[Do, 20.6.2024 – Nordkapreise Tag 4, Lulea, Gammelstad, Storfors, Polarkreis, Sonnenwende]

Birken, Birken, Birken. Ich hatte gelesen, dass Umeå auch die Stadt der Birken genannt wird. Alle Alleen in Umeå sind von Birken gesäumt, überall stehen vereinzelte Birken herum. Später am Tag werde ich feststellen, dass Birken hier wirklich überall stehen, später auch in Luleå und auch, jetzt wo ich in der Unterkunft am Polarkreis sitze, schaue ich aus dem Fenster und sehe: Birken.

Es sind sehr schöne Bäume. Ich komme aus den Alpen und war immer im Glauben, dass Laubbäume ausschliesslich in wärmeren Gegenden wachsen, wo es hingegen kalt wird, wie bei uns auf den Bergen, wüchsen nur Nadelbäume. Jetzt weiss ich aber, dass Birken bis hinauf ans Ende Europas gedeihen.

Gegen zehn Uhr starteten wir in Umeå und fuhren drei Stunden durch bis nach Luleå. Auch Luleå ist eine dieser Städte, mit der ich viel Zeit auf Streetview verbrachte. Luleå ist die andere nordische Universitätsstadt. Wir befinden uns hier allerdings schon auf Breitengrad 65, das ist nur 100km südlich des Polarkreises. Es weht ein sehr feuchter Wind und der macht die 16 Grad zu einem kühlen Erlebnis.

Luleå wurde im 15. Jahrhundert eigentlich 7 Kilometer nordwestlich gegründet. Dort wurde eine steinerne Kirche hingestellt und drumherum errichtete man Häuser. Vierzig Jahre nach dieser Gründung entschied man jedoch, die Stadt an ihrer heutigen Stelle weiterzubauen. Die Kirche liess man allerdings dort, wo sie bereits stand. Das finde ich übrigens eine elegante Lösung, um eine Kirche loszuwerden. Der Grund war leider schlichtweg pragmatisch. In Skandinavien stehen Kirchen meist etwas abseits der Siedlungen, nicht direkt am Markt, wie in den sonstigen europäischen Städten und Dörfern.

Als Luleå wegzog, wurde das Dorf um die Kirche herum fortan als Kirchenstadt genutzt. Kirchenstädte gab es früher viele in diesen dünn besiedelten Gegenden Nordschwedens. Die meisten wurden aber abgerissen. Wenige sind so gut erhalten geblieben, wie die in Luleå.
Kirchenstädte standen Gläubigen zur Verfügung, die aufgrund der dünnen Besiedlung, weit anreisen mussten, um an einen Gottesdienst teilzunehmen. Diese kleinen, bescheidenen Häuschen entwickelten sich deswegen zu Ferienhäusern ganzer Familien, die oft für mehrere Tage anreisten, um dort zu beten und zu feiern. Es wurde allerdings untersagt, in den Häusern durchgehend zu wohnen. Wenn man will, kann man sagen, dass es sich um Schrebergärten handelt. Aber halt mit Beten und Kirche. Die Häuser werden auch heute noch genau dafür benutzt. Weniger beten, dafür mehr feiern. Gut, das war jetzt etwas albern, aber man weiss, was ich meine.

Der Besuch dieser Gammelstad von Luleå begeisterte mich ungemein. Die Häuser sind winzig, manche haben eine Grundfläche von vielleicht 10 Quadratmeter, einige sind etwas grösser. Die Gassen sehen aus wie schwedische Bauernslums. Vor den Häusern stehen aber oft Blumen und wenn man durch die Fenster hineinschaut, sieht man kleine Küchen und Wohnzimmer.

Im Visitors Center unterhielt ich mich länger mit der Angestellten. Sie kam aus Malmö und wohnt nun schon seit 8 Jahren in Luleå. Sie erklärte mir, dass es zu Midsommar immer regnerisch ist. In ihrem ganzen Leben hat sie noch nie ein sonniges Midsommar erlebt. Die Woche davor ist immer trocken und warm, die Woche danach auch. Aber nie zu Midsommar. Letzte Woche hatten sie in Luleå bereits 26 Grad. Im Juli misst es sonst über dreissig. Sie sagte, ich solle wiederkommen. Irgendwann stimme sicherlich auch die Temperatur.

Dann begann es zu regnen.

Am Abend wollten wir Jokkmokk erreichen. Das ist ein bekanntes kleines Dorf direkt am Polarkreis. Wir fuhren die Täler hoch in Richtung Nordwesten. Unterwegs machten wir einen überraschend schönen Halt bei den Wasserschnellen von Storfors. Ich hatte vorher darüber gelesen, dass da ein grosser Fluss aus dem nördlichen Lappland über ein weites und langes Felsplateau strömt. Wie beeindruckend diese schäumenden Wassermassen aber wirklich sind, erfasst man erst, wenn man direkt dort am Ufer steht. Ich schoss mehrere Fotos und einige Videos. Sie fingen die Eindrücke aber nicht wahrhaftig ein.

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Diese langen, leeren Strassen, die über diese leichten, hügeligen Hochflächen führen. Man darf zwar nur 80 fahren, aber sie sind dermassen gut gebaut, dass ich sie mit 110 befahre.
Manchmal sieht man aus der weiten Ferne ein Auto kommen. Das fühlt sich an wie Stau.

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Kurz vor Jokkmokk steht dann das Polarkreisdenkmal. Daneben befindet sich ein grosser Parkplatz und ein Restaurant, in dem man sich gegen Bezahlung auch ein Zertifikat abholen kann, das nachweisen soll, dass man hier gewesen ist. Das tun wir natürlich nicht, dafür schiessen wir die obligatorischen Selfies und sind gut gelaunt.

Für gutes Essen muss man wirklich nicht hier her kommen. Es gibt hier eigentlich nur schäbige Pizzerie und Burger. Das Dorf hat 3000 Einwohner und es fahren die immer gleichen vier oder fünf tiefergelegten Autos und einige Pickups durch die Hauptstrasse und hören Beats mit einem kräftigem Bass, den sogar meine Hündin zum Knurren bringen. Allerdings wohnen wir in einer niedlichen Unterkunft. Ein kleines Hostel, das sich „Wandererhaus“ nennt. Man muss darin sogar die Schuhe ausziehen.

Ein grosser Nachteil dieses Landes ist allerdings die Ablehnung von Hunden in Restaurants. Oder Restaurangs, wie man in Schweden sagt. Jedenfalls sind Hunde in Restaurangs grundsätzlich verboten. Das ist an einem normalen Juni nicht weiter problematisch, weil man immer auf der Terrasse vor dem Restaurant mit Hunden sitzen kann, aber bei 12 Grad Celsius und kurzen Hosen dachte ich gerne an die wohligen achtzehn Grad von Umeå zurück.

Und dann Sonnenwende. Dieses Jahr fällt die Sonnenwende auf den heutigen Tag, den 20.6. um 22:50 Uhr. Mein Vater und ich spazierten hinunter ins Dorf, stellten uns auf einen Parkplatz und schossen ein Selfie mit der Sonne, die sich hinter einer dunklen Wolke versteckte. Es ist ein seltsames Gefühl, zur Sonnenwende am Polarkreis zu stehen. Es gibt kaum esoterische Vibes in meiner Persönlichkeit. Aber an dem besagten Tag an jenem Ort zu stehen, wo die Sonne einmal für einen vollen Tag nicht untergeht, lediglich den Horizont streift, nur um danach wieder täglich abzutauchen, zuerst kurz nur, dann immer länger. Das ist magic.

Jetzt werden die Tage wieder kürzer. Und dann kommt Weihnachten.

[Mi, 19.6.2024 – Nordkapreise Tag 3, Gävle, Sundsvall, Höga Kust, Umea]

Mein Vater will sein Bargeld loswerden. Wegen seines Rentnerjobs besitzt er viel Cash, den er natürlich auch ausgeben möchte. Aber Schweden ist kein gutes Pflaster für Bargeld. Zuerst scheiterten wir schlichtweg daran, Euros in Kronen umzutauschen. Verschiedene grosse Banken wiesen uns freundlich ab. Bargeld tauschen, das würden sie nicht mehr tun. Man wusste auch nicht, wo man uns mit unserem Anliegen hinschicken könne. Erst heute Vormittag, konnte ich bei einem Western Union Schalter in Gävle 500 Euro in schwedische Kronen wechseln.
Als wir endlich schwedisches Bargeld besassen, standen wir vor dem nächsten Problem, dass kaum irgendwo Bargeld angenommen wird. In einem Restaurant, an dem wir unterwegs einen Kaffee trinken wollten, stellte sich die Kellnerin mit unserer Bargeldzahlung dermassen überfordert an, dass sie eine Kollegin herbeirufen musste, die sie bei der Bedienung der Kasse unterstützte. Oft bekommt man einen verwunderten, aber freundlichen Kommentar, dass man Bargeld erst vor ein paar Jahren abgeschafft habe. Ich fühlte mich, als würde ich mit Hühner bezahlen wollen.

Mein Vater versteht die Welt nicht mehr. In Italien wickelt man alles in Bargeld ab. Er schüttelt ständig den Kopf.

In Finnland und Norwegen werden wir sicherlich vor dem gleichen Problem stehen, daher beschlossen wir, keine norwegischen Kronen zu tauschen, sondern der Kartenzahlung zu vertrauen.

Heute fuhren wir die Strecke von Gävle nach Umeå, das ist eine fünfeinhalbstündige Autofahrt. Die heutige Fahrt hatte ich etwas kürzer geplant, weil sich unterwegs die Höga Kust befindet, von der ich gelesen hatte, dass das eine sehr schöne Landschaft ist, die es sich lohnt, sich etwas Zeit dafür zu nehmen. Der ganze etwa hundert Kilometer lange Abschnitt ist sehr bergig und ähnlich dramatisch wie die norwegische Küste. Nach dieser grossen, bekannten Spannbrücke bei Veda, verliessen wir die Schnellstrasse und folgten den braunen Schildern mit einer Blume, die einen touristischen Umweg über eine Halbinsel, Fischerdörfern und vielen kleinen Seeen markierte. Der Weg dauerte anderthalb Stunden länger. Es ist jetzt überflüssig zu beschreiben, wie schön diese Route war.

Zuvor waren wir übrigens in Sundsvall. Als ich vor zwanzig Jahren in Madrid lebte, hatte ich einen Kollegen, der hiess Pontus. Pontus war ein grosser haariger Mann, mit freundlichen, blauen Augen. Er trug damals schon einen Bart, als es noch nicht in Mode war. Er kam aus Sundsvall. Er sagte, Sundsvall sei ganz weit oben in Schweden, das sei ganz anders als Spanien. Sundsvall stellte ich mir wie das Ende der Welt vor. Damals hatte ich wenig Ahnung von dieser Gegend hier. Sundsvall befindet sich ziemlich genau in der geografischen Mitte Schwedens. In Wikipedia las ich, dass es die schönste Stadt des Landes sei. Zehn Kilometer vor Sundsvall fanden wir, dass man sich die schönste Stadt Schwedens unmöglich entgehen lassen könne, also beschlossen wir einzukehren. Wir schlenderten etwas planlos durch die Altstadt, tranken einen Kaffee und fanden, dass wir jetzt genug von der schönsten Stadt des Landes gesehen hatten und fuhren weiter.

Ich dachte bisher die Ostseeseite sei sehr flach und eine eher gerade Küstenlinie. Deswegen war ich einigermassen überrascht, wie hügelig und teils bergig es hier ist. Und die Küstenlinie ist eben nicht gerade, sondern fjordartig zerfranst. Mit niedrigen fjordartigen Buchten und riesigen Flüssen, die das Schmelzwasser aus Lappland in die Ostsee abführen.

Das Wetter ist heute sehr stürmisch. Zwar ist es meist sonnig, aber es weht ein starker, kühler Wind. Es ist für die Jahreszeit ungewöhnlich kühl, tagsüber misst es 17 Grad.

Mein Vater kommentiert alles, was er sieht. Er liest jedes Ortsschild laut vor und auch jeden schwedischen Werbespruch, den er am Strassenrand erblickt. Natürlich spricht er es falsch aus, er gibt sich gar nicht die Mühe alle Buchstaben richtig zu erkennen. Er hat einfach irgendwas raus, das klingt wie der Name auf dem Schild. Anfangs half ich ihm und wiederholte die richtige Aussprache der Namen, aber ich hörte schnell damit auf, als ich merkte, dass das jetzt 11 Tage lang so gehen wird. Und er kommentiert ständig die Bäume. Er erwähnte sicherlich hundert Mal, dass die Bäume hier ungewöhnlich niedrig seien. Nein, er sagte das nicht hundert Mal, er sagte das tausend Mal. Anfangs hatte ich meine Zweifel an seiner Aussage, ich entgegnete, dass es vielleicht bloss junge Bäume seien, die vor wenigen Jahren gepflanzt seien. Nach dem siebenundfünfzigsten Mal gab ich ihm aber Recht. Und widerrief diese Meinung seitdem nicht mehr.

Gegen sieben Uhr erreichten wir Umeå. Ich wollte schon seit längerem nach Umeå. Zum einen, weil die Stadt eine sehr lebendige Kulturszene zu haben scheint. Von den etwa 90.000 Einwohnern sind ganze 37.000 Studenten. Ausserdem gibt es hier sehr viele kleine Internetstartups, die um Mitarbeiterinnen werben. Das wollte ich mir schlichtweg einmal ansehen.

Vor zwei Jahren führte ich einmal ein Gespräch mit einem Inder, der sich bei uns auf eine Stelle als Entwickler bewarb. Er hatte Indien bereits verlassen um für ein Unternehmen in Europa zu arbeiten. Das Unternehmen sass in Umeå und der junge Mann wusste natürlich nicht, wo sich diese Stadt genau befand. Europa ist ja nicht so gross. Er erzählte mir, dass er im November von Indien nach Umeå gezogen war. Es ist vermutlich überflüssig, zu sagen, dass er 5 Sonnenstunden pro Tag und die klimatischen Bedingungen nicht besonders lustig fand. Er wirkte sehr verzweifelt, er wollte nur weg.

Andererseits zeigt sich das Städtchen sehr international. Es gibt ungewöhnlich viele mexikanische und indische Restaurants und eine riesige Bar namens Orangeriet, die sich mit Regenbogenflaggen schmückt und von Englisch sprechenden Menschen bevölkert wird. Das ist vermutlich die Auswirkung der Universität.

Ausserdem fand ich heute heraus, dass die brasilianische Starfussballerin Marta hier vier Jahre lang beim Umeå IK Profifussball spielte.

Zum Schluss googelte ich Pontus. Ich kannte noch seinen Nachnamen. Es gibt zahlreiche Fotos von ihm. Er lebt wieder in Sundsvall, jetzt hat er aber keinen Bart mehr. Dafür eine Tochter.
Ich sollte ihm schreiben, dass ich in Sundsvall war.

Bein zeigen in Sundsvall

[Di, 18.6.2024 – Nordkapreise Tag2, nach Gävle]

Heute fuhren wir dann einmal von der schwedischen Westküste hinauf zur Ostküste bis nach Gävle, etwa 100km nördlich von Stockholm. Eine sechseinhalbstündige Autofahrt. Es ist wesentlich weniger ermüdend, wenn man sich beim Fahren abwechseln kann.

Nach zwei Tagen intensivem Kontakt merke ich vor allem, dass wir ganz unterschiedlich empfinden. Wir fühlen komplett anders und richten auch unser Handeln entsprechend aus. Ich kann es noch nicht ganz verschriftlichen, es war heute nur meine vorherrschende Empfindung. Es muss nicht schlecht sein, wir haben beide Tage im Auto fast durchgehend gequatscht, aber wir fühlen eben völlig anders.

Wenn man in Schweden unterwegs ist, sieht man regelmässig braune Schilder mit einem sogenannten Schleifenquadrat. Dieses Schild deutet auf eine Sehenswürdigkeit hin. Während ich das meinem Vater erklärte, sah ich eines dieser Schleifenquadrate am Horizont auftauchen und in dem Moment fiel mir auf, dass ich eine Pause nehmen könnte und so riss ich das Steuer um und folgte dem Strassenschild.

Es handelte sich in diesem Fall um das alte Silberbergwerk bei Sala. Ich hatte noch nie davon gehört. Es ist eine ziemlich grosse Siedlung mit Arbeits- und Verwaltungshäusern samt Stollentürmen. Die Mine war zwischen dem 15. Jahrhundert und 1908 in Betrieb. Eine ziemlich ästhetische Aneinanderreihung von Holzhäusern und Holztürmen. Die ganze Siedlung wurde in ein Freilichtmuseum umgewandelt, man kann auch Führungen durch die Stollen buchen. Es war ein unerwartet schöner Ort für eine Pause. Zuerst liefen wir etwas planlos über das Gelände und schossen Fotos. Danach setzten uns in den Garten des Museumscafés in die Sonne.

Über grossen Teilen des Binnenlands lag eine schwere dunkle Wolke. An den Enden sah man immer die Sonne, aber die Wolke begleitete uns lange. Der Regen stürzte manchmal herab und man musste die Geschwindigkeit drosseln. Manchmal schien dabei die Sonne.

Am späten Nachmittag kamen wir in Gävle an. Mein Hotelzimmer ist für Hundehalterinnen bestimmt. Es stinkt und der Teppichboden ist schmutzig. Das Zimmer ist sehr klein, es hat den Charme einer Abstellkammer. Mein Vater hat hingegen ein schönes, grosses und sauberes Zimmer bekommen. Die Rezeption ist nicht mehr besetzt, ich muss da einfach durch.

Dann gingen wir in die Stadt, wir besuchten die Altstadt, das sind ein dutzend mit kleinen, bunten Holzhäusern bebauten Gassen. Die Hündin freute sich über die vielen neuen Hundegerüche an den Strassenecken. Danach suchten wir uns etwas zu essen und fanden ein Restaurant, in dem wir varmrökt Lax bestellten. Das ist warmgeräucherter Lachs.

Zu Beginn der Reise hatten wir uns vorgenommen, keinen Alkohol zu trinken. Mein Vater nahm sich auch vor, kein Fleisch zu essen. Da ich selber wenig Fleisch esse, wollte ich mir die Fleischvorgabe eher nicht geben, sondern situativ entscheiden. Dass mein Vater allerdings keinen Alkohol mehr trinkt motivierte mich auf eine ungewohnte Weise, es ihm gleich zu tun. So sassen wir da am Tisch und ich wusste nicht so recht, was für ein Getränk ich bestellen sollte und entschliess mich schliesslich für, naja, Wasser.

Weil es erst sieben Uhr abends war, fuhren wir noch einmal die Stadt hinaus zu einem kleinen Strand an der Ostsee. Um die Ankunft an der Küste mit einem Finger im Wasser zu besiegeln. Mein Vater wusste nicht, dass die Ostsee kein Salzgewässer ist. So führten wir beide den Zungentest durch. Ich kann mich erinnern, dass die Ostsee bei Usedom ziemlich salzarm schmeckt, sich aber trotzdem noch wie Meerwasser anfühlte. Ich hatte gelesen, dass die Ostsee immer salzloser wird, je weiter sie sich von Dänemark und der Nordsee entfernt. Hier schmeckte sie wirklich nur noch wie ein leicht gesalzenes Süsswasser. Am Strand den wir besuchten wuchs teilweise auch das Schilf, als wäre es ein brandenburgischer See.

Es wird hier nicht mehr richtig dunkel. Kurz vor Mitternacht gehen zwar die Strassenlanternen an, aber es würde sie nicht brauchen. Leider kann ich kein Foto von den Lichtverhältnissen schiessen. Vor dem Fenster scheinen die Strassenlaternen und ich bin zu müde, um noch auf die Dachterrasse zu steigen. Ich möchte in den nächsten Tagen aber das Licht realitätsgetreu dokumentieren, sofern mir das gelingt.

[Mo, 17.6.2024 – Nordkappreise Tag 1]

Wir fuhren um acht Uhr los, damit wir die Fähre um 11:15 in Rostock erreichen. Das ist eine Fahrt mit fast einer Stunde Puffer. Man weiss nie, was auf der Strecke passiert und wenn man die Fähre verpasst, dann muss man zwei Stunden warten, deshalb plane ich für die Rostockfähre immer genügend extra Zeit ein. Ich warte immer gerne am Fährhafen, das Warten auf der Fähre weckt bei mir Reisegefühle. Die Möwen, die Autos, die Meerluft, das Wasser, über das ich bald in ein anderes Land gebracht werde.

Ich weiss noch nicht ganz, welche Rolle ich meinem Vater in diesem Reisebericht geben werde. Entweder bin ich stockehrlich und reflektiere auch unsere Beziehung bzw unsere nicht existierende Beziehung, aber dann sollte ich ihm besser verschweigen, dass ich das alles im Internet protokolliere. Er kennt dieses Blog nicht. Bzw hat er schon einmal davon gehört, aber ich glaube nicht, dass er weiss, wie man es findet. Er sucht bei Google immer via Spracheingabe und lässt sich die von Google kuratierte Antwort vorlesen. Wenn sein Sprachbefehl keine vorgelesene Antwort liefert, sondern einen Webbrowser öffnet und die Google Ergebnisliste zeigt, dann sieht er die Suche als missglückt an und ändert seinen Sprachbefehl. Finde ich megasüss.

Alternativ könnte ich ihm einfach seine lustige Rolle zuschreiben, und die Reise mit dieser Perspektive auf ihn erzählen. Und ihn vielleicht auch so darstellen, wie er sich gefallen würde. Dann könnte ich Stories auf Insta mit dem Bloglink versehen und er würde es alles nachlesen. Oder sich vermutlich vorlesen lassen.
Aber das wäre etwas zu oberflächlich.

Oder ich mache eine Mischung aus beidem. Ein bisschen lustig und ein bisschen privat. Aber dann zeige ich es ihm lieber nicht. Ach ich weiss nicht. Ich hatte heute viele Gedanken auf der Fahrt. Wir schnitten viele Themen an, aber gingen nie in die Tiefe, was aber auch okay war. Ich muss wirklich nichts aufarbeiten. So waren die Väter früher halt. Ein bisschen abwesend und ein bisschen zu sehr auf ihre Arbeit und ihr Leben fokussiert, mir sind die vergangenen Fehler eher egal, ich möchte eher sehen, ob uns noch etwas verbindet und dass man ein paar gute Dinge gemeinsam erlebt und vielleicht viele gute Erinnerungen übrig behält. Er ist jetzt 75, ich denke nicht, dass wir noch zwanzig Jahre Zeit haben, eine solche Reise zu unternehmen.

Auf der Fähre nahmen wir Selfies im Wind. Ihm gefällt es, mal in eine ganz andere Richtung zu fahren. Unterwegs im Auto will er Tante Zita anrufen. Tante Zita betet nämlich jeden Abend für mich. Tante Zita spinnt ein bisschen und ist einem religiösen Wahn verfallen, aber sie ist lustig. Als wir sie auf der Freisprechanlage haben erzählt mein Vater mit grosser Geste, wo wir uns gerade befinden, in Dänemark und gleich fahren wir auf die nächste Fähre. Es klingt aus seinem Mund, als würden wir die Weltmeere besegeln.

Danach rufen wir seinen Bruder Onkel Konrad an. Es folgt ein ähnlicher Monolog. Onkel Konrad war aber sehr interessiert und stellte Fragen, bei denen man merkte, dass er sich schon einmal damit auseinandergesetzt hat. Er fragte sich nämlich, warum wir nicht die direkt Fähre nach Schweden genommen hätten, er dachte nämlich, das ginge schneller. Es wunderte mich. Ich glaubte bisher immer, Onkel Konrad hätte das Dorf, in dem er wohnt, noch nie verlassen.

Auf der Fahrt will sich mein Vater alles von mir erklären lassen. Wie man das A mit dem Kringel ausspricht, ob das Ö auf Schwedisch so klingt wie das deutsche Ö, warum die Häuser alle Rotweiss sind, und wie das mit der Isolierung läuft undsoweiter. Ich kann fast alles beantworten.

Wir fahren zu unserem Häuschen im Wald. Das Gras ist mittlerweile kniehoch, es müsste demnächst gemäht werden, aber das mache ich erst im Juli, wenn ich wiederkomme.
Unterwegs hatten wir uns Tagliatelle und Tomatensauce gekauft. Da ist mein Vater wieder voll der Italiener. Danach spazieren wir runter zum Fluss, ich zeige ihm alles, er ist sehr neugierig und aufgeschlossen. Dann werfen wir Ball mit der Hündin. Sie hatte heute wirklich nicht viel Bewegung, ich bin gespannt, wie sie die Reise mitmacht.

Mein Vater schaut immer auf die Uhr und prüft, wo sich die Sonne befindet. Dass die Sonne fast im Norden untergeht, findet er fantastisch. Er textet Freunde in Südtirol an und fragt, wie dunkel es dort ist. Dann schickt er Selfies mit Abendsonne im Gesicht. Er erinnert mich an eine kindliche Version von mir selber. OK, das „kindliche“ kann man vielleicht streichen.

[Fr, 14.6.2024 – Wasservögel, Nationalschiessen]

Heute zum Tierarzt gefahren, um die Hündin zu entwurmen, weil sie einen Stempel in ihrem Ausweis benötigt. Der norwegische Zoll verlangt eine aktuelle Entwurmung und eine Tollwut Impfung. Den Nachweis der Impfung hat sie, das ist wie bei uns Menschen, es gibt Impfpässe für Hunde. Aber Entwurmungen sind dort in der Regel nicht vermerkt. Danach noch mal ins Urbankrankenhaus für eine Nachuntersuchung gefahren. Dann mit der Hündin dort am Ufer spaziert. Schwäne und Enten besucht. Das erregte sie sehr, sie lief am Ufer hin und her und wollte nach den Enten schnappen. Die beiden Enteneltern kamen an sie heran und schnatterten wild. Es klang nicht sehr bedrohlich, aber sie verhielten sich herzerwärmend aufopfernd. Zum Glück ist die Hündin wasserscheu. Im Hintergrund schwammen grosse Schwäne, die mit strengem Blick die Szenerie kontrollierten. Dann brachte ich sie weg vom Wasser und wir setzten uns ein paar Meter weiter oben in die Wiese, wo ich sie zur Beruhigung zwang. Sie kühlte schnell ab und so schauten wir eine ganze Weile den Vögeln zu.

Danach plante ich den Rest der Rückroute aus Norwegen. Die letzten drei Stationen hatte ich noch offengelassen, da ich mich nicht für eine Route entscheiden konnte und mittlerweile auch die meisten Unterkünfte schon ausgebucht sind. Aber heute wählte ich einfach eine Route, die am 26.6. in Malmö enden wird. Die Rückfahrt besteht aus mehreren 8- bis 9-stündigen Fahrten. Die Gegend südlich von Östersund wird als sehr langweilig bezeichnet. Ich freue mich sehr darauf.

Am Abend schalteten wir kurz das Nationalschiessen an. Das Eröffnungsspiel Deutschland gegen Schottland. Da wir schon oft nach Schottland gefahren sind und dieses Land lieben, wäre es offensichtlich gewesen, mit Schottland zu sympathisieren. Aber ich kann mich für dieses affige Duellieren der Reisepässe, Staatsgrenzen und Nationalklischees einfach nicht erwärmen. Erst recht nicht, seitdem die Nationalisten überall erstarken. Die Begeisterung meiner Frau erreichte immerhin 20%, aber als Wirtz das 1:0 schoss und überhaupt der 80-Millionenstaat den 5-Millionenstaat förmlich erdrückte, verflog das Interesse wieder, also schalteten wir aus.

Morgen am Abend wird mein Vater kommen. Es gibt noch viel zu erledigen.

[Do, 13.6.2024 – ich fühle gar nichts, Hundedöner, Junisonne]

Morgen beginnt schon die Europameisterschaft. Ich fühle gar nichts. Nichts regt sich in mir. Meine Frau will das Eröffnungsspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Schottland schauen. Meine Frau will ein Fussballspiel schauen. Ich wundere mich sehr.

Zu Mittag ging ich mit einer Fanclubfreundin und unseren Hunden spazieren. Sie hat eine Dackel-Dame. Unsere Tiere sind friedlich, sie ignorieren einander aber nach Kräften. Die Freundin hat eine alkoholkranke Mutter und wurde ihr ganzes Leben praktisch psychisch missbraucht. Darüber berichtet nun das ZDF in einer Dokureihe über Kinder von alkoholkranken Menschen. Seitdem die Eltern das wissen, haben sie den Kontakt zu ihr abgebrochen. Zwar suchten sie auch vorher nur den Kontakt um sie beschimpfen. Jetzt ist der Faden glücklicherweise gerissen. Sie sagt, dass es ihr seitdem besser geht.

Meine Hündin verschwand auf dem Spaziergang hinter einem Busch und war nicht mehr abrufbar. Das ist kein gutes Zeichen. Als ich sie fand, versuchte sie in Eiltempo einen riesigen Döner zu verschlingen. Sie war so gierig, dass sie versuchte, das ganze Ding zu verarbeiten. Ich konnte ihr das meiste aus dem Mund nehmen. Man weiss nie, was in solchen weggeworfenen Dönern drin ist. Meine Hand roch auf dem ganzen Spaziergang nach Hühnchendöner.

Den Rest des Tages arbeitete ich an dem Hausbesetzertext. Ich merkte allerdings, dass ich in meinem neuen Bürostuhl nicht lange sitzen kann. Er sorgt bei mir für schwere Beine. Vermutlich hat das mit der Sitzfläche zu tun, er ist an einer Stelle etwas halb-vorne zu hart. Ich weiss jetzt nicht, wie ich das kurzfristig lösen kann, aber ich denke, dass ich bald einen anderen Bürostuhl anschaffen werde. Das ist sehr ärgerlich, der Stuhl ist nicht mehr ganz neu, ich kann ihn also nicht mehr zurückgeben, er fühlte sich nie ausnahmslos richtig an, aber jetzt, an langen Sitztagen, fällt mir der Makel deutlich auf.

Am Abend sass ich mit meiner Frau lange auf dem Balkon. Wir öffneten uns ein paar Biere und schauten der sanften Junisonne zu, wie sie sich auf die Sonnenwende zubewegt. In acht Tagen ist es so weit. Zur Sonnenwende werde ich etwas südlich von Jokkmokk stehen und der Sonne zusehen, wie sie um Mitternacht den Horizont streift.

[Mi, 12.6.2024 – Kabel, Kleidung, Klimazonen]

Weiterhin Militärpodcasts gehört. Und ich war wieder shoppen. Diesmal vor allem Elektronik. Am Ende des Shopping-Tages ging ich mit einem Kabel nach Hause. So ist das.

Ich kaufte auch eine Übergangsjacke. Übergangswetter kenne ich so gut wie gar nicht. Wenn der Winter vorbei ist, dann beginnt für mich sofort T-Shirt- und Kurzehosenzeit. Aber für Wetter wie gestern oder heute bin ich nicht wirklich gerüstet. Ich fror etwas, aber es war nicht kühl genug, lange Hosen und Winterjacken hervorzuholen.

In diesem Zusammenhang wurde mir in Bezug auf die bevorstehende Reise etwas bange. Wir werden am Montag in einem 27 Grad warmen Berlin starten und ziemlich alle Klimazonen bis zum Spätwinter durchleben. Am Nordkap misst es aktuell 4 Grad. Nächste Woche sollen es 9 Grad sein. Auch wird Regen prognostiziert. Meine Familie ist sehr wetterleidig. Wenn es regnet, ist der Urlaub praktisch versaut. Manchmal denke ich, dass sie gar nicht mit mir verwandt sind. Meinen Vater habe ich dahingehend vorbereitet. Er braucht eine Mütze, zwei unterschiedliche Jacken und auch lange Hosen, falls er die nicht schon trägt. Und eine Badehose, falls wir in die kühle Ostsee springen wollen. Wir werden schliesslich zwei Tage lang immer die Küste hinaufbrummen, bevor es landeinwärts geht. Auch empfahl ich ihm, einen Schlafsack mitzunehmen. Zwar habe ich uns fast immer kleine Hotelzimmer gebucht, aber in zwei Fällen sind es hüttenartige Appartements für Selbstversorger, es ist besser, auf solche Situationen vorbereitet zu sein.

Deswegen die Übergangsjacke. Ohne Futter, aber zwei Lagen Textiltechnologie. Sie sieht sogar modisch aus und sie hält mir Wind und Regen vom Leib. Das ist sicherlich kein schlecht ausgegebenes Geld.

Neuerdings fällt mir auf, dass sich mein Kleidungsstil etwas verschoben hat. Vor zehn Jahren trug ich noch fast ausschliesslich schwarze Hemden, schwarze Jacketts, schwarze Lederschuhe und schwarze Krawatten. In den letzten Jahren trage ich nur noch enge T-Shirts, enge, sportliche Strickjacken, enge Jogpants und Sneakers. Immerhin auch diese in schwarz. Bis auf die meist weissen Turnschuhe. Oder wenn ich eine dunkelblaue Herthajacke trage. Komische Entwicklung ist das. Ich weiss gar nicht, wie das geschah. Es ist aber okay. Je dicker ich werde, desto besser finde ich mich in engen Sporttextilien wieder. Ich laufe bald wie ein bulliger Clanchef durch den Kiez.

[Di, 11.6.2024 – Sicherheitspolitk, Streunen in Konsumtempeln, Nike]

Wie bereits gestern erwähnt, werden nirgendwo Matratzenspenden angenommen. Kann ich verstehen, kann ich aber auch nicht verstehen. Also fuhr ich zur BSR nach Lichtenberg. Was ich mit der dritten, kleineren Matratze anstelle, weiss ich noch nicht. Vermutlich werde ich auch diese entsorgen und für Gäste eine dünnere, rollbare Matratze kaufen, die sich besser verstauen lässt.

Thinking.

Tagsüber war ich shoppen. Bei Galeria Kaufhof und bei Decathlon. Mit einem Podcast auf den Ohren streunte ich ziemlich planlos durch alle Etagen und liess mich von den schönen Konsumwaren betören. Der Podcast handelte vom Militär, er heisst „Sicherheitshalber“. Ich wusste bisher gar nicht, dass ich mich für Sicherheitspolitik interessiere. Auf den Podcast kam ich wegen einer WRINT-Sendung in der Holgi mit Ulrike Franke vom European Council on Foreign Relations sprach, die unfassbar interessante Einblicke in die gegenwärtige Sicherheitslage gab. Sie ist auch Mitglied des Sicherheitshalber-Podcasts, wo es nur um dieses einschlägige Thema geht. Ich kann kaum noch aufhören, denen zu lauschen.

Nebenher suchte ich ganz lose nach einer dunklen Nike Jacke und nach den weissen Nike Air Force 1 Sneakern. In einem kleinen Sneakerladen fand ich die Schuhe und kaufte sie mir. Die weissen Nike Airs, die ich letzten Sommer in Amsterdam spontan kaufte, als ich in ein Schuhproblem geriet, sind mittlerweile ziemlich abgerockt. Zwar behandle ich sie gut, ich gehe niemals damit auf die Hundewiese, aber ich trage sie sonst wirklich immer und es gab auch mehrere unglückliche Momente, in denen sie überstrapaziert wurden. Ich glaube, solche Turnschuhe sind nur für Innenräume konzipiert. Deswegen kaufte ich mir heute ein neues, schneeweisses Paar für die anstehenden Bewerbungsgespräche. Die bisherigen werde ich verwenden, bis sie schwarz sind.

Interessant fand ich auch, dass es weder bei Galeria Kaufhof noch bei Decathlon am Alex Produkte von Nike gab. Lediglich Adidas, Puma und andere Marken. Fussballbekleidung führten sie daher nur von den Bayern, Dortmund und auch dem Schwurblerverein aus Köpenick. Von Hertha, die von Nike ausgestattet wird, gab es lediglich Schals und Anstecker. Also nur Produkte, die nicht von Nike kamen. Auch in der EM2024 Abteilung im Erdgeschoss wurden ausschliesslich Nationalmannschaften ausgestellt, die von Adidas und Puma ausgestattet werden. Ich witterte patriotische Gründe. Ich dachte an einen enttäuschten Einkaufschef der Warenhauskette, der den zukünftigen Wechsel der Nationalmannschaft vom deutsch-chinesischen Adidas zum amerikanisch-chinesischen Nike als patriotischen Verrat abtat und damit Nike komplett aus dem Sortiment entfernte.

Ich fragte in meinem Fanclubchat nach, ob sich das jemand erklären könne. Jemand vermutete, dass das lediglich Verhandlungsstrategie ist. Es würden vielleicht neue Verträge ausgehandelt. Das sei beispielsweise im Lebensmittel Einzelhandel durchaus üblich. Er verwies mich an den Streit zwischen Edeka und Nestlé, der überall in den Medien auftauchte. Dort nahm man auch Nestlé Produkte aus dem Sortiment, nachdem man sich nicht einig wurde.

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

[Mo, 10.6.2024 – Wahlen, Volt, Matratzen]

Das Ergebnis der Europawahl war dann wenigstens nicht überraschend. Aber Macrons Auflösung des französischen Parlaments zog mich einigermassen runter. Damit ist nun der Weg für Marine Le Pen freigeräumt. Andererseits sind die Rechten in Skandinavien erfreulicherweise wieder auf dem Rückmarsch.

Abends hatte ich den Kennenlern-Call mit der Volt-Partei. Der Aufnahmeprozess für Neumitglieder verläuft in mehreren Stufen. Heute waren wir in einer Runde mit zehn Leuten. Alle erzählen sie ihre kurze politische Geschichte. Meine geht so: linksradikaler Background, später eher mit grün sympathisiert, aber nie restlos überzeugt gewesen. Da ich nicht wählte, musste ich mich nie wirklich irgendwo im Parteienspektrum zuordnen. Und dann lobende Worte über Volt über die progressiven und pragmatischen Visionen.

Die anderen im Call kommen aus dem Rest der Republik. Es sind es alles ehemalige Grün- oder SPD-Wählerinnen. Das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte gehofft, dass sich auch Abtrünnige aus anderen Parteien bei Volt wiederfinden, gerade wenn es um Wirtschafts- Finanz- oder Verteidigungsthemen geht, ist die rot-grüne Blase ja eher immer ein Kindergartenfeld. Man wird sehen, wohin sich die Partei entwickelt, vielleicht wird man sie in 30 Jahren lediglich mit den Anfängen des Bündnis90/Grüne vergleichen. Die historische Einordnung kennt man immer erst später.
Für die ehemaligen SPD-Mitglieder war Olaf Scholz‘ Ernennung als Kanzler der Grund des Austritts. Die Cum-Ex Geschäfte haben viele nicht akzeptiert. Ehemalige Grünwählerinnen hingegen empfinden ihre vormalige Partei als ideologisch, festgefahren und die Ampel tut ihr übriges. Überhaupt Ampel. Bei allen ein Thema.

Der Call dauerte anderthalb Stunden. In den nächsten Tagen wird sich jemand mit mir für ein Einzelgespräch in Verbindung setzen und dann schauen wir weiter. Dieser Einsatz der Leute. Das mag ich. Es ist sicherlich einfach, wenn eine Partei gerade im Wachstum ist und alle noch sehr euphorisch sind. Es gibt dieses Licht.

Ich werde mich künftig also parteipolitisch beschäftigen. Politische Themen kommen in meinen Tagebucheinträgen kaum vor. Ich wurde schon mehrmals gefragt, warum das so ist. Die Tagespolitik spielt schliesslich eine nicht unwesentliche Rolle in meinem Leben. Die Frage kann ich aber nie gut beantworten. Zum einen geht es hier vornehmlich um die Bewältigung des Alltags. Und über politische Themen zu schreiben liegt mir nicht. Das tat ich früher oft, aber ich komme mir beim Lesen meiner politischen Schriften immer etwas fremd vor. Vor allem sind Entscheidungen im politischen Tagesbetrieb immer sehr volatil, einen Tag später darüber zu schreiben ist oft zu spät, die Dinge sind schon verflossen. In meinem täglichen Leben versuche ich vor allem ein besserer Mensch zu sein. Ja wirklich. Richtige Dinge tun, vorangehen und richtige Dinge tun. Auch eine Gelassenheit zutage bringen. Menschen mögen.

Das gelingt mir zum Glück nicht immer.

Was ist sonst noch passiert. Ich fuhr mit der Matratze zum Recyclinghof. Spannend. Bleiben noch zwei Matratzen zum Entsorgen übrig. Die eine ist morgen dran, die andere übermorgen. Wobei ich die Letzte als Gästematratze einsetzen möchte. Sie ist zwar nur 70cm breit, aber einwandfrei, ich nutzte sie auch bisher als Gästematratze und hatte mit dem alten Bett einen geeigneten Ort, sie aufzubewahren. Mit dem neuen Bett habe ich keinen Platz mehr dafür. Ich brauche kurzfristig eine geniale Stauidee dafür. Sonst kommt sie weg.

Und während ich das schreibe, merke ich, dass ich zusehen sollte, die Matratzen zu spenden. Auch die andere ist noch halbwegs intakt. Sie hat nur leichte Flecken, aber sie ist nicht durchgelegen. Wenn ich oben schon schreibe, dass ich ein guter Mensch sein will, dann kann ich mich schon etwas mehr anstrengen. Auch dafür ist das Tagebuch gut. Mich zu ertappen.

Edit: Matratzen werden nirgendwo angenommen. Ich kanns ein bisschen verstehen. Andererseits: In Hotelbetten schlafen wir ja auch.