[Mo, 1.7.2024 – Hamburg]

Heute machte ich mich also auf den Weg nach Hamburg. Ich werde morgen meine Schwiegereltern vom Flughafen abholen. Das klingt jetzt etwas hanebüchen, aber daran sieht man auch, wie schlecht die deutsche Hauptstadt an das Flugnetz angeschlossen ist. Die Schwiegereltern haben einen fixen Termin in Berlin und um den Aufenthalt einigermassen kurz zu halten und auch preislich nicht alle Budgets zu sprengen, gab es schlichtweg keine guten Optionen. Also erweiterte ich die Suche auf umliegende Städte. Der Hamburger Flughafen entpuppte sich für diesen Besuch als Alternative, also bot ich schlichtweg an, nach Hamburg zu fahren. In Hamburg bin ich immer gerne, ich würde am Vorabend anreisen, eine Freundin treffen, in einem schönen Hotelbett schlafen und lange am Frühstücksbuffet sitzen, wo ich die Nachrichten des Morgens lesen werde.

Am frühen Abend traf ich Amelie im Kraweel. Sie besucht jetzt einen Apnoe Tauchkurs und hatte ihre Ausrüstung dabei. Sie erzählte mir von der Magie des Luftanhaltens. Ich kann ihren Schilderungen gut folgen und die Begeisterung nachvollziehen. Nicht atmen zu können, löst bei mir allerdings eher Beklemmungen aus. Ich weiss aber auch, dass mir ziemlich alles Spass macht, wenn ich mich wirklich darauf einlasse.

Eigentlich kenne ich viele Menschen in Hamburg, schliesslich wohnte ich vier Jahre lang in dieser Stadt. Die meisten sind natürlich Freunde meiner Exfreundin, die ich aus ebenjenen Gründen nicht mehr treffe. Die Freunde aus Blogzeiten sind mittlerweile eher Bekannte geworden und keine richtigen Freunde mehr. Es ist meine Schuld, dass ich diese Freundschaften nicht pflegte. Als ich Hamburg vor 16 Jahren verliess, ging ich völlig in meine neue Heimat Berlin auf und schaute wenig zurück. Es ist nicht das erste Mal, dass mir das passiert. Das ging mit meinem Weggang aus Südtirol, Niederlande und Madrid genau so. Ein Umzug löst bei mir eine sehr starke Euphorie oder auch Identifikation mit der neuen Heimat aus. Allerdings fällt es mir generell sehr schwer, Freundschaften über eine Distanz aufrecht zu erhalten. Irgendwann ist so viel Zeit vergangen, dass ich mich auch einfach nicht mehr traue, die Leute anzuschreiben. Erst recht nicht kurzfristig mit einem „Hallo, ich bin heute zufällig in Hamburg, hast du Lust auf einen Drink“.
Mit Amelie geht das allerdings, mit ihr war die Freundschaft immer sehr geradlinig und auf eine unkomplizierte Weise echt.
Was natürlich nicht bedeutet, dass die anderen Freundschaften nicht echt gewesen wären, aber mir fällt gerade keine bessere Beschreibung ein.

Später begleitete ich sie zu ihrem Tauchkurs in der Schwimmhalle am Millerntorstadion. Dann machte ich mich auf den Rückweg ins Hotel, vielleicht würde ich noch ein Bierchen im Brewdog an der Reeperbahn gönnen, einfach weil ich Lust auf ein Hazy Jane hatte und ich neugierig auf die Einrichtung war, ob dieser Bretterlook vom Frankfurter Tor auch in einem anderen Raum funktioniert.
Auf dem Rückweg ins Hotel lief ich am Heiligengeistfeld vorbei. Dort hat man die Fanmeile aufgebaut. Es liefen gerade die letzten Minuten von Frankreich gegen Belgien. Ich hatte nichts mehr vor, eigentlich wollte ich mir keine Spiele dieses Turniers ansehen, aber dann zog mich diese Fanmeile irgendwie in sich hinein. Ich betrat das riesige Gelände und wollte mir die volle Dröhnung geben. Die riesigen Boxen, die riesigen Leinwände. Dodi in Übergrösse im belgischen Trikot.
Die Meile war aber fast leer. Nur versprenkelte Menschen, die es mit Belgien oder Frankreich hielten.
Nach dem Spiel standen Klaus und Klaus live auf der Bühne und sangen „An der Nordseeküste“. Ein Ohrwurm aus meiner Kindheit. Ich wusste gar nicht, dass die beiden noch lebten.
Während ich den beiden lauschte, erinnerte ich mich an deren Performance im deutschen Fernsehen der Achtzigerjahre. Wie ich als Kind den beiden lustigen Matrosen zuhörte. Die beiden haben sicherlich meine positiven Gefühle zur Nordsee und Nordeuropa beeinflusst.

Ein kühler Sturm zog auf. Gestern war Berlin noch so warm, dass ich schlecht schlief und heute wehte ein kalter Wind, für den ich zu leicht gekleidet war. Also ging ich ins Brewdog an der Reeperbahn und bestellte mir ein Hazy Jane, mit dem ich eine Hälfte von Portugal gegen Slowenien schaute.

[So, 30.6.2024 – Sonntag und so]

Diese Nächte, in denen es die 20 Grad nicht unterschreitet, schlafe ich immer schlecht. Und diese Hitze tagsüber lähmt mich. Heute wurde es immerhin nicht ganz so warm wie angekündigt und gegen vier Uhr zog ein seltsames Hexenwetter auf, das die ganze Stadt ein wenig herunterkühlte. Fünfundzwanzig Grad ist super und nachts wird es die 20 Grad wieder unterschreiten.

Die Hündin wollte heute aber nicht raus. Das war schon am Morgen so. Sie sträubte sich bereits auf der Treppe und vor der Tür verweigerte sie sich vehement. Dabei hob sie ihre rechte Pfote an, als wäre sie verletzt. Deswegen machte ich die Leine los und ging demonstrativ ohne sie weiter in Richtung Park. Nach etwa zwanzig Metern folgte sie mir schliesslich, dabei humpelte sie leicht. Irgendwas schien nicht zu stimmen. Dann machte sie immerhin Pipi, aber sie signalisierte mir, dass sie nicht mehr möchte. Wenn die Blase leer ist, habe ich ein Nachsehen, also kehrten wir um.

Zuhause überprüften meine Frau und ich ihre rechte Pfote. Allerdings konnten wir nichts Verdächtiges erkennen, dafür schnitten wir die Pfoten von Fell frei, vielleicht ist das einfach nur unangenehm. Beim Mittagsspaziergang das gleiche Bild: Sie wollte nicht. Und abends wieder. Obwohl sie sich dann immerhin für eine Runde um den Block überreden liess.

Was weiss ich. Morgen sind wir vielleicht schlauer.

Heute war ein sehr fauler Tag. Eigentlich wollten wir an diesem Wochenende etwas unternehmen. Wir hatten uns in den letzten drei Wochen wenig gesehen und kaum Zeit füreinander gehabt. Übermorgen kommen bereits ihre Eltern und am Wochenende darauf fährt sie nach Schweden.
Wir unternahmen aber nichts. Wir hingen nur das ganze Wochenende zu Hause rum. Das ist aber auch schön.

Am Abend fand ich heraus, dass an diesem Wochenende das Wettlesen um den Bachmannpreis in Klagenfurt stattfand. Es hat sich durch die Reise völlig meiner Wahrnehmung entzogen.

Ab morgen muss ich mich jedoch wieder aufraffen, sonst werde ich noch träger. Morgen werde ich ausserdem nach Hamburg fahren, schon deswegen muss ich mich aufraffen. Vielleicht lasse ich mir unterwegs ein paar Texte aus Klagenfurt vorlesen.

[so war das mit dem Auto]

Vor der Reise entschieden wir uns dafür, das Auto meines Vaters zu nutzen. Es sei noch neu, so sagte er, es täte dem Auto ganz gut, wenn es ein paar Kilometer abspulen könne. Mein Auto ist wesentlich älter, es hat aber auch wenige Kilometer, was vor allem damit zu tun hat, dass ich nicht so viel damit fahre. Ich habe aber wenig Interesse daran, Kilometer auf die Uhr zu bekommen. Das Auto hatte ich mir vor zwei Jahren hauptsächlich aus zwei Gründen gekauft: Ich wollte nicht mehr schalten und ich wollte einen Tempomaten. Das sind für mich die zwei wichtigsten Kriterien bei einem Auto. Nun stellte sich heraus, dass das Auto meines Vaters genau diese zwei Bedingungen nicht erfüllte: Es hatte keinen Tempomaten und kam mit einer Gangschaltung.

Es gibt wenige Sachen, die ich so schwachsinnig finde wie zu schalten. Ich will mich nicht mit solchen Routinen abgeben müssen, schalten kann auch die Maschine, das muss ich nicht selber machen, ich will mich aufs Steuern beschränken. Mein Vater hingegen bezeichnet Autos mit Automatikgetriebe als Spielzeug. Ihm ist es wichtig, zu jeder Zeit die Kontrolle über Motor und Fahrgestell zu haben. Ähnlich verhält es sich bei der Geschwindigkeit. Wenn irgendwo 80 km/h steht, dann stelle ich 80 ein und kümmere mich nicht weiter um die Geschwindigkeit, ausser es kommt eine enge Kurve oder es ändert sich die Geschwindigkeitsbegrenzung. Mein Vater hingegen weiss, wie schnell 80 km/h sind und drückt entsprechend auf das Pedal.

Wenn ich mit dem Fuss fahre, passe ich hingehen meine Geschwindigkeit meist den anderen Autos an oder ich schalte auf mein Gefühl um. So geschah es auch, dass ich auf den leeren norwegischen Hochplateaus meist mit 140 oder 150 Sachen dahinrauschte. Das passierte mehr oder weniger überall. Ich fuhr eigentlich überall mindestens 100, meine Gefühle liessen das zu. Natürlich ist das nicht gut, aber wenn ich den Tempomaten verwende, kann ich die Gefühle aussen vor lassen und fahre die vorgegebene Geschwindigkeit. Mir sind Emotionen ohnehin zuwider.

Irgendwann wird das rechte Gaspedal-Bein auch schlichtweg taub. Es verharrt immer in der gleichen Position und die Wade verschmilzt mit dem Plastik der Mittelsäule. Wir fuhren gemeinsam 6000 Kilometer, davon lehnte ich mindestens 3000 Kilometer lang mit meiner rechten Wade am Plastik der Mittelsäule an. Ich möchte wissen, ob männliche Autofahrerinnen an dieser Stelle überhaupt noch Beinhaare haben.

Mein Fahrverhalten führte öfter zu Diskussionen. Weil ich Schalten so geisttötend finde, verwende ich eigentlich nur die Gänge 1, 2 und 5. Ich starte mit dem ersten Gang, dann nehme ich den zweiten Gang, um ein bisschen Speed zu kriegen und schliesslich lasse ich das Auto in den fünften Gang einrollen.
Weil ich Schalten aber nicht mehr gewöhnt bin, würgte ich das Auto regelmässig ab. Vor allem an stark befahrenen Kreuzungen sah das nicht immer elegant aus. Das Gefühl für den Schleifpunkt ist mir etwas abhandengekommen.

Entsprechend erleichtert war ich heute, als ich nach 3000 Kilometern Kupplung in mein eigenes Auto steigen konnte, um einen grossen Einkauf zu erledigen. Ich merkte jedoch ziemlich schnell, dass ich verdächtig oft zum Schaltknüppel griff. Es sind immer die Automatismen. Und nur 100 Meter weiter, bei einem Zebrastreifen passierte es dann: Ich wollte mit voller Wucht auf die Kupplung drücken. Weil es bei einem Automatikgetriebe an jener Stelle aber nur eine Bremse gibt, legte ich mitten auf der Strasse eine äusserst harte Vollbremsung hin. Das Auto hinter mir hatte rechtzeitig reagiert, es wäre aber fast in mir aufgefahren.

Es ist das erste, was man bei einem Automatikgetriebe gesagt bekommt: Das linke Bein ist ab sofort taub. Nur das rechte arbeitet.

[Fr, 28.6.2024 – Nordkapreise Ende, und die letzten Tage]

Sobald wir in Berlin ankamen, waren wir beide kaputt. Da wir um 5 Uhr morgens starteten, kamen wir bereits um halb sieben Uhr abends an. Meine Frau hatte uns Pasta e Ceci gemacht. Nach dem ersten Teller setzte das postprandiale Koma ein und wir fielen ins Bett.

Berlin empfing uns mit 32 Grad. Wie sehr ich das hasste. Bereits in Schweden stieg die Temperatur stark an. In Östersund zeigte die Wetter-App 27 Grad an. Meine Schwester, die sich gerade in Sardinien am Strand befindet, berichtete, sie hätten dort nur 26 Grad.

Mein Vater wollte einen Tag Pause einlegen und in Berlin bleiben. Deswegen dachten wir, am Folgetag ein bisschen durch die Stadt zu spazieren, Museumsinsel besuchen, Reichstag etc., aber schon am Vormittag entschuldigte er sich und zog es vor, noch einmal zurück ins Bett zu gehen. Auch am Nachmittag zwei Mal. Ich nahm das dankend an, ich war zu kaputt für touristisches Programm, aber ich hätte es ihm zuliebe natürlich durchgezogen. Zwar konnte ich nicht schlafen, aber zumindest konnte ich auf dem Sofa rumdösen. Zehn Tage Autofahrt. Ich wusste nicht, wie anstrengend das ist. Auch wenn die Reise gut war und sehr speziell, will ich nie wieder so viel Zeit in einem Auto verbringen. Sollte ich in Zukunft einmal eine ähnliche Strecke zurücklegen, dann nur mit drei Wochen Urlaub und langen Aufenthalten an mehreren Orten.

Ich hätte gerne ein paar Tage mehr in Alta und Umgebung verbracht, sowie in Umeå und Luleå. Auch Östersund. Aber Östersund ist immerhin erreichbarer. Und natürlich fehlt mir jetzt Hammerfest, aber damals war ich einfach schon mental mit der Reise durch.

Über den letzten Reisetag gibt es nicht viel zu berichten. Es war vor allem ein dreizehnstündiger Marathon. Auf diesem letzten Abschnitt erzählte er mir viel über die Vergangenheit. Ich wollte ganz spezifische Dinge wissen, vor allem über meine Zeit als Kind und über seinen beruflichen Werdegang. Da kamen erstaunliche Dinge zum Vorschein, wovon ich einige sicherlich in den nächsten Wochen aufschreiben werde.

Unserer Beziehung hat die Reise möglicherweise gutgetan, auch wenn sich im Alltag oder im direkten Umgang miteinander vermutlich nichts ändern wird. Aber wir haben jetzt dieses gemeinsame Erlebnis, an das wir noch lange denken werden. Ich glaube, wir haben in diesen zehn Tagen mehr Zeit miteinander verbracht als in den 49 Jahren davor.
Mein Vater wirkt oft wie eine groteske Version von mir. Alle meine schlechten Eigenschaften kommen in ihm vor, aber in einer verstärkten Form. Auch einige meiner guten Eigenschaften, diesen machen ihn wiederum sehr sympathisch.

Meine Frau wirft mir manchmal mangelndes Problembewusstsein vor. Das, was sie damit meint, nenne ich hingegen Optimismus. In den letzten zehn Tagen mit meinem Vater dachte ich oft: Dieser Mann hat ein krasses mangelndes Problembewusstsein. Wenn ich ihn in den Situationen darauf ansprach, sagt er, ich solle nicht immer so pessimistisch sein, er sei Optimist.

Was ich an der Reise mochte, ist, wie er mit der Hündin umging. Wir kommen aus einer tierfremden Familie. Wir hatten keine Haustiere, erst recht keine Hunde. Aber er liebte meine Hündin, tat ständig etwas mit ihr. Er wurde allerdings nicht müde zu sagen, dass er nie einen Hund haben möchte.

Was noch mehr: Skandinavien ist EM-freie Zone. Das war mir vorher gar nicht bewusst. Die einzige Berührung mit der EM war in Jokkmokk. Als wir die Unterkunft betraten, sass ein älteres Ehepaar im Aufenthaltsraum. Ich blieb kurz stehen, um Paarung und Spielstand zu checken. Es spielten Dänemark gegen England und es stand 1:1. Ich wechselte ein paar Sätze mit dem Paar. Die beiden waren Schweden und hielten zu Dänemark.

Mein Vater ist mittlerweile wieder zurück in Südtirol. Er fotografierte den Kilometerstand, das Display zeigte 7691 Kilometer. Wenn man die Strecke nach Berlin rausrechnet, dann bleiben für mich 6000 Kilometer übrig.
Wir telefonierten kurz. Es war 19Uhr. Mein Vater wollte wissen, ob die Hündin schon gegessen hatte. Im Ernst. Er wollte wissen, ob sie schon gegessen hatte. Immerhin war es 19Uhr. Er weiss, wann sie zu essen bekommt. Das rührte mich sehr.

Ich bin immer noch müde.

[Di, 25.6.2024 – Nordkapreise Tag 9. Östersund, Dalarna, Mariestad]

Die Nacht in Östersund war natürlich immer noch keine echte Nacht, sondern eine helle Dämmerung.

Heute fuhren wir wieder gegen 10 Uhr los. Das Tagesziel fanden wir im Laufe der Fahrt. Wir hatten jetzt ja eine Stunde gewonnen, dann konnten wir ja gleich auch das nächste Ziel um eine Stunde näher an Berlin verlegen. Nach langem Suchen fand ich endlich eine Stuga, also ein schwedisches Holzhäuschen mit zwei Schlafzimmern und einer Dusche für 80 Euro die Nacht in der Nähe von Mariestad. Von dort aus sind es noch einmal 12 Stunden nach Berlin, die wir diesmal durchfahren wollen. Das ist weniger schlimm, wie es sich anhört, da wir ja die Strecke auch zwei Fähren enthält.

Die Zeit der Rentiere war auf der heutigen Strecke vorbei. Südlich von Östersund verändert sich die Landschaft merklich. Es wird kontinentaleuropäischer. Die Wälder wieder dichter, die Siedlungen wieder grösser. In den letzten Tagen sind wir durch Gegenden gefahren, wo manchmal eine Stunde lang kein einziges Haus stand. Oft waren wir die einzigen auf der Strasse. Das begann sich ab Jokkmokk abwärts irgendwann zu ändern. In Östersund war die Zivilisation wieder in vollem Umfang da.

Weiter südlich begann Dalarna, diese hügelige Gegend, aus der die roten Holzpferde kommen. Die Rückfahrt hatte ich aber eher als Durchfahrtstrecke geplant, wir würden acht Stunden fahren, da gab es nicht viel Gelegenheit für einen Ausflug oder einer längeren Pause. Heute redeten mein Vater und ich sehr viel. Darüber, wie das damals vor vierzig Jahren alles so ging. Wie es dazu kam, dass unsere Familie ins Gadertal zog, warum er als Pommesverkäufer plötzlich eine Rettungsstation aufbauen musste. Undsoweiter.

Ausserdem rief uns wieder Onkel Konrad an, der uns mitteilte, dass Onkel Seppl in der Nacht verstorben sei. Tante Zita hatte neben ihm gelegen und es lange nicht bemerkt. Daraufhin telefonierten wir mit der ganzen Verwandtschaft. Das ging sicherlich zwei Stunden. Die Gespräche gingen über die Freisprechanlage. Die Nachricht des Todes kam aber nicht überraschend. Onkel Seppl wurde 91 Jahre alt und war in den letzten Monaten nicht mehr wirklich fit. Vor etwa zwei Wochen hatte er aufgehört zu essen.

Onkel Seppl war Kirchenmessner. Also der, der sich um alles kümmerte. Der, der das Weihwasser nachfüllte, derjenige, der die Gerätschaften wartete, und auch derjenige, der die Glocken läutete. Nun ergab es sich, dass der Glockenstuhl gerade saniert wird und alle sieben Kirchenglocken heruntergenommen wurden. Es sei ein seltsames Gefühl, dass die Glocken nicht mehr alle Viertelstunde läuteten. Es gibt die Glocke, die die Viertel angibt, dann die etwas wärmere Glocke, die die Stunden schlägt. Dann gibt es noch andere Glocken, von denen ich nicht weiss, was sie genau machen, ich was nur, dass sie eine Viertelstunde vor der Sonntagsmesse alle zusammen läuten. Das nennt man das Zusammenläuten. Spätestens dann muss man sich schnell in Richtung Kirche hasten. Ich habe jede einzelne dieser Glocken gehasst. Wir wohnten in der Nähe der Kirche.

Es gab allerdings noch eine Glocke, deren Existenz ich kenne. Und die ist vielleicht die Ausnahme. Das ist die Totenglocke. Die Totenglocke ist die kleinste der sieben Glocken. Und die läutet, wenn jemand stirbt. Nun ergab es sich, dass gerade beim Tod des Messners der Glockenstuhl saniert wird und die kleine Totenglocke nicht geläutet wird. Das sagte fast jeder am Telefon: Gerade wenn der Seppl stirbt, kann die Totenglocke nicht läuten.

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Zu mehr Inhalt reicht der heutige Eintrag nicht. Morgen gehen wir die lange Rückfahrt nach Berlin an. Ich habe den Wecker auf 4:30 gestellt. Es wird Zeit, ins Bett zu gehen.

Ich habe übrigens zu allen Einträgen der Reise die Strecke als Screenshot nachträglich hinzugefügt. Fürs Protokoll.

[Mo, 24.6.2024 – Nordkapreise Tag 8. Gällivare, Süden, Östersund]

Ich muss meine negative Meinung zu Gällivare revidieren. Auf Wunsch der Rezeptionistin unserer kleinen Pension, in der wir diese Nacht schliefen. Sie war eine gut gelaunte, schwer tätowierte, kleine, etwas dicke Frau. Wir kamen schnell ins Gespräch und unterhielten uns über dies und das auf Englisch. Da ihr Akzent aber nicht skandinavisch klang, fragte ich sie, ob sie von hier sei, was sie verneinte, sie käme aus Italien und weil ich aus Südtirol kam, wechselten wir zu italienisch.

Ihre Geschichte: sie ist nahe Bari in Puglia geboren, ihr Vater ist Italiener und die Mutter Argentinierin. Als sie sechs Jahre alt war, zog die Familie nach Argentinien. Dort lebte sie 12 Jahre. Danach zog die Familie zurück nach Puglia. In Bari und Umgebung schlug sie sich jahrelang mit Hoteljobs herum, bei denen sie 12 Stunden pro Tag arbeiten musste und sich nie Geld beiseitelegen konnte. Vor zwei Jahren lernte sie über Instagram einen Mann aus Nordschweden kennen, ein Jahr später zog sie zu ihm und macht jetzt den gleichen Job nur ohne Überstunden und dafür mehr Geld. Sie kann jetzt sogar sparen.

Ich wollte wissen, wie sie mit dem Wetter klarkäme. Das sei nicht schlimm, sagte sie. Sie möge das. Und im Sommer ginge sie drei Wochen nach Puglia, um richtig Sonne zu tanken. Ich sagte, dass ich Gällivare seltsam fände. Eine zombiehafte Stimmung hinge hier in der Stadt. Das löste viel Emotionalität in ihr aus. Das stimme ja gar nicht. Heute sei ja nur Sonntag. Der Ort ist sehr lebendig, es gäbe eine bekannte Musikszene und zwei richtig gute Kneipen. Sie sagte, ich müsse meine negative Meinung revidieren.

Ich beschloss, es zu tun.

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Mein Schwiegervater erzählt manchmal diese Anekdote, wie er als junger Mann einmal ein Projekt in Lappland zugewiesen bekommen hatte. Dort traf er einen Bauern, mit dem er sich über die Kälte unterhielt. Der Bauer sagte, er fände den Süden jetzt nicht unbedingt wärmer als hier den Norden. Er sei schon mal im Süden gewesen, in Lulea, da war es aber genau so kalt.

Ich kann das mit dem Süden nachvollziehen. Aus der Sicht von Alta ist Gällivare eine ganz andere Welt.

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Von Gällivare aus fuhren wir weiter in Richtung Süden, wieder an Jokkmokk vorbei, auch am Polarkreisdenkmal und somit fuhren wir zurück in die Nacht. Nach drei Tagen Tageslicht war das ein lustiges Gefühl. Natürlich fuhren wir zuerst den ganzen Tag lang durch Tag, erst am Abend in Östersund würde die Sonne um 23:16 untergehen. Aber dennoch. In die Nacht zu fahren fanden wir lustig.

Auf der Rückreise hatte ich wesentlich längere Strecken geplant. Während ich für die Hinfahrt nie die sechs Fahrstunden überschritt, hatte ich bereits eine Vorahnung, dass man auf der Rückreise vielleicht etwas reisemüde ist. Jeden Tag Hunderte Kilometer fahren, jeden Tag eine andere Unterkunft aufsuchen, das ermüdet. Deswegen sollten wir heute eigentlich 7 Stunden bis nach Strömsund fahren. Da wir aber gut unterwegs waren, schlug ich meinem Vater vor, einfach eine Stunde weiter zu fahren. Das Hotel konnten wir kostenlos stornieren und wir würden uns wieder eine Blockhütte auf einem Campingplatz mieten. Das sei mit Hund ja wesentlich entspannter. Er fand das gut und so fuhren wir eine Stunde weiter bis nach Östersund. Dort mieteten wir uns in eine nicht ganz so nette Blockhütte ein, aber es war für die Essenssituation wesentlich einfacher und die Hündin konnte die ganze Zeit dabei sein.

Ich glaube, sie hat den Reiseblues. Gestern Abend im Hotel war sie sehr liebesbedürftig, suchte ständig Körperkontakt zu mir und wich kaum von meiner Seite. Hunde sind Gewohnheitstiere, sie lieben Routine. Hier weiss sie seit Tagen nie, was passiert.

Mein Vater ist aber weiterhin gut gelaunt. Und das macht mir viel Freude. Er möchte sogar eine Autoreise mit mir durch Afrika unternehmen. Ich liess das einfach mal stehen.

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Gestern und heute sahen wir viele Rentiere. Sie liefen einfach auf der Strasse. Es ist langweilig, sie zu filmen oder fotografieren. In echt sind das aber wirklich sehr schöne Tiere. Und sie haben ein pelziges Geweih.

[Sa/So 21./22.6.2024 – Nordkapreise Tag 6&7, Nordkap, Birken, Finnmark, Gällivare]

Wir gingen den Morgen gemütlich an, weil und die Hütte so gut gefiel und wir es ja auch nicht eilig hatten. Zum Nordkap würde es noch mal 3,5 Stunden dauern, das ist nicht so weit. Danach würden wir einen Umweg nach Hammerfest nehmen und dort nächtigen.

Ab Alta fährt man auf ein Hochplateau hinauf, geradewegs auf den Norden zu und auf die Ostseite der Halbinsel, die zur Nordkapinsel führt. Der Nordkap ist nämlich gar kein Festland mehr, sondern eine Insel, die etwa 6 Kilometer von Festland entfernt liegt und mit einem langen Tunnel verbunden ist. Nordkap ist technisch gesehen auch nicht der nördlichste Punkt Europas. Zum einen wäre das geografisch ohnehin Spitzbergen oder Franz-Josef-Land in der Hocharktis, aber es gibt unweit westlich vom Nordkap eine Landzunge, die sich einige Hundert Kilometer nördlicher befindet. Der sogenannte Nordkap ist mit seiner 300m hohen Klippe aber ein wesentlich dramatischerer Endpunkt des Kontinents. Vermutlich ist er deswegen der Ort geworden, der er heute ist.

Es wurde ein richtig schöner Tag. Die Sonne strahlte und der Himmel war blau. Und es war angenehm mild. Je nördlicher wir kamen, desto niedriger wurden die Bäume. Es wuchsen fast nur noch Birken. In Alta waren sie noch so gross, wie man Birken kennt. Eine Stunde nördlich von Alta waren die Birken nur noch 30cm hohe Sträucher. Es waren wirklich Birken. Ich stieg aus dem Auto aus und fotografierte sie.

Wir sahen Rentiere. Einmal eine ganze Herde, die von einem Hirten auf einem Quadmobil und einem Bordercollie von einer Weide über die Strasse auf eine andere Weidefläche getrieben wurde. Wir erstarrten natürlich bei so viel Touristenglück und filmten die Szenerie. Aber auf Videos sieht das nie wirklich gut aus. Später sahen wir kleinere Herden und manchmal begegneten wir einzelnen Tieren auf der Strasse. Wie man auf den Fotos unter sehen kann.

Ab etwa einer Stunde vor dem Kap wurde die Landschaft arktisch. Sehr rau. Sogar Birken konnte ich nicht mehr erkennen. Nur Steine, Felsen und Geröll. Dazwischen Tundraboden, bräunlichgrünes Gras, Moose, Flechten. Die Landschaft sah aus wie auf dem Mars. Manchmal ging die Landschaft in Strände über, vor allem in den zahlreichen Buchten. In einer Bucht sahen wir zwei Männer bis zur Brust im Wasser. Sie schienen Spass zu haben. Das ist aber nicht mein Ding. Mein Vater staunte. Hin und wieder kam eine kleine Siedlung aus Holzhäusern. Manche am Wasser, manche auch einfach neben der Strasse. Es gab kleine Hütten, die verschiedene Sachen verkauften. Kaffee und Sämische Parafernalia. Ein Häuschen verkaufte Silber. Warum auch immer.

Um auf die Insel zu kommen, fuhren wir durch den 7km langen Tunnel. Ich wusste davon und hatte auch darüber gelesen. Dass er per Fahrrad durchfahrbar sei und dass er gegen Schneeverwehungen im Winter Tore hat, die sich automatisch schliessen und öffnen. Ich wusste auch, dass er am tiefsten Punkt 216 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Nur hatte ich den Tunnel in dem Moment vergessen. Es kam einfach ein Tunnel, wie so oft in Norwegen, aber dieser Tunnel ging ziemlich steil abwärts. Immer abwärts und weiter abwärts, fast 4 Kilometer lang. Ein komisches Gefühl kam in mir auf, mich in den Bauch der Erde hinabzubegeben. Als wäre das nicht genug, ging mitten im Tunnel auch die Warnlampe des Benzintanks mit einem lauten „Pling“ an.

Zwanzig Kilometer vor dem Kap kam noch die letzte Stadt, Honningsvag, mit 2500 Einwohnern. Die Stadt liegt in einer schönen, geschützten Bucht. Die bunten Holzhäuser stapeln sich an den Hängen des Hafens übereinander. In der Bucht selber lagen drei grosse Kreuzfahrtschiffe. Wir erschraken zuerst und dachten, es stünden riesige Bürohochhäuser im Hafen. Dann erkannten wir, dass es Kreuzfahrtschiffe waren. Wir blieben aber trotzdem erschrocken. Gerade deswegen. Eines der Schiffe hatte zwölf Stockwerke, es hiess Princess of irgendwas. Es lag da wie ein Ufo.

Offenbar werden von dort aus Touristen per Bus ans Nordkap gekarrt. Wir fuhren weiter. Wir hatten in der letzten Stunde kaum noch miteinander gesprochen. Die Landschaft liess uns ziemlich verstummen. Anfangs sagten wir noch schau hier und schau da. Irgendwann zeigten wir nur noch hier und da. Aber am Ende waren wir verstummt und fuhren ziemlich schweigend und verzaubert über den Mond.

Zwei Kilometer vor dem Ziel zog dann ein dichter Nebel auf. Ein richtig dichter Nebel. Man konnte zuerst etwa 20 Meter weit sehen, am Ende vielleicht noch 10. Ich musste vom Gaspedal. Dennoch fanden wir den Parkplatz und mithilfe von Googlemaps fanden wir sogar den Fussweg zum Kap. Ohne Maps hätten wir schlichtweg nicht wissen können, wo hin. Weil wir kaum Menschen erkennen konnten und erst recht nicht das Gebäude und die Monumente am Kap.

Dort war es sehr windig. Und sehr viele Menschen. Es wehte ein eisiger Wind bei zwei Plusgraden und wir beide trugen kurze Hosen. In Alta war es noch 18 Grad warm. Die Barentssee konnte man nicht sehen, auch nicht, wie hoch man sich befand. Man sah nur, wie das Land endete und dann dicker Nebel. Das fanden wir nicht unlustig. Kommt man einen so weiten Weg, um sich Nebel anzusehen. Dass Europa in einem düsteren, dichten Nebel endet, hat auch etwas Metaphorisches, mindestens aber etwas Dramatisches. Oder schönes. Oder schön Dramatisches. Wir fanden es nicht schlimm. Weil wir die einzigen mit kurzen Hosen waren, wurde uns auch bald etwas ungemütlich. Wir hätten in die Nordkaphalle gehen können, jedoch wurde ich gewarnt, dass das eine Touristenfalle sei. Bei 300 Kronen, also 30 Euro Eintritt, empfanden wir auch wenig Verlangen, das Gebäude zu betreten. Also kehrten wir zum Auto zurück und traten den Weg nach Hammerfest an.

Ich muss zugeben, dass ich ab dem Moment sehr müde wurde. Müde von der Reise. Das Ziel war erreicht, jetzt nennt sich das Ziel wieder Berlin. Und wenn ich an die lange Reise zurück denke, an die 3200km Asphalt, dann würde ich gerne einschlafen.

Wir wollten in Hammerfest schlafen. Das war ein zweistündiger Umweg. Ich wollte immer schon einmal in Hammerfest sein. Nie so dringend wie Longyearbyen oder am Polarkreis, aber der Name Hammerfest wirkte schon als Kind in mir und ich verbrachte als Kind sehr viel Zeit über Landkarten gebeugt. Hammerfest. Alles stimmt an diesem Namen.

Aber plötzlich hatte ich keine Lust mehr auf diesen Umweg. Ich wollte den Heimweg antreten. Ich schlug meinem Vater vor, zurück nach Alta zu fahren und uns für eine weitere Nacht in diese Blockhütte einzumieten, die wir so gerne mochten. Wir könnten uns wieder einen Lachs braten und Tiefkühlgemüse dazu kochen. Mein Vater sagt immer „Wie du willst“ und nach einigem Hin und Her fragte ich telefonisch nach der Blockhütte Nummer 14, ob diese noch frei sei. Die Frau am Telefon sagte, es sei die einzige, die noch frei sei und so buchte ich sie, während ich das Hotel in Hammerfest kostenfrei stornieren konnte. Es war perfekt.

Dann verfuhren wir uns noch. Ich hatte auf mein Handy geschaut und wir hatten eine Kreuzung verpasst, damit kamen wir eine Stunde später als geplant in Alta an, aber das war nicht so schlimm. Schlimmer war, dass die Hütte Nummer 14 nicht die Hütte war, die ich gemeint hatte. Die schöne Hütte war Hütte 20. Ich war mit den Nummern durcheinandergekommen. Hütte 14 war zwar wesentlich günstiger, aber sie hatte auch nur ein Schlafzimmer sowie kein Badezimmer und auch kein Wasser. Das deprimierte mich ungemein, da ich mich wirklich auf diese gemütliche Hütte gefreut hatte.

Mit vielen Umständen gelang es uns dennoch, mit Pfannen und Geschirr aus der Campingküche ein Mahl zuzubereiten. Danach musste alles abgewaschen werden und da wir sehr weit von der Campingküche entfernt standen, lief ich an dem Abend sicherlich 100 Kilometer zu Fuss hin und her.

Aber der Himmel war blau und eine sehr angenehme Sonne schien über uns und Alta. Als mein Vater ins Bett ging, holte ich den Tagebucheintrag von vorgestern nach. Eigentlich wollte ich über beide Tage schreiben, ich sass lange am Tisch und schrieb. Sie Sonne schien zu mir herein. Irgendwann war es ein Uhr und ich musste mich zwingen aufzuhören. Ich hatte aber nur über einen Tag schreiben können. Es ist schon ärgerlich, in Verzug zu geraten, ich nehme diesen Reisebericht schliesslich ernst. Aber ich finde es auch ein bisschen lustig.

Bevor ich mich ins Bett legte, lief ich über den schlafenden Campingplatz zu den Badezimmern, um mir die Zähne zu putzen. Am Himmel leuchtete die Sonne, wie in Berlin um sieben Uhr abends, aber alles war ausgestorben, alles schlief. Ich stellte mich an den Eingang der Badeeinrichtung und putze mir die Zähne, während ich mir das Gesicht von der Mitternachtssonne wärmen liess. Seltsam unwirklich.

Tag 6

Da wir in Alta übernachtet hatten, sparten wir uns zwei Stunden Fahrt in Richtung Süden bis nach Gällivare. Aus einer 7,5 Stunden Fahrt wurden damit 5,5 das ist wesentlich erträglicher. Vor allem ist es bis Gällivare exakt die gleiche Strecke. Wir werden sogar bis nach Jokkmokk fahren, allerdings trennen sich dort die Wege der Hinfahrt von der Rückfahrt, da wir die Rückfahrt über das Inland fahren werden.

Das Wetter auf der Fahrt nach Gällivare war sehr sonnig. Sogar auf dem Hochplateau trugen wir nur ein Tshirt. Allerdings gerieten wir wieder in einen unfassbaren Mückenschwarm. Es ist erstaunlich, wie viele Mücken es dort gibt. Aber auch nur dort. Diese 100 Kilometer um der finnisch-norwegischen Grenze herum.

Und Birkenbirkenbirken. Überall Birken. Oben auf den Pässen klein und unten in den Tälern gross. Je näher wir aber Gällivare kamen, desto mehr Fichten mischten sich dazwischen, später auch auch Kiefern.

Gällivare also. Meine Frau warnte mich. Sie ist vor etwa zwanzig Jahren in Gällivare gewesen, das sei eine furchtbar langweilige und hässliche Stadt. Es ist eine Stadt mit mehreren Erzbergwerken und ausserdem ist es ein Eisenbahnknotenpunkt. Das Essensangebot besteht aus drei heruntergekommenen Pizzerie, einem Sushiladen und einem Chinarestaurang. Keines davon hat eine Aussenterrasse, wodurch wir auch nicht mit der Hündin irgendwo sitzen konnten. Also holten wir uns zwei Pizze und verspeisten diese in unserem Hotel.

Erwähnen möchte ich auch noch die Dorfjugend, die auch hier in tiefergelegten Autos und wummernden Bässen und offenen Fenstern mit 20 km/h durch den Ort cruist. Denen sind wir auf unserem kurzen Spaziergang mehrmals begegnet. Aber hey. Das würde ich hier vielleicht auch tun.

Allerdings liegt Gällivare in einer sehr schönen Landschaft, die offenbar bei Wanderurlaubern beliebt ist. Muss man ja auch erwähnen. Und es hat einen sehr schönen Bahnhof in Blockhausstil. Den sieht man auch auf den Fotos.

[Fr, 21.6.2024 Nordkapreise Tag 5, Finnland, Norwegen, Alta]

Die Wände im Wandererhaus waren sehr dünn. Im Zimmer neben mir schlief ein dänisches Paar, das vorher noch Dänemark gegen England geschaut hatte und danach die halbe Nacht schnarchte. Sie schnarchten beide. Ich hörte zwei unterschiedliche Frequenzen.

Auf meiner morgendlichen Gassirunde durch Jokkmokk lief ich an einer Art Festwiese an der Hauptstrasse entlang. Am Ende der Wiese stand eine überdachte Bühne, wie ich sie auch aus Südtiroler Dörfern kenne. Es fiel mir auf, dass die Bühne mit weissen Kerzen vollgestellt war. An beiden Enden der Bühne hingen Trikots, die nach Eishockey aussahen. Weil das meine Neugier weckte, näherte ich mich der Bühne. Da waren sicherlich 150 weisse Kerzen platziert. Die dicken, selbst stehenden Kerzen. Wie Grabkerzen, nur in weiss. Dahinter standen zahlreiche Bilder eines jungen, lustig wirkenden Mannes. Vor den Kerzen waren Grusskarten aufgestellt, manche lagen. Es waren Dutzende. Auch lagen Schlüsselanhänger und Feuerzeuge. Und dazwischen immer die Fotos von dem jungen, lustig wirkenden Mann. Manchmal alleine, manchmal umarmt mit Kumpels. Manchmal in seinem Trikot und einem Hockeystick in der Hand.

Wir starteten vergleichsweise früh. Heute hatten wir eine längere Reise vor uns. 6,5 Stunden bis ins norwegische Alta, der letzten Etappe vor dem Nordkap. Weil die Reise heute länger dauern würde, planten wir mehrere Pausen ein, damit die Reise erträglicher wird. Die Pausen gelangen uns nicht besonders gut. Als wir losfuhren, begann es nämlich zu regnen.
Ich sitze sehr gerne bei Regen im Auto. Aber Pausen sind da weniger unterhaltsam.

Mit der Fahrt ins norwegische Alta machten wir uns auf den Weg in den Polartag. Alta liegt auf Breitengrad 69, das ist 300 km nördlich vom Polarkreis. Während der Polartag in Jokkmokk am Polarkreis genau 48 Stunden dauert, streckt sich der Polartag in Alta vom 16. Mai bis zum 26. Juli. Am 100km nördlicher gelegenen Nordkap vom 13. Mai bis 31. Juli.

Wir fuhren durch Gegenden, die ich schon oft auf Streetview gefahren bin. Ich erkannte einige Kreuzungen wieder und sogar einen Laden unweit der Grenze zu Finnland. Der Laden heisst „Arctic Livs Eurofood“ und ist eine Mischung aus Selbstbedienungstankstelle, Kiosk und Pizzeria. Die ganze Gegend wirkt auf Streetview eher flach. In Wirklichkeit ist die Landschaft bewegter, hügeliger.

Ab Jokkmokk wird die Besiedlung immer dünner, ab Gällivare sieht man sehr selten Häuser. Ab und zu eine Siedlung, die aber nicht sehr belebt wirkt. Und überall Birken. Birken, Birken, Birken. Je nördlicher man kommt, desto kleiner werden die Birken. Als wir nach Finnland in Norwegen einfahren, überqueren wir ein langes Hochplateau, das sich knapp unter der Baumgrenze bewegt. Wir haben einen Höhenmesser dabei und schätzen, dass die Baumgrenze sich hier bei etwa 400 bis 500m befindet. In den Alpen verläuft die Baumgrenze bei 2000m.
Und hier die Birken. Knapp unter der Baumgrenze sind die Birken nur noch 30cm hoch. Aber es sind immer noch Birken. Selten haben mich Birken so sehr begeistert wie in diesen Tagen. Ich wusste bisher nichts über sie, ausser, dass sie schön und freundlich sind.

Unterwegs ruft uns wieder Onkel Konrad an. Wir unterhalten uns mit ihm über die Freisprechanlage. Er will alles von unserer Reise wissen. Er ist ein bisschen langsam, sagt aber oft „aha“ und „oh“ und „ja“. Ich kenne Onkel Konrad nicht so gut. Er war immer ein alter Mann und der Vater von einem Kusin, den ich nicht sonderlich mochte. Ich finde Konrads träge Neugierde aber total niedlich.
Wir versprechen ihm, ihn morgen vom Nordkap aus anzurufen. Er hat leider kein Smartphone also kann er sich auch nicht die Whatsapp Status (das Socialmedia für die Generation meines Vater) ansehen. Mein Vater verspricht ihm alle Fotos auf dem Tablet zu zeigen.

Einmal machen wir eine Pause in Finnland. Es regnete gerade nicht. Ich wollte ein paar Schritte mit meiner Hündin machen. Aber wir befanden uns offenbar in einer Mückenkolonie. Ich habe noch nie so viele und grosse Mücken auf einem Haufen gesehen. Ich stieg sofort wieder ein. Kurz danach passierten wir die Grenze zu Norwegen. Es wehte ein kalter Wind und es regnete in Strömen. Über eine Webseite hatte ich mich über die Bedingungen eingelesen, wenn man mit Hund in dieses Land einreisen will. Man muss die rote Spur nehmen und den Hund beim Zoll anmelden. Wir warteten eine Weile auf der roten Spur, aber es kam niemand. Da ich mich mit Formalien beim Zoll nicht auskenne, stieg ich aus und lief durch den Regen zum Kontrollhäuschen. Drinnen sassen zwei kleine Frauen. Ich fragte sie, was ich tun müsse, ich hätte einen Hund dabei und hier sei der Hundepass. Ich hätte alle notwendigen Impfungen eintragen, es ginge ja vor allem um die Tollwut, ja? Sie schien verwundert, dass ich sie bei der Arbeit störte, war aber trotzdem freundlich. Sie blätterte täuschend echt überzeugend in dem Pass und kontrollierte die Stempel. Dann sagte sie everything ok und erschlug eine Mücke auf ihrem Schreibtisch.
Ich fand das lustig und fragte, ob die immer hier seien, das hätte ich so nie erlebt. Sie sagte: only one month.
Damit konnte ich irgendwie nicht viel mit anfangen.

Drei Stunden später erreichten wir den ersten Fjord und damit Alta. Dort hatte ich uns zur Abwechslung eine kleine Blockhütte auf einem Campingplatz gemietet. Das war eine sehr gelungene Unterkunft. Wir verliebten uns sofort in die Hütte. Weil es eine kleine Küche gab, fuhren wir in den Supermarkt und kauften uns Lachsfilet und Tiefkühlgemüse.
Auch statteten wir der Nordlichtkatedrale einen Besuch ab. Die soll sehr schön sein, aber wir waren müde und hungrig und der Besuch kostete 80 Kronen, also 8 Euro, dafür hatten wir in dem Moment keine Muße.

In Alta war das Wetter geringfügig besser. Zwar blieb der Himmel bewölkt, wir konnten also nichts von der Mitternachtssonne sehen, aber es blieb hell, wie am Tag, die ganze Nacht lang.