Birken, Birken, Birken. Ich hatte gelesen, dass Umeå auch die Stadt der Birken genannt wird. Alle Alleen in Umeå sind von Birken gesäumt, überall stehen vereinzelte Birken herum. Später am Tag werde ich feststellen, dass Birken hier wirklich überall stehen, später auch in Luleå und auch, jetzt wo ich in der Unterkunft am Polarkreis sitze, schaue ich aus dem Fenster und sehe: Birken.
Es sind sehr schöne Bäume. Ich komme aus den Alpen und war immer im Glauben, dass Laubbäume ausschliesslich in wärmeren Gegenden wachsen, wo es hingegen kalt wird, wie bei uns auf den Bergen, wüchsen nur Nadelbäume. Jetzt weiss ich aber, dass Birken bis hinauf ans Ende Europas gedeihen.
Gegen zehn Uhr starteten wir in Umeå und fuhren drei Stunden durch bis nach Luleå. Auch Luleå ist eine dieser Städte, mit der ich viel Zeit auf Streetview verbrachte. Luleå ist die andere nordische Universitätsstadt. Wir befinden uns hier allerdings schon auf Breitengrad 65, das ist nur 100km südlich des Polarkreises. Es weht ein sehr feuchter Wind und der macht die 16 Grad zu einem kühlen Erlebnis.
Luleå wurde im 15. Jahrhundert eigentlich 7 Kilometer nordwestlich gegründet. Dort wurde eine steinerne Kirche hingestellt und drumherum errichtete man Häuser. Vierzig Jahre nach dieser Gründung entschied man jedoch, die Stadt an ihrer heutigen Stelle weiterzubauen. Die Kirche liess man allerdings dort, wo sie bereits stand. Das finde ich übrigens eine elegante Lösung, um eine Kirche loszuwerden. Der Grund war leider schlichtweg pragmatisch. In Skandinavien stehen Kirchen meist etwas abseits der Siedlungen, nicht direkt am Markt, wie in den sonstigen europäischen Städten und Dörfern.
Als Luleå wegzog, wurde das Dorf um die Kirche herum fortan als Kirchenstadt genutzt. Kirchenstädte gab es früher viele in diesen dünn besiedelten Gegenden Nordschwedens. Die meisten wurden aber abgerissen. Wenige sind so gut erhalten geblieben, wie die in Luleå.
Kirchenstädte standen Gläubigen zur Verfügung, die aufgrund der dünnen Besiedlung, weit anreisen mussten, um an einen Gottesdienst teilzunehmen. Diese kleinen, bescheidenen Häuschen entwickelten sich deswegen zu Ferienhäusern ganzer Familien, die oft für mehrere Tage anreisten, um dort zu beten und zu feiern. Es wurde allerdings untersagt, in den Häusern durchgehend zu wohnen. Wenn man will, kann man sagen, dass es sich um Schrebergärten handelt. Aber halt mit Beten und Kirche. Die Häuser werden auch heute noch genau dafür benutzt. Weniger beten, dafür mehr feiern. Gut, das war jetzt etwas albern, aber man weiss, was ich meine.
Der Besuch dieser Gammelstad von Luleå begeisterte mich ungemein. Die Häuser sind winzig, manche haben eine Grundfläche von vielleicht 10 Quadratmeter, einige sind etwas grösser. Die Gassen sehen aus wie schwedische Bauernslums. Vor den Häusern stehen aber oft Blumen und wenn man durch die Fenster hineinschaut, sieht man kleine Küchen und Wohnzimmer.
Im Visitors Center unterhielt ich mich länger mit der Angestellten. Sie kam aus Malmö und wohnt nun schon seit 8 Jahren in Luleå. Sie erklärte mir, dass es zu Midsommar immer regnerisch ist. In ihrem ganzen Leben hat sie noch nie ein sonniges Midsommar erlebt. Die Woche davor ist immer trocken und warm, die Woche danach auch. Aber nie zu Midsommar. Letzte Woche hatten sie in Luleå bereits 26 Grad. Im Juli misst es sonst über dreissig. Sie sagte, ich solle wiederkommen. Irgendwann stimme sicherlich auch die Temperatur.
Dann begann es zu regnen.
Am Abend wollten wir Jokkmokk erreichen. Das ist ein bekanntes kleines Dorf direkt am Polarkreis. Wir fuhren die Täler hoch in Richtung Nordwesten. Unterwegs machten wir einen überraschend schönen Halt bei den Wasserschnellen von Storfors. Ich hatte vorher darüber gelesen, dass da ein grosser Fluss aus dem nördlichen Lappland über ein weites und langes Felsplateau strömt. Wie beeindruckend diese schäumenden Wassermassen aber wirklich sind, erfasst man erst, wenn man direkt dort am Ufer steht. Ich schoss mehrere Fotos und einige Videos. Sie fingen die Eindrücke aber nicht wahrhaftig ein.
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Diese langen, leeren Strassen, die über diese leichten, hügeligen Hochflächen führen. Man darf zwar nur 80 fahren, aber sie sind dermassen gut gebaut, dass ich sie mit 110 befahre.
Manchmal sieht man aus der weiten Ferne ein Auto kommen. Das fühlt sich an wie Stau.
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Kurz vor Jokkmokk steht dann das Polarkreisdenkmal. Daneben befindet sich ein grosser Parkplatz und ein Restaurant, in dem man sich gegen Bezahlung auch ein Zertifikat abholen kann, das nachweisen soll, dass man hier gewesen ist. Das tun wir natürlich nicht, dafür schiessen wir die obligatorischen Selfies und sind gut gelaunt.
Für gutes Essen muss man wirklich nicht hier her kommen. Es gibt hier eigentlich nur schäbige Pizzerie und Burger. Das Dorf hat 3000 Einwohner und es fahren die immer gleichen vier oder fünf tiefergelegten Autos und einige Pickups durch die Hauptstrasse und hören Beats mit einem kräftigem Bass, den sogar meine Hündin zum Knurren bringen. Allerdings wohnen wir in einer niedlichen Unterkunft. Ein kleines Hostel, das sich „Wandererhaus“ nennt. Man muss darin sogar die Schuhe ausziehen.
Ein grosser Nachteil dieses Landes ist allerdings die Ablehnung von Hunden in Restaurants. Oder Restaurangs, wie man in Schweden sagt. Jedenfalls sind Hunde in Restaurangs grundsätzlich verboten. Das ist an einem normalen Juni nicht weiter problematisch, weil man immer auf der Terrasse vor dem Restaurant mit Hunden sitzen kann, aber bei 12 Grad Celsius und kurzen Hosen dachte ich gerne an die wohligen achtzehn Grad von Umeå zurück.
Und dann Sonnenwende. Dieses Jahr fällt die Sonnenwende auf den heutigen Tag, den 20.6. um 22:50 Uhr. Mein Vater und ich spazierten hinunter ins Dorf, stellten uns auf einen Parkplatz und schossen ein Selfie mit der Sonne, die sich hinter einer dunklen Wolke versteckte. Es ist ein seltsames Gefühl, zur Sonnenwende am Polarkreis zu stehen. Es gibt kaum esoterische Vibes in meiner Persönlichkeit. Aber an dem besagten Tag an jenem Ort zu stehen, wo die Sonne einmal für einen vollen Tag nicht untergeht, lediglich den Horizont streift, nur um danach wieder täglich abzutauchen, zuerst kurz nur, dann immer länger. Das ist magic.
Jetzt werden die Tage wieder kürzer. Und dann kommt Weihnachten.