lang als Hilfskoch des Hilfskoches in der Küche eines Restaurants in Corvara, dem Dorf in dem ich aufgewachsen bin. Ferragosto war ständig ein Begriff, der irgendwo am Horizont in der Mitte des Sommers auf uns lauerte wie eine Drohkulisse. Zu Ferragosto würde ganz Italien bei uns zu Besuch sein und wir würden in Arbeit untergehen. Es kam fast so, aber nicht ganz. Ich war als Hilfskoch des Hilfskoches vor allem zuständig für Pommes und alle Dinge, die die anderen Männer nicht machen wollten. zB schneiden, schälen und putzen. Aber ich bekam dort immer gutes Mittag- und Abendessen. Das ist eigentlich auch eine Geschichte, die ich mal aufschreiben könnte, auch wenn die Zeit meiner Pubertät schon sehr sehr weit entfernt ist und möglicherweise in der Erinnerung etwas eingenebelt. Vielleicht was für nächstes Jahr im August, aber zuerst muss ich noch von ein paar anderen Dingen erzählen.
# Am Abend nahmen wir dann die erste Folge des Herthafrauen Podcasts auf. Die Technik funktionierte wie am Vortag geprobt. Die Moderatorinnen sind noch etwas nervös und noch nicht eingespielt, das ist normal und es ist auch charmant, es ist das erste Mal, dass sie sowas machen, ich mag es zu sehen wie das alles anläuft, es ist authentisch, in wenigen Wochen wird das immer geschmeidiger laufen, ich schlage deswegen auch vor, kaum zu schneiden, die Versprecher sollen nicht entfernt werden, sondern sie sollen rhetorisch ausgebügelt werden, das schafft eine wesentlich persönlichere Dynamik, die auch die Persönlichkeiten etwas in den Vordergrund rückt. Ich schneide nur ein paar längere Leerstellen raus, weil sich das merkwürdig anhört.
Anhören kann man sich das jetzt auf allen gängigen Podcasts Apps, sowie Spotify unter dem Titel „Westend Girls“, oder auch direkt auf der Seite.
Am Abend testete ich zusammen mit meinen Fanclubfreundinnen das Setup um den Podcast über Herthas Frauenmannschaft online aufzunehmen. Diesmal online, weil zwei der drei Moderatorinnen gerade im Urlaub sind, sie aber über gutes Internet verfügen. Und da die Spielerinnen der Frauenmannschaft derzeit im Trainingslager sind, beschlossen wir, die erste Folge ohne Spielerinnen aufzunehmen, sondern nur im Kreise der drei Moderatorinnen. Die Aufnahme eilt ein wenig, weil am Sonntag das erste Saisonspiel stattfindet, ausserdem ist es gleich das Derby gegen Union. Ich halte mich aus allen inhaltlichen Themen raus, ich kümmere mich nur um die Technik, ich mag es, dass das ein Frauending ist, mittelfristig sollen die Drei auch die Technik übernehmen, ich will nur helfen, diesen Podcast ans Laufen zu kriegen. Dabei habe ich selber nur wenig Erfahrung mit Audiotechnik, aber ich kenne mich ein bisschen mit Computern aus und ich nehme ja jeden Tag diesen Text hier auf.
Der Setup ist simpel: die Sprecherinnen sitzen zuhause mit ihren Headsets oder Mikros und ich schalte sie in Zencastr dazu. Zencastr ist sowas wie Zoom, aber auf Podcastaufnahmen spezialisiert. Das Mixen erledige ich mit Audacity. Audacity ist sehr einfach und es reicht vollkommen aus, für das was ich brauche.
Der Test funktionierte einwandfrei. Damit können wir morgen Abend aufnehmen.
# Es gibt unfassbar viele schlechte Knoblauchpressen. Aber alle versprechen sie handlich zu sein und leicht zu reinigen. Und ich bin ein unfassbar schlechter Knoblauchpressenkäufer. Seit Jahren kaufe ich Knoblauchpressen, weil ich mich immer über die Knoblauchpresse, die ich gerade besitze, ärgere. Entweder sie presst schlecht, oder die Handhabe ist schlecht oder sie lässt sich schlecht reinigen. Oder alles zusammen. Meist alles zusammen. Jedesmal denke ich, endlich die perfekte Knoblauchpresse gekauft zu haben, nach einigen Tagen stellt sich immer heraus, dass ich wieder falsch lag.
Heute kam aber diese Presse von „Oliver’s Kitchen“. Das ist eine Marke, die sich ganz offensichtlich an Jamies Namen bedient, es ist aber offenbar eine dreiköpfige Familie mit einem Kleinkind, das sich ohne Investoren ihren Lebensunterhalt und ihre Reisen finanzieren will. Die Story wirkt auf mich nicht ganz echt. Dafür sehen die Produkte zu gut aus, aber ich habs nicht recherchiert und es ist mir auch egal, weil die Marke verspricht, eine Knoblauchpresse zu haben, die handlich ist und leicht zu reinigen.
Momentan kränkle ich ein bisschen. Eine Mischung aus sehr starkem Nackenschmerz, Kopfweh und wasweissich. Vor allem das Wasweissich überwiegt. Es würde mich nicht wundern, wenn das alles vom Nacken ausgeht. Am besten ging es mir heute, wenn ich seitlich auf dem Bett lag. Dabei spielte ich ein paar dutzend Levels „World of Wonders“ in Rekordzeit durch. Ob das Spielen auf dem Telefon für die Entspannung der Nackenmuskeln förderlich ist, bezweifle ich, aber meine Frau ist mir in den Leveln enteilt, ich muss das heimlich aufholen.
Desweiteren hätte ich zur Zeit viel Lust darauf Murakami zu lesen. Zwar fand ich Murakami viele Jahre lang handwerklich und sprachlich unlesbar, aber ich erinnere mich gerne an das Abdriften in diese seltsamen Welten von Katzen, eingefrorenen Gefühlen und einer sich ändernden Wahrnehmung. Es ist ein neugieriges Abdriften, man driftet ab und schaut sich beim Kontrollverlust zu, ohne Angst, immer nur neugierig. Wenn ich Murakami lese, fühle ich mich oft wie ein kleiner Fuchs, der ein bisschen am Rande des Geschehens sitzt.
Ich habe noch die ungelesenen „Kafka am Strand“ und den ersten Teil von „1q84“ hier liegen. Auch „Hard-Boiled Wonderland“. Aber ich komme auch nach 50 Seiten überhaupt nicht in den Text hinein. Ich versuchte es in den letzten Jahren immer wieder. Die drei Bücher liegen mir aber nicht.
Was ist die letzten beiden Tage alles so passiert? Der lange Text über meinen Job als Torwächter zog alles aus mir heraus. Es ist wie ein abkalben. Während des Schreibens suchte ich in meinen Erinnerungskartons nach Dokumenten aus jener Zeit. Ich fand lustigerweise eine Arbeitsmappe mit dem Logo des Schlosses. Die Mappe mit den „Werkbriefjes“, ich kann mich nicht mehr erinnern, welchen Zweck die Mappe hatte, aber es klingt nach Papieren in denen ich meine Arbeitszeit pflegte. Auch fand ich viele Fotos aus jener Zeit. Ich sollte sie mal digitalisieren. Auch die alten niederländischen Texte fand ich wieder, Texte die mir mittlerweile peinlich sind, aber wegschmeissen kann ich sie auch nicht. Ich muss nur dafür sorgen, dass sie nach meinem Ableben niemand zu lesen bekommt. Leider weiss man halt oft nicht genau, wann man stirbt.
Als ich die Kartons durchsuchte fiel mir ein, dass ich das Aquarell von dem schönen Mädchen nicht weggeschmissen hatte, sondern es lange in meinen beiden Erinnerungsboxen aufbewahrte. Ob das Bild die vielen Umzüge nach und innerhalb der Niederlande, Spanien, Hamburg und Berlins überlebte, zweifle ich an. Gerade nachgezählt, ich bin seit jenem Job neun Mal umgezogen. Eigentlich gar nicht so oft. Dabei habe ich die Umzüge wegen Räumungen der besetzten Häuser allerdings nicht mitgezählt.
Das Aquarell fand ich jedenfalls nicht.
# Heute spielte auch wieder Hertha. Wir gewannen 5:0. Zwar gegen einen unterklassigen Gegner, aber wir haben bekanntermassen eine schlechte Bilanz bei unterklassigen Gegnern. Es ist das erste Spiel der Saison, das ich in voller Länge schauen kann. Ich bin emotional noch nicht ganz in der neuen Saison angekommen, ich merke, dass ich mir das Thema Hertha noch etwas auf Distanz halte. Ich glaube, es ist Selbstschutz, ich kann es aber nicht ganz ergründen, deswegen lasse ich mich vom Gefühl lenken und das Gefühl ist eben noch nicht da.
Was ist sonst noch passiert? Ah, wir haben Barbie geschaut. Ich mag ja diesen Hype. Das meine ich ganz unironisch. Wir gingen ins UCI Deluxe an der Mercedes Benz Arena, das ist das Kino mit den elektrisch verstellbaren, fetten Ledersitzen. Meine Frau war seit Corona nicht mehr in einem Kino. Früher gingen wir mindestens einmal pro Woche. Es fühlte sich an, wie ein Event. Wir kauften uns einen riesigen Karton Popcorn und eine Cola Zero.
Ich fand den Film okay. Ich dachte, er würde mir besser gefallen. Der latent politisch-feministische Unterton ist gut, aber er ist nicht ganz stimmig, den Vorwurf des pinkwashings kann ich nachvollziehen, wenn man Matell-Interessen jedoch einmal ausblendet, funktioniert die Message dennoch gut. Es setzt ein Frauenbild jenseits der klassischen Rolle. Auf dem Weg nach Hause reden wir über einige Details aus dem Film. Vor allem über das Slut-Shaming. Ich muss einmal meine Gedanken zu Slut-Shaming aufschreiben, ich laufe schon länger mit der Theorie herum, dass das Slut-Shaming der Grund allen Übels ist. Mindestens.
# Die Nachbarn von oben sind im Urlaub und fragten uns, ob wir in deren Abwesenheit die Blumen wässern. Machen wir natürlich. Die Wohnung liegt genau über uns, sie hat also die gleiche Voraussetzung im Grundriss. Es ist unnötig zu sagen, dass das Wässern der Pflanzen zur Nebensache wurde. Die Familie bestand früher aus 4 oder 5 Köpfen und sie wohnen seit sicherlich 30 Jahren dort, und wenn ich es richtig verstanden habe, wohnte sie bereits zu Mauerzeiten dort. Der Grundriss ist exakt der selbe, es ist erstaunlich, wie man eine Kopie unserer Wohnung anders bewohnen kann.
Deren Küche ist unser Arbeits- bzw Gästezimmer. Unser Wohnzimmer ist deren Ehezimmer, unsere Küche ist deren Wohnzimmer, das sie durch ein Kallax-Regal in zwei optische Bereiche aufgeteilt haben. Unser Badezimmer besteht bei denen aus zwei Zimmern. Alles ganz anders. Wir waren durchaus offen dafür, etwas aus deren Raumaufteilung zu übernehmen, aber es hat uns nichts wirklich gefallen. Wir schlafen lieber in den kleinen Räumen, dafür haben wir eine riesige Küche und ein riesiges Wohnzimmer. Beim Schlafen braucht man schliesslich nicht viel Raum. Das wäre mit Kindern allerdings nochmal anders.
Vor fast dreissig Jahren arbeitete ich eine Zeit lang als Torwächter in einem niederländischen Schloss. Ich weiss wirklich nicht mehr, wie ich an jene Stelle kam. Ich war Anfang zwanzig, hatte keine Ausbildung, kein Abi. Nebst Häuser zu besetzen und Kurzgeschichten zu schreiben, wusste ich nicht so recht, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Zuvor jobbte ich mehrere Monate in einer Tiefkühlzelle eines Grosshandelszentrums, aber davon rann mir ständig die Nase. Das konnte auf Dauer nicht gut für meine Gesundheit sein. Später trat ich eine Stelle als Käseschneider in einer Fabrik an. Ich schnitt 20Kg-Blöcke Fetakäse zu kleinen Würfeln, die ich dann mit Salzwasserlake in eine supermarktfertige Plastikdose legte, Datumsstempel aufklebte und ab damit auf die Europaletten. Wenn ich nicht Käse schnitt, dann füllte ich mittelgrosse Plastikdosen mit einer Zwiebelmarinade, die man im nächsten Verarbeitungsprozess mit Fetakäsestückchen ergänzte.
Abends ging ich in die Kneipen. Ab und zu nahm ich Speed. Schreiben war in diesem Zustand meist eher lähmend. Aber in Utrecht besetzten wir ständig Häuser. Ich war sehr gut darin, alte Türen aufzubrechen. Ansonsten war meine Existenz ziemlich inhaltlos. Mich für ein Studium oder eine Ausbildung aufzuraffen lag mir schlichtweg nicht, ich merkte aber auch, dass ich mit meinen Kurzgeschichten kein Geld verdienen würde. Klar könnte ich Glück haben, ein Buch zu schreiben, das sich millionenfach verkauft, aber ich wusste meine Chancen immer schon sehr gut einzuordnen. Alternativ hätte ich mich abschiessen können. Das taten in meinem Umfeld eben viele. Also weitersaufen, Chemikalien nehmen und ein bisschen seinen Gang gehen. Manche nahmen sich später das Leben oder warteten bis das Leben sich ihrer nahm. Aber dafür war ich immer zu gut gelaunt. Das klingt komisch, aber ich war halt immer gut drauf, auch wenn ich bis 4 Uhr morgens betrunken in der besetzten Kneipe kellnerte, fuhr ich trotzdem um sieben Uhr in die Fabrik und schnitt acht Stunden lang Käse.
Von den Jobs konnte ich aber einigermassen okay leben. Wesentlich besser als die anderen Menschen um mich herum, die entweder von der Sozialhilfe zogen oder studierten. Irgendwann setzte ich mir schliesslich in den Kopf, dass ich Dudelsack spielen wollte, also kaufte ich mir einen Dudelsack. Das bereitete mir ziemlich lange viel Freude und so weckte ich meine alte Leidenschaft für Burgen und Mittelalter wieder auf. Als Kind war ich nämlich ein ausgesprochener Burgenkenner und wusste alles über alpenländische Burgenanlagen und die dazugehörige Geschichte. Vor allem über die Periode ab etwa 1100 bis zur Renaissance. Daran knüpfte ich mit meinem Dudelsack einfach wieder an. Der Dudelsack, den ich mir anschaffte, war keine schottische Bagpipe, sondern ein mitteleuropäisches, besser gesagt, an die Tradition Flanderns orientiertes, mittelalterliches Instrument. Die Dudelsäcke, wie man sie auch von den Gemälden Pieter Bruegels kennt. Das waren die Instrumente der Troubadoure bzw der Wandermusiker. Diese klangen wesentlich weicher, wobei auch diese natürlich sehr laut tönten, die Melodiepfeife eines Dudelsacks ist schliesslich eine Schalmei mit einem harten Doppelrohrblatt, sowas kann man gar nicht leise spielen.
Das muss der Link gewesen sein, warum ich an den Job in dem Schloss geriet. Ansonsten fällt mir kein vernünftiger Grund ein, warum ich Ausschau nach Arbeit in einem Schloss gehalten hätte. Nach einem Jahr in der Käsefabrik schmiss man mich nämlich wieder raus. Zuerst hatte man den Teamleiter gefeuert, dann machte man mich zum Teamleiter und irgendwann feuerte man eben mich. Ein paar Wochen später war ich Torwächter im Kasteel de Haar, westlich von Utrecht.
Kasteel de Haar ist eine romantisierte neogotische Burganlage, die um 1900 herum auf eine mittelalterliche Ruine aufgebaut wurde. Eigentlich verachtete ich solche romantisierten Schlösser, ich akzeptierte nur richtige Wehrburgen, aber man gab mir den Posten als Torwächter und daraufhin konnte ich mit dem Schloss ganz gut leben.
Mein kleines Torhäuschen stand etwas abseits vom Rest des Schlosses. Es befand sich einen knappen halben Kilometer Fussweg bis zum zum Hauptgebäude. Mein Torhäuschen war das Eingangstor zu allem. Zu den Ställen, zum Park, zur Kirche und natürlich zur Schlossanlage. Im Torgebäude sass ich also den ganzen Tag lang alleine und wartete auf Besucher. Ich verkaufte Tickets für den Park oder ein Kombiticket für Schloss und Park. Für das Schloss alleine konnte man keine Tickets kaufen, das ging nur als Kombiticket mit dem Park. Aber ich versicherte den Besuchern, dass der Park sehr schön sei, eine 55 Hektar grosse, gut gepflegte Anlage. Der Park kostete 5 Gulden, das Kombiticket mit Schloss, kostete 12 Gulden. Ich akzeptierte keine Karten, nur Bargeld, allerdings waren wir an das Museumjaarkaart-System angeschlossen. Es gab viele Leute, die mit dieser nationalen Jahreskarte für Museen zu uns kamen. Die Anzahl der Jahrkarten musste ich auf Papier notieren und am Abend der Schlossverwalterin mitteilen.
Die Saison ging von März bis November. Von März bis Mai war eigentlich nichts los. Ich hatte daher viel Zeit an meinem Roman zu schreiben. Das war eine etwas wilde und phantastische Geschichte über eine Person (ICH), die einen dritten Weltkrieg auslöst. Dafür hatte ich mir für 150 Gulden einen Laptop angeschafft. Der Laptop war so günstig, weil damals gerade Windows 95 herausgekommen war und jegliche Hardware, auf die kein Windows lief, geriet in einen rasanten Wertverfall. Mein Laptop konnte nur Wordperfect. Aber genau das brauchte ich, ich wollte endlich Texte direkt korrigieren können. Zuvor mit der Schreibmaschine musste ich die Fehler auf Papier korrigieren und anschliessend neu tippen, manchmal mehrmals. Das war eine furchtbare Arbeit.
Mein kleines Torhäuschen hatte einen kleinen, runden Raum mit verglasten Schiessscharten. Wenn ich in der Mitte dieses kleinen Raumes sass, hatte ich eine ziemlich gute Rundumsicht, ich stellte dort also meinen Schreibtisch hin, an jener Stelle sah ich rechtzeitig Besucher kommen und konnte mich daraufhin in mein Türchen setzen, wo ich die Tickets verkaufte. Später fand ich es allerdings bequemer, mich in den dahinterliegenden Raum zu setzen. Das war ein grösserer Raum mit zwei grossen Fenstern links und rechts. Wenn ich am rechten Fenster sass, mit dem Blick zur Zugbrücke, hatte ich den perfekten Überblick auf ankommende Besucher. Von da aus sah ich sogar Autos vom Deich her kommen.
Das Torgebäude hatte auch ein Obergeschoss, das sich über eine sehr enge Wendeltreppe erreichen liess. Aber der Raum im Obergeschoss war leer und eher unspektakulär, ausserdem verfügte der Raum über weniger und kleinere Fenster, da oben fehlte mir schlicht die Übersicht. Später verwendete ich den Raum als Lager für die Kataloge, die ich ab Juni verkaufen sollte. Das waren kleine Hochglanzheftchen mit Fotos des Schlosses und begleitenden Texten, auf niederländisch, englisch und deutsch. Sie verkauften sich sehr gut. An meinem Türchen, an dem ich die Tickets verkaufte hing ein Bord, also eine verglaste Platte, auf der das Heftchen angepriesen wurde und jetzt wo ich an dieses Bord denke, fällt mir ein, dass ich auch Postkarten verkaufte, ich kann mich aber nicht mehr an die Motive und an die Preise erinnern. Ich weiss nur noch, dass ich morgens immer dieses Bord raushing und die Besucher immer danach fragten. Auch die Postkarten gingen gut weg, die machten aber immer Probleme mit dem Wechselgeld.
Mein sogenanntes Türchen an dem ich die Tickets verkaufte war die eigentliche Eingangstür zum Torhäuschen. Sie war in zwei Teile geteilt. Man konnte den oberen Teil öffnen, dann wurde der untere Teil wie eine kleine Verkaufsfläche. Das fand ich aber immer albern. Ich stand meistens als Ganzkörperperson in meiner Tür und plauderte mit den Leuten. Früh im Jahr oder auch später im Jahr schloss ich allerdings beide Teile der Tür, weil sich das Torhäuschen dann doch etwas auskühlte.
Nach einigen Wochen, die ich da arbeitete und mich ein bisschen wohl fühlte, begann ich Dudelsack zu spielen. Ich hatte das siebenköpfige Verwaltungsteam nicht darüber informiert. Ich weiss bis heute nicht, ob die das gut fanden. Bei gutem Wetter sass ich mit einem Hocker auf der Zugbrücke und trötete auf diesem lauten Ding. Die Besucher fanden das phantastisch und fotografierten mich. Die Gärtner fanden das lustig und erzählten es vermutlich den anderen in der Verwaltung, diese fuhren dann mit dem Auto vor und taten, als würden sie ins Dorf fahren, grüssten, grinsten und kamen zehn Minuten später wieder zurück durch das Tor hinein. Das hatte ich alles durchschaut. Man liess mich aber walten.
Zu meinen Aufgaben gehörte es auch, den Schlagbaum zu bedienen. Durch dieses Tor musste faktisch der gesamte Schlossverkehr hindurch. Das betraf das Verwaltungsteam, die beiden Gärtner, die Frewilligen Schlossführer und die Bewohner der Stallungen. Gleich hinter dem Tor links gab es ehemalige Stallungen, in denen drei Familien wohnten. Eine Familie bestand aus einer älteren Frau, die nie mit mir sprach und einem Mann, der ab und zu vorbeikam und lauter zynische Dinge von sich gab. Seine beiden Söhne waren Gabber-Fans. Gabber war damals sehr populär, eine in Rotterdam entstandene Hardcore Techno Variante. Gabberfans erkannte man vor allem daran, dass sie aussahen wie Naziskinheads, also blasse Typen mit Glatze und Bomberjacke. Die beiden Jungs waren Gabbers wie aus dem Bilderbuch, zudem sahen sie sich ähnlich, beide bleich, pickelig, kahlgeschoren und mit Bomberjacke. Sie grüssten mich immer, hatten aber sonst nie viel zu erzählen.
Auch gab es ein älteres, kinderloses Ehepaar. Der Mann wirkte auf mich immer wie ein Lehrer und die Frau brachte mir manchmal Kuchen.
Und dann gab es noch die Hippiefamilie mit diesem wunderschönen Mädchen. Die Mutter war eine sehr freundliche Frau mit wallenden Batikkleidern und offenem Haar. Sie war immer sehr freundlich zu mir und wir plauderten oft. Sie war mit einem mürrischen Mann aus Sri Lanka zusammen und hatte zwei Töchter. Eine der Töchter war etwa achtzehn Jahre alt und die kleine Tochter war im Vorschulalter. Die Achtzehnjährige war unfassbar schön. Sie kam immer auf einem weissen Fahrrad über den Deich gefahren. Ihr Hautfarbe war dunkel, sie hatte Haare so schwarz wie Teer, Augen so schwarz wie die Nacht. Sie trug immer nur schwarze Kleidung, meist weite Röcke und lange Schals, die sich sich um den Oberkörper wickelte. Meist trug sie Stulpen aus schwarzer Spitze, den Lidstrich zog sie oft dick und fast bis zu den Schläfen. Ich wusste immer, wann sie von der Schule nach Hause kam. Ich stelle mich immer in den Torbogen und tat beschäftigt, damit ich sie grüssen konnte. Sie grüsste immer freundlich zurück.
Dann zeichnete ich sie. Ich kann gar nicht schlecht zeichnen, aber das ist kein Hobby, das ich gut gepflegt habe, es gelingt mir aber immer noch eine halbwegs gescheite Zeichnungen von Dingen anzufertigen. Ich zeichnete das Mädchen auf ihrem Fahrrad, wie sie mit ihrer wallenden fledermaus-artigen Erscheinung über die Hebebrücke fuhr. Die Zeichnung geriet etwas comichaft, aber sie war dennoch gut gelungen, wie ich fand. Darunter schrieb ich: Die Prinzessin auf dem weissen Fahrrad. Als sie einmal von der Schule nach Hause kam, wartete ich auf sie im Torbogen und überreichte ihr das Bild. Ich war sehr aufgeregt. Sie vermutlich auch. Sie bedankte sich hastig und fuhr weiter um die Ecke zu den Stallungen.
Als sie am nächsten Tag von der Schule nach Hause kam, wartete ich nicht auf sie im Torbogen. Ich wusste jetzt nicht so recht, wie ich mich zu verhalten hatte. Als ich sie über den Deich heranfahren sah, blieb ich in meinem Zimmer sitzen und tat beschäftigt. Ich sah sie über die Brücke kommen und dann hörte ich sie im Torbogen bremsen. Sie rief etwas, das ich nicht verstand zu mir herein und fuhr weiter. Ich stand auf und lief zu meiner halb geöffneten Tür. Dort hatte sie ein Bild abgelegt. Ein mit Aquarell gemalenes Bild das ein Männergesicht darstellte. Kein Text, aber sehr kunstfertig, etwas düster und violett.
Mehr geschah zwischen uns nicht. Ich traute mich nie, sie anzusprechen.
Aber ich hatte einen grossen Mund als der Rattenfänger kam. Obwohl das ganze Gelände von Wasser umgeben und von Wasserkanälen durchzogen war, hatten wir im Schloss merkwürdigerweise selten Probleme mit Ratten. Aber einmal war etwas in einem Seitenflügel los. Ich weiss nicht genau, was los war, bezüglich der Angelegenheiten im Schloss liess man mich ziemlich aussen vor. Ich war nur dieser junge, etwas verrückte Torwächter mit dem Dudelsack, der weitab vom Schloss in seinem Torgebäude sass.
Jedenfalls Rattenalarm. Ich war ja für den Schlagbaum zuständig. Der Schlagbaum war kurz, er versperrte nur optisch den Weg, man konnte mit dem Auto daran vorbeifahren, aber das reichte aus um fremde Autos davon abzuhalten auf das Gelände zu fahren. Für Besucher gab es einen Parkplatz gegenüber meines Torgebäudes, der auch gut ausgeschildert war. Ich konnte den Schlagbaum allerdings mit einem einsteckbaren Aufsatz verlängern, damit kamen dann nur noch Fahrräder durch das Tor. Den Aufsatz verwendete ich aber nur selten, damit ich nicht jedes Mal aufstehen musste, wenn die Gärtner oder die Menschen aus den Stallungen mit dem Auto durch das Tor fuhren. Da gab es nur einen Gruss durch das Fenster als sie über die Hebebrücke fuhren und sie fuhren um den verkürzten Schlagbaum herum.
Aber dann kam der Rattenfänger. Ich kannte den nicht und ich wurde auch nicht darüber informiert, dass er kommen würde. Normalerweise informierte man mich über ausserplanmässige Besuche per Funk oder per Telefon. Diesmal hatte man es vergessen. Und dann kam ein riesiges Auto über die Hebebrücke gefahren. Ich empfand das sofort als Übergriff, rannte hinaus und stellte mich dem Geländewagen breitbeinig in den Weg. Ich konnte durch die Windschutzscheibe die Umrisse eines Mannes erkennen, er trug einen Cowboyhut und liess den Motor aufheulen. Auf der Höhe meiner Brust, auf der Motorhaube des Geländewagens, lag eine nasse, tote Ratte. In jenem Moment spürte ich tausende Nervenenden in meinen Extremitäten. Ich fühlte mich wie eine Nebenfigur in einem schlechten Horrorfilm, die typischen Nebenfiguren die gleich sterben. Also schrie ich einfach drauflos, dass er mit seiner Dreckskarre sofort umdrehen müsse. Ich glaube, ich schimpfte noch eine ganze Weile. Inzwischen öffnete sich die Autotür und daraus stieg ein riesiger, grinsender Mann mit Zigarette und Cowboyhut aus. Er tat gemächlich. Er redete beruhigend auf mich ein. So wie man beruhigend auf ein wildgewordenes Pferd einredet. Er sagte, er sei der Rattenfänger, man habe ihn gerufen. Die Geschichte hat keine Pointe. Aber es sprach sich rum, dass ich etwas panisch geworden war.
Im September brach eine besondere Zeit an. Das Schloss und der Park sind im ganzen September für Besucher geschlossen. Das ist der Monat in dem der Besitzer des Schlosses darin wohnt, ein Baron aus Frankreich, ein Enkel der Helene de Rothschild, der ursprünglich das Schloss gehörte. Der Baron hält in jenem Monat Privatfeiern mit Menschen aus Politik und Wirtschaft. Als linksradikaler Hausbesetzer verachtete ich diese Zusammenkünfte natürlich. Aber die waren nur im September da, ich konnte das ganz pragmantisch ausblenden.
Eine Woche vor der Ankunft der Baronfamilie verschloss ich die Tore und ich wurde im Schloss gebraucht. Ich sollte helfen, das Silberbesteck zu polieren. Meine Eltern sind Rettungsfahrer und Bauernkinder, ich wusste nicht einmal, dass man Silberbesteck polieren musste. Es würde Festessen mit vielen Gästen geben, es wurden immer neue Kisten mit Silberbesteck angeschleppt, es fühlte sich an, als würden wir mehrere Tonnen Silber in Akkordarbeit polieren.
Als die Familie angekommen war, bestand meine Aufgabe vor allem darin, die Tore geschlossen zu halten und unangemeldete Besucher sowie Presse abzuwimmeln. Wenn die Baroness oder eine ihrer Töchter mit dem Fahrrad das Gelände verliessen oder wieder zurückkamen (das taten sie ständig), musste ich die schweren Tore öffnen und schliessen. Auch für alle Autofahrer, also das Personal und die Bewohner der Stallungen. Ich hasste das. Der Hippiefamilie war das unangenehm, dass ich jedes Mal aus meinem Türmchen gesprungen kam und ihnen das Tor öffnete. Für die Mutter und den Töchtern war das Tor aber schlichtweg zu schwer.
Ich bekam jeden Tag eine Liste der Besucher mit der geschätzten Ankunftszeit. Ab fünf Uhr abends ging es meistens los. Bei Ankunft an meinem Tor nannte mir der Fahrer den Namen der Insassen. Dann liess ich sie durchfahren. Die Besucher grüssten nie. Auch nicht jene Besucher die im Schloss nächtigten, wenn sie tagsüber mit dem Fahrrad durch das Tor fuhren. Nur die Baroness und ihre Töchter. Die grüssten immer. Und auch der Baron.
Wenn die Gäste aus England und Frankreich zu Besuch wareb, musste ich bis spät in die Nacht arbeiten um für jeden Besucher das Tor zu öffnen. Es wurde immer spät. Der erste Abschnitt meiner Heimfahrt führte durch den Wald. Mein Fahrrad hatte kein Licht, also fuhr ich mit einer Taschenlampe bewaffnet bis ins nächste Dorf und dann die etwa 11 Kilometer am beleuchteten Bahngleis entlang bis zurück in die Utrechter Innenstadt.
Ich hasste diese Zeit.
Allerdings hatte jene Zeit auch etwas Gutes. Der Baron reiste nämlich mit seinem eigenen Küchenteam an. Das Küchenteam bestand aus einem Starkoch (Namen vergessen) und 5 jungen Männern, die richtig gutes Essen zubereiteten. Und jeden Abend kam einer der jungen Köche auf dem Fahrrad den halben Kilometer zu dem Torgebäude gefahren um mir jungem Torwächter ein Abendmahl, bestehend aus Vorspeise, Hauptspeise und einem Dessert zu bringen.
Diese Buttermöhren. Ich musste beim Essen die Augen schliessen, so gut waren die.
Aber ich muss jetzt langsam abschliessen. Es ist bereits spät. Eigentlich wollte ich noch von diesem Liebespaar erzählen. Ich glaube sie waren beide mit zwei anderen Menschen verheiratet und trafen sich heimlich im Park des Schlosses. Sie kamen sicherlich zwei Mal die Woche. Sie kamen immer getrennt, mit ihren eigenen Autos. Beide wirkten etwas aristokratisch, konservativ gekleidet, aber freundlich. Die Frau trug immer eine grosse Sonnenbrille und stand etwas abseits, als der Mann die zwei Tickets erwarb. Nach einem langen Spaziergang kehrten sie zu ihren Autos zurück und fuhren wieder weg.
Und da gab es noch eine Versteigerung des Auktionshauses Christie’s. Der Baron liess hundert seiner Kunstwerke versteigern um eine Renovierung an den Fundamenten zu finanzieren. Das war für mich als Torwächter eine schlimme Zeit. Allerdings stellte man mir einen pensionierten Ex-Polizisten zur Seite um mit dem Besucheransturm fertig zu werden. Der Mann und ich wurden nie sehr miteinander warm. Aber ich weiss auch nicht mehr genau warum.
Während ich diese Zeilen aufschreibe, googelte ich auch verschiedene, vergessene Fakten, damit ich keinen Scheiss erzähle. Ich stelle fest, dass der Baron mittlerweile verstorben ist und das Schloss in eine Stiftung übergegangen ist. Mein Torgebäude ist jetzt ein buchbarer Meetingraum für 2-8 Personen geworden und das grosse Fenster hinter dem ich sass, gibt es nicht mehr. Es wurde schlichtweg zugemauert. Siehe Foto. Auch die Stallungen sind keine Wohnungen mehr, sondern Meetingräume. Ich habe keine Ahnung, was aus den Leuten geworden ist und ob die Wohnungen überhaupt gut waren.
Auch habe ich ergoogelt, dass es sich bei meinem Torgebäude um ein Phantasiegebäude aus dem 19. Jahrhundert handelt. Dass es dieses Tor bei der ursprünglichen, mittelaterlichen Burganlage gar nicht gab. Nunja. Auch eine Erkenntis.
Im November endete die Saison und damit auch mein Vertrag. Im Jahr darauf würde man das gesamte Konzept mit Ticketverkauf am Tor und Parkplatz ändern und so gab es keine weitere Betätigung mehr für mich. Fand ich schade. Danach heuerte ich auf einem Recyclinghof an, bei dem ich ganze zwei Jahre arbeitete, bevor ich anfing mit Computern zu arbeiten. Aber das ist eine andere Geschichte.
Eigentlich wollte ich nur von den phantastischen Buttermöhren erzählen, aber dann kamen alle diese Erinnerungen wieder hoch.